Dasein

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York

Mitglied
Dasein

Es gibt Tage, an denen sie nicht rausgeht, an denen sie niemanden sieht. Noch nicht einmal sich selbst, da sie ihre Haare nicht macht, der Blick in den Spiegel entbehrlich ist.

Sie sitzt dann lange auf dem Stuhl und legt die Hände in den Schoß. Hände, die einst viel erlebten und nun weiß und wächsern von blauen Adern durchwebt sind.

Es riecht alt. Auf den Kunstblumen sammelt sich Staub, auf dem Schrank und auf dem Bilderrahmen des Druckes von Rafaels Katharina. Das lichte Blumenmuster der Tapete hat sich eingetrübt, ist abgenutzt entlang der Fußleisten und um die beiden Lichtschalter.

Das Zimmer ist hoch und wächst immer höher über sie hinaus, über ihre kleine Gestalt, die sich im Schrumpfen beugt.

Beim Erheben schaut sie aus dem Fenster. Erst weiter entfernt, dann nähert sie sich der Scheibe und erstaunt. Das Glas beschlägt durch ihren warmen Atem. Sie ist noch da.
 
Zuletzt bearbeitet:
Gelungenes Porträt einer vereinsamten alten Frau und ihrer Häuslichkeit. Was mir dabei auffällt, York, ohne dass ich es kritisiere: Die Dingwelt um die Person ist detailreicher als der Mensch selbst dargestellt. Was ich nicht beurteilen kann, aber gern wüsste: Wie typisch ist für Alte in solcher Lage diese ruhige Passivität? Von meiner Oma weiß ich, dass sie als allein lebende Witwe über achtzig ziemlich manisch war. (Aber dieser Aspekt berührt nicht die Qualität des Textes.)

Bedenklich finde ich hier nur die Formulierung "Beim Erheben". Müsste es nicht "Sicherheben" oder vielleicht besser "Aufstehen" heißen?

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
Eine gelungene Skizze!

Meine Anmerkungen:
Doch, "Aufstehen" fände ich auch besser. Noch besser wäre vielleicht ein Verb an dieser Stelle - "Sie steht auf und ... ".
Wo ich aber auch ein Verbesserungspotential sehe, das sind die Hände, die "einst viel erlebten". Die Hände hier stellvertretend für den ganzen Menschen genommen - gut, das Bild ist klar, aber Hände erleben nicht, sie schaffen, sie arbeiten, in ihnen haben sich die Spuren eines harten oder langen Lebens eingegraben , etc.

Im übrigen war ich erstaunt, als ich Rafaels Katharina gesichtet hatte - hatte nach der Lektüre des Textes das Bild einer alten Frau erwartet, dabei ist dies eine ganz propere junge, wenn auch heilige. Aber vielleicht ist gerade dieser Gegensatz eine schöne Extra-Pointe des Textes?

MfG, Binsenbrecher
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Hallo York,

das ist für mich mal ein ganz hervorragender Kurzprosatext. Jedes Wort sitzt, keines ist überflüssig und jedes Wort ist ein Mosaikstein in diesem Gesamtbild. 1A für mich, wenn (ja wenn ;)) man mich fragen würde.

Es gibt Tage, an denen sie nicht raus geht, an denen sie niemanden sieht. Noch nicht einmal sich selbst, da sie ihre Haare nicht macht, der Blick in den Spiegel entbehrlich ist.
Dieser Anfang ist doch schon eine Story für sich. Zumindest für den Lyriker in mir.
Und dann wird es immer intensiver. Die Hände, die Umgebung mit dem interessanten Hinweis auf diesen Druck, die Flecken um den Lichtschalter und dann diese subjektiven Eindrücke zu den Dimensionen.
Alles stimmig. Großartig.

Was bleibt? Arnos Kritik ist in meinen Augen berechtigt. Ich habe mit dieser Wortwahl "Beim Erheben" ebenfalls meine Probleme. Irgendwie passt genau diese Stelle nicht zum Gesamtbild. Ich vermute Unachtsamkeit des Autors an dieser Stelle. ;)

Beim Erheben schaut sie aus dem Fenster.

Ein besonders guter Text allemal für meinen Geschmack.

LG
Cellist
 

Vitelli

Mitglied
Hallo York,

finde ich gelungen. Ein schöner Beitrag zum (immer aktuellen) Thema Vergänglichkeit. Und ein Mensch kommt auch vor. Wenn du diesen jetzt noch mit einer Biografie und Gefühlen ausstatten würdest ... :) Ernsthaft: Rausgeht (erste Zeile) bitte zusammenschreiben.

LG,
Vitelli
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 21900

Gast
Das Bild der alten Frau habe ich als Leser sofort. Da muss nichts mehr beschrieben werden. Und "beim Erheben" ist für mein Empfinden die authentische Wortwahl. Die alte Frau "steht nicht vom Stuhl auf" – es ist ein mühsames Erheben (Sicherheben klingt nach Deutschlehrergenauigkeit). In Rafaels Katharina sieht sie sich selbst als junges Mädchen. Alles in allem – ich stimme Celist zu: Ein hervorragender Kurzprosatext. Und ich kritisiere Arno Abendschön: Nur, weil man mit dem "Erheben" nicht klarkommt, muss man doch nicht gleich einen Punkt in der Bewertung abziehen. Der Text hätte auch sechs Punkte verdient, da kann man dann in Gedanken einen wegstreichen.
KK
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

Vitelli

Mitglied
Was bleibt? Arnos Kritik ist in meinen Augen berechtigt. Ich habe mit dieser Wortwahl "Beim Erheben" ebenfalls meine Probleme. Irgendwie passt genau diese Stelle nicht zum Gesamtbild. Ich vermute Unachtsamkeit des Autors an dieser Stelle. ;)
Das finde ich auch. Und: "Das Zimmer ist hoch und wächst immer höher über sie hinaus, über ihre kleine Gestalt, die sich im Schrumpfen beugt" finde ich ein wenig Holzhammer-mäßig - sorry, York. Ich hätte den Satz nach dem Komma beendet. (Nach dem Komma ist nur noch doppelt gemoppelt.) Aber das ist vielleicht mehr persönliche Ansicht als Meckerei. Vielleicht aber auch nicht.
 

Vitelli

Mitglied
Die alte Frau "steht nicht vom Stuhl auf" – es ist ein mühsames Erheben (Sicherheben klingt nach Deutschlehrergenauigkeit).
Das hat nichts mit Korinthenkackerei oder Deutschlehrergenauigkeit zu tun - es liest sich einfach nicht flüssig/schlüssig. Nicht falsch, aber vllt. findet York eine bessere Lösung.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21900

Gast
Entschuldige Arno,
ich habe dir unrecht getan: Du hast ja gar keinen Punkt abgezogen. Du hast fünf gegeben. Ein blöder Vergucker meinerseits.
KK
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Das finde ich auch. Und: "Das Zimmer ist hoch und wächst immer höher über sie hinaus, über ihre kleine Gestalt, die sich im Schrumpfen beugt" finde ich ein wenig Holzhammer-mäßig - sorry, York. Ich hätte den Satz nach dem Komma beendet. (Nach dem Komma ist nur noch doppelt gemoppelt.) Aber das ist vielleicht mehr persönliche Ansicht als Meckerei. Vielleicht aber auch nicht.

Ja, diese Kürzung würde dem Text tatsächlich gut tun. Das hatte ich noch gar nicht so im Blick.

Aber insgesamt möchte ich nach all diesen Diskussionen noch einmal hervorheben:

Dein Text, York. ist wirklich besonders (gut!) Und die Stellen, die hier nun moniert werden, sind zum großen Teil Geschmacksache.

Fünf Punkte dafür, mit oder ohne Eingriffe!

So mein abschließendes Wort. ;)
 

Ji Rina

Mitglied
Ein Blick durch die Kamera in die Wohnung erhascht einen Moment des "Daseins" dieser Frau. Allein der Titel ist schon so gut gewählt. Mehr gibt es in diesem Stück nicht. Aber diese Szene ist so gut, so hautnah beschrieben, dass sie Eindruck hinterlässt.
Mir hingegen anderer Kommentatoren, hat dieser Satz sehr gut gefallen:

""Das Zimmer ist hoch und wächst immer höher über sie hinaus, über ihre kleine Gestalt, die sich im Schrumpfen beugt.""

weil er sich noch einmal direkt auf das Zimmer bezieht. Da hatte ich konkrete Bilder im Kopf.
Nur im letzten Satz, würde ich das "erheben" austauschen und auch das "erst weiter entfernt" (für mich klang ed störend) weglassen.
Wunderbarer letzter Satz.
Das ist für mich Kurzprosa :)
Liebe Grüße, Ji
 
G

Gelöschtes Mitglied 13736

Gast
Ja, keine verschwurbelten Satzkonstruktionen, kein Gefasel. Eine klare, einfache aber eindringliche Sprache.
Klasse gemacht!
LG
O.
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo York,

Auf den Kunstblumen sammelt sich Staub, auf dem Schrank und auf dem Bilderrahmen des Druckes von Rafaels Katharina.
Mich wundert, dass noch niemand auf das dreimalige "auf" eingegangen ist.
Das ist hier aber vollkommen in Ordnung, es verstärkt das Bild des Zimmers.

Beim "erheben" schwanke ich noch.

Aber insgesamt eine sehr gelungene Kurzprosa!

Liebe Grüße
Manfred
 
Interessant, wie sich hier die verschiedenen Meinungen hinsichtlich eines möglichen Verbesserungspotentials (Pleonasmus bewusst hingeschrieben) kreuzen. Inzwischen bin ich mit dem "Erheben" vollständig versöhnt. Und hervorheben möchte ich auch, dass ich die Sätze "Das Zimmer ist hoch und wächst immer höher über sie hinaus, über ihre kleine Gestalt, die sich im Schrumpfen beugt." für perfekt halte. Hier kommt eine Steigerung, eine enorme Dynamik ins Bild.
Nur die "Hände, die einst viel erlebten" - sind die für sonst niemanden bemerkenswert, eventuell verbesserungsfähig? Erlebende Hände?

Noch einmal - das sind für mich nur ganz leise Anmerkung für einen ziemlich perfekten Text.

MfG, Binsenbrecher
 
Inzwischen bin ich mit dem "Erheben" vollständig versöhnt.
Nachdem Arno sich mit den Regeln vertraut gemacht hat, erhebt er auch keine Einwände mehr gegen "Beim Erheben". Er würde nur "Aufstehen" passender zur sonstigen Sprache finden. Wir haben jetzt einen Spagat z. B. zwischen "rausgehen", "Haare machen" einerseits und "Erheben" andererseits.

Freundlichen Gruß
Der Obenerwähnte
 

York

Mitglied
Danke für Eure zahlreichen Rückmeldungen. Es hat mich sehr gereut und ist natürlich ein wunderbarer Start ins neue Jahr!

Bedenklich finde ich hier nur die Formulierung "Beim Erheben". Müsste es nicht "Sicherheben" oder vielleicht besser "Aufstehen" heißen?
Das "Beim Erheben" scheint ja die Meisten etwas irritiert zu haben... Ich werde drüber nachdenken. Bei "Aufstehen" könnte der Eindruck entstehen, es sei am nächsten Tag, und "sich erheben" finde ich rhythmisch nicht so gut.

Die Hände hier stellvertretend für den ganzen Menschen genommen - gut, das Bild ist klar, aber Hände erleben nicht, sie schaffen, sie arbeiten, in ihnen haben sich die Spuren eines harten oder langen Lebens eingegraben , etc.
Ich glaube, dass die Hände hier auch erleben können. Die Frau blickt in ihren Schoss auf die Hände und hat beim Betrachten die Rückbesinnung auf ihr erlebtes Leben. - So in etwa habe ich es gedacht.

Zumindest für den Lyriker in mir.
Das freut mich besonders, da ich mich um eine Sprache zwischen Lyrik und Prosa bemühen möchte - eine poetische Prosa. Deshalb finde ich für mich auch die Kurzprosa sehr spannend. In einem längeren Text könnte es irgendwann manieriert wirken?!

Rausgeht (erste Zeile) bitte zusammenschreiben.
Danke für den Hinweis!

Und "beim Erheben" ist für mein Empfinden die authentische Wortwahl. Die alte Frau "steht nicht vom Stuhl auf" – es ist ein mühsames Erheben.
Ich fand es auch ganz gut. Aber vielleicht geht es besser (geht es nicht immer besser? ;)) Danke für Deine Betrachtung!

Aber insgesamt möchte ich nach all diesen Diskussionen noch einmal hervorheben:
Dein Text, York. ist wirklich besonders (gut!) Und die Stellen, die hier nun moniert werden, sind zum großen Teil Geschmacksache.
Vielen Dank!

Mir hingegen anderer Kommentatoren, hat dieser Satz sehr gut gefallen:
"Das Zimmer ist hoch und wächst immer höher über sie hinaus, über ihre kleine Gestalt, die sich im Schrumpfen beugt."
weil er sich noch einmal direkt auf das Zimmer bezieht. Da hatte ich konkrete Bilder im Kopf.
Ja, ich glaube auch, dass diese Verdoppelung gut ist.

Auch das, was Manfred schreibt, ist eine Sache, die für mich wichtig ist, die Rhythmus bringt, dabei die Sätze aber auch verkürzt:

Mich wundert, dass noch niemand auf das dreimalige "auf" eingegangen ist.
Das ist hier aber vollkommen in Ordnung, es verstärkt das Bild des Zimmers.
Und Binsenbrecher schreibt es auch in Bezug auf einen anderen Satz:

Hier kommt eine Steigerung, eine enorme Dynamik ins Bild.
Das ist das, was ich durch Texte erreichen möchte und ich freue mich, wenn es deutlich wird.

Ja, keine verschwurbelten Satzkonstruktionen, kein Gefasel. Eine klare, einfache aber eindringliche Sprache.
Klasse gemacht!
Danke Oscarchen und Euch allen!
Es ist doch ein Ansporn für mich, diesem Urteil künftig gerecht zu werden.

Grüße an alle für ein wunderbares 2021 -
York
 



 
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