Datenschutz - Auge um Auge, Byte um Byte

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Neziri

Mitglied
Datenschutz

Alex aktivierte seinen Account, schloß sein craniales Datenmodul mit den nötigen Leitungen an das Netz an und startete die Einstiegsprozedur. Das System überprüfte und akzeptierte ihn, ein Operator führte noch einen letzten Sicherheitscheck durch, und nach einigen für ihn endlos langen Sekunden wurde sein Verstand in den Cyberspace katapultiert. Alex betrat den virtuellen Raum jeden Tag. Zu-erst war es nur ein Hobby gewesen, jedoch hatte er immer öfter das Verlangen, sich vom Alltag und der lästigen Realität zu befreien. Anfangs hatte er wie jeder Normalsterbliche noch einen Helm und einen Datenhandschuh benutzt, aber nachdem sich seine Freundin von ihm getrennt hatte, weil er angeblich mehr Zeit im Space – wie die meisten Menschen die Virtual Reality nannten – als mit ihr verbrachte, hatte er sich den Verbindungschip in den Kopf setzen lassen. Es waren die ersten einer Versuchsreihe gewesen, und der Chip machte ihn zu etwas besonderem. Er konnte sich im Space nun viel freier und vor allem schneller bewegen. Er war jetzt nicht mehr an irgendwelche körperlichen Grenzen gebunden, die normalerweise den Datentransfer verzögerten. Klar, manchmal hatte er leichte Kopfschmerzen und etwas Nasenbluten, aber das war ein geringer Preis dafür, daß es im Space keine Grenzen mehr gab, die Alex nicht durchbrechen oder zumindest überwinden konnte. Und bald merkte er, daß es auch kein Sicherheitssystem mehr gab, das ihm Einhalt gebieten konnte. Eine unglaubliche Menge an Informationen wurde für ihn zugänglich, und er war durchaus bereit, daraus Kapital zu schlagen. Er wurde zu einem Raider, der Daten gezielt stahl und weiterverkaufte. Und bis jetzt hatte es noch niemand geschafft, sein Signal zurückzuverfolgen. Nicht einmal die Guardians.
Diese Guardians waren offensichtlich auch Implantaten, denn sie waren unglaublich schnell. Der erste, dem Alex begegnete, hätte ihn fast überrumpelt. Nach einer wilden Verfolgungsjagd durch den Space hatte er es schließlich geschafft, sich in einem Datenstrom, der zu einem Satelliten in geostationärer Umlaufbahn gesendet wurde, zu verstecken, und sich dann über Umwege wieder zurück in seinen Körper zu begeben.
Der Trick bei der ganzen Sache war, sich an die richtigen Signale anzuhängen und sozusagen per Anhalter an den gewünschten Zielort zu kommen. Begab man sich nämlich aus eigenem Impuls irgend wohin, so konnte der Weg zum Ausgangspunkt zurückverfolgt werden. Eigentlich war es nur wichtig, diesen Ausgangspunkt geheimzuhalten. Sobald man sich an irgend ein Signal angehängt hatte, und an einem neutralen Punkt war, konnte man sich mit unglaublicher Geschwindigkeit im Space bewegen. Die Erfinder des Internets hätten sich so etwas wahrscheinlich nie träumen lassen.
Inzwischen hatte Alex schon ein paar Taktiken ausgearbeitet, um die Guardians abzuhängen. Sie funk-tionierten normalerweise recht gut. Doch in letzter Zeit waren Gerüchte umgegangen, daß sich ein neuer Guardian gefunden hätte, der die Raider in ihre Schranken verwies. Mehrere waren in den letzten Wochen durch ungeklärte Stromstöße ums Leben gekommen, die sie immer partout in dem Moment erwischten, in dem sie die Kabel aus dem cranialen Datenmodul ziehen wollten. Die Raider munkelten, daß der neue Guardian diese Systemversagen verursache. Er sollte unbesiegbar sein. Aber diesen Ruf beanspruchte Alex für sich, und wenn möglich würde er ihn noch heute verteidigen. Der Server, den dieser neue Guardian verteidigte, war der Rechner der T.L.A. Electronics, die unter anderem auch die neuesten Tools für den Space in Vertrieb hatten. Alex hatte damit gerechnet, daß diese Firma seine schwerste Nuß werden würde, immerhin war sie im Space fast genau so zu Hause wie er. Alex hakte sich bei dem nächsten Signal ein, das seinen Ausgangspunkt passierte, und fand sich in einem Server auf Neuseeland wieder. Von dort aus begab er sich über einen Satteliten nach Washington D.C., und erst von dort nach L.A., um ganz sicher zu gehen. In L.A. spuckte ihn das Signal einer Bankfiliale aus Washington direkt in die Datenbank für Transaktionen nach Europa. Für Alex wäre es nun natürlich ein leichtes gewesen, sich ein Konto in der Schweiz zuzulegen und für alle Ewigkeit den faulen Mann zu spielen, aber das war nicht sein Stil. Das war zu einfach. Er wühlte sich aus dem Server der Bank hinaus und begab sich sofort zum Signal des T.L.A. Servers, wo ihn eine ganz gewaltige Firewall empfing. Der Space stellte das ganze als eine große Kugel aus Flammen dar, um die einige Informationskristalle kreisten, die T.L.A. der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte. Der einzige Weg in diesen Flammenball lief entweder über einen solchen Informationskristall, oder über eine Verbindung, die jemand aus dem inneren der Kugel heraus schuf. Da Alex niemanden bei T.L.A. hatte, und seine Zeit nicht unbegrenzt war, würde er über einen der Kristalle und die dazugehörige Leitung eindringen müssen. Dabei aber mußte ihn der Guardian unweigerlich entdecken, und es würde zum Kampf kom-men. Wenn der Guardian seiner habhaft wurde, würde Alex wahrscheinlich enden wie alle anderen: gegrillt vom eigenen Verbindungschip. Aber eigentlich war er davon überzeugt, daß es nicht so ausgehen würde. Er war schnell, und er bezweifelte, daß je ein Guardian seine Geschwindigkeit im Netz mithalten konnte.
Alex drang in den Feuerball ein, und sofort fühlte er die Präsenz des Guardians. Er raffte so viele Datenfragmente an sich, wie es ihm eine Nanosekunde erlaubte, und wollte fliehen, da überraschte ihn eine Botschaft des Guardians: ‚Bist du so schnell wie du glaubst zu sein, oder machen dich die Grenzen deines Verstandes klein?’
Alex hastete zu einem anderen Ausgang des Servers, doch auch dort empfing ihn ein fremder Gedanke: ,Welche Seite des Spiegels ist die richtige? Und magst du sie erkennen, kannst du sie mit wahr oder falsch benennen?’
Alex machte kehrt, und steuerte geradewegs und so schnell er konnte auf einen dritten Kanal durch die Firewall zu. Diesmal empfing ihn keine Botschaft, und er stürmte durch die Öffnung hinaus in den Space. Sofort ließ er sich von einem vorbeigleitenden Signal mitnehmen, um seine Spuren zu verwischen, und landete in einem Server irgendwo in Iowa, hängte mehrere der gestohlenen Datenfragmente an einige von dort ausgehende Signale, um seine Spur komplett aufzuspalten, und ließ sich von einem sauberen Signal mitnehmen zu einem Server in Tokio. Dort wartete er ein paar Minuten, die ihm vorkamen wie halbe Ewigkeiten. Jedoch geschah nichts, außer dem täglichen Datenverkehr hinaus und hinein. Als er ganz sicher war, daß ihm der Guardian nicht gefolgt war, überkam ihn eine große Freude und Zufriedenheit. Er hatte sich als der schnellste Mensch im Space erwiesen. Niemand konnte ihm das Wasser reichen. Er setzte den Impuls, um nach Hause zu gelangen, und sich dort endlich die erbeuteten Fragmente anzusehen. Doch kurz bevor er dort anlangte, prallte sein Verstand gegen eine Mauer. Verwundert sah Alex sich um. Er traute seinen Augen kaum.
Rund um ihn erschienen wieder die Flammen der Firewall, und es sah aus wie im Inneren des T.L.A. Servers, mit dem Unterschied, daß alle Daten daraus verschwunden waren. Nur vor ihm erschien aus den Flammen eine Botschaft.

Hallo, Alex. Es war kein fairer Kampf, das gebe ich zu, den ich habe deinen kleinen Geist überfordert. Ist es denn so schwer zu begreifen, daß sich von allem ein Double erstellen läßt, auch vom Space?

‚Aber der Space ist viel zu groß...’, wollte Alex antworten, jedoch der Guardian unterbrach ihn.

Weißt du, wie groß der Speicher ist, den man benötigt, um ein menschliches Bewußtsein zu sichern und Freiraum für seine Tätigkeit zu schaffen? Weißt du eigentlich, wer und was ich bin?

‚Nun, der Guardian von T.L.A., denke ich...’ Alex war völlig benommen.

Ah, denkst du. Weißt du, ich war einmal so wie du. Ein Mensch, der dank seines Implantats schneller im Netz sich bewegen konnte als alle anderen. T.L.A. bot mir eine Menge Geld, damit ich zum Guardian ihres Systems wurde. Und dann, als ich im System war und meine Aufgabe wahrnahm, zogen sie eines Tages den Stecker aus meinem Verbindungschip und froren meinen Körper ein.

Alex war entsetzt. ‚Ich dachte, man...’

Nein, Alex, man stirbt nicht, wenn der Geist vom Körper getrennt wird. Nur wenn der Geist dann gelöscht wird oder inkohärent wird und sich zersetzt. Dann stirbst du. Und nur der Körper überlebt. Und so entstand ich – der beste Guardian aller Zeiten. Ich habe einige deiner Freunde getötet, Alex.

‚Warum?’

Aus Langeweile. Schrecklich, nicht? Wozu ein Mensch fähig ist, wenn er sich langweilt, davor kann einem richtig grauen. Ich habe so lange schon nicht mehr geschlafen, oder gegessen, oder getrunken. Aber jetzt werde ich endlich wie-der einen Körper haben. Es tut mir leid Alex, du wirst leider bald sterben, aber mach dir keine Sorgen um deinen Körper, er wird bei mir gut aufgehoben sein.

‚Was? Wieso? Ich meine, wieso willst du meinen Körper? Du hättest doch auch einen von den anderen Raidern nehmen können.’
Weißt du Alex, das war wirklich reiner Zufall. Ich meine du hattest einfach Pech. Du bist der erste Raider, der sich hierher wagte, nachdem die Kryogenlagerhalle niedergebrannt ist, in der mein Körper aufbewahrt wurde. Und daß ich dich und das ganze T.L.A. System löschen muß ist einfach notwendig, damit niemand hinter meinen kleinen Plan kommt. Und wenn das alles Erfolg hat, werde ich einen Körper besitzen, und all das Wissen, daß der Space beinhaltet. Ich werde zu Cyber-Christus werden, mein Freund. Wie gesagt, du hattest einfach nur Pech. Der Datenschutz kann einen glatt das Leben kosten, was? Und nun: Adieu.

‚NEIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIN!!!’

Von Alex’ Verstand blieb nach dem Löschvorgang nichts übrig, genausowenig wie von den T.L.A.-Daten im Space. Der neue Alex zog die Leitungen aus seinem cranialen Datenmodul und gestattete sich ein leises Lächeln, als er die Spiegelung seines neuen Gesichts in einem altmodischen Bildschirm, der ihm gegenüber stand, erblickte. Nicht gerade das, was er sich erhofft hatte, dachte er, aber wer hätte in seiner Situation schon wählerisch sein können. Er stand auf, nahm seinen neuen Mantel von dem neuen Kleiderständer in seiner neuen Wohnung, verschloß die Tür hinter sich und ging das erste Mal in die Pizzabude unten am Straßenrand, die der alte Alex fast jeden Tag besucht hatte. Der Pizzamann begrüßte ihn freundlich, und der neue Alex antwortete ihm mit der Stimme, die der Mann so gut kannte. Endlich ging das Leben weiter.
 

Neziri

Mitglied
Tja, es ist zwar schon eine ältere Geschichte, aber ich poste sie trotzdem hier. Möchte mal sehen, wie sie euch gefällt. Und BITTE: Ehrliche Kritiken, egal welcher Art. Alles andere würde mich sehr enttäuschen. Mir sind schlechte Kritiken fast lieber als gute, da sie mir bei meiner Entwicklung helfen.

PS: Klar dürft ihr mich auch loben! Das brauche ich auch!!!
 

cne

Mitglied
Kritik

Hallo Aslan,
die Geschichte hat mir beim Durchlesen gut gefallen. Sehr gut beschreibst Du das virtuelle Leben im Internet. Nur den Schluss fand ich etwas zu sehr vorhersehbar. Der Böse erklärt kurz seinen Plan macht sein Opfer fertig und hat gewonnen. Von Alex hätte ich doch als unbesiegbaren Raider mehr Gegenwehr erwartet und nicht das er einfach abwartet bis er gelöscht wird.
Mit freundlichen Grüßen
Carsten ...
 

Neziri

Mitglied
Hm..danke. Anscheinend war ich zu sehr davon überzeugt, daß Alex zu irritiert war vom Eintreten des schier Unmöglichen. Daß nämlich jemand den Space einfach abbilden könnte. Deswegen das Fehlen der Gegenwehr. Danke noch mal für den Hinweis.
 

zero

Mitglied
VR - argh

Hallo!

Ich klinke mich hier mal kurz ein, weil meine Kritik genau entgegensetzt zu der von cne verläuft. Erzählstil, die Handlung und gerade auch den Schluss (im Gegensatz zu dem, was ich zum Ende von Ein Tod unter Vielen erzählt habe) fand ich gut, weil ich das nicht ganz erwartet hatte und ausserdem die Überlegenheit der Falle, in die Alex getappt war, ganz gut rüberkam.

Mein Hauptkritikpunkt (man kann es auch ‚Rumgeheule’ nennen) richtet sich nicht mal gegen dich speziell (höchstens, weil du es ja besser wissen solltest ;) ), sondern gegen alle die VR-Stories allgemein. Das ist immer so, wie klein-Fritzchen sich das Internet im 21. Jahrhundert vorstellt. Ich weiss, dass ist kleinlich, aber ich wünsche mir schon fast verzweifelt eine realistische Hackergeschichte... Vielleicht schreibst DU ja mal eine, hattest du nicht gesagt, du wolltest wieder mal was posten?

Von dem Standpunkt wäre z.B. die Verwunderung von Alex über die Falle erstaunlich, denn der Guardian hätte ja maximal die nächsten verfügbaren Knoten und Server abbilden brauchen, um ihn in die Falle zu locken, nicht den kompletten Space. Da er ja anscheinend deutlich schneller ist, sollte das kein Problem sein. Tatsächlich benutzen heutige Sicherheitssystem ja schon ähnliche Fallen, d.h. simulierte Teile ihres eigenen bzw. umgebenden Webangebotes, um das verhalten des Hackers in einer definierten Umgebung zu studieren und ihn so verfolgen zu können... egal.

Wie schon gesagt, das war eher ein allgemeiner Rundumschlag. Den einzigen Kritikpunkt, den ich direkt zur Geschichte anbringen könnte, ist, dass mir der Guardian in den Dialogen etwas zu – weitschweifig, normal oder was auch immer – ist. Das er nicht mehr ganz dicht ist, stellst du zwar dar, aber er hätte für meinen Geschmack eine Nummer durchgeknallter sein können. So weit ich solche Typen (na ja, die Real-Life-Variante) kennengelernt habe, sind sie sprachlich nicht sehr sorgfältig, hyperaktiv, immer 31337 und neigen dazu, sich durch Anspielungen zu verständigen, um ihre gegenseitige Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe überprüfen. So sprechen die Beiden wie zwei Nachbarn über den Gartenzaun und nicht wie die paranoiden, geltungssüchtigen Irren, die sie ja anscheinend sind.

Die Frage: Was heisst T.L.A.? Oder hab ich’s übersehen?
 

cne

Mitglied
Ich mal wieder ...

Mit meiner Kritik meinte ich, dass das Ende einfach zu glatt abläuft. Alex könnte z.B. um sein Leben betteln, oder vor Todesangst halb wahnsinnig noch mal virtuell um sich schlagen. Aber einfach nur abwarten passt einfach nicht ...
Ich könnte aber auch folgendes akzeptieren:
Dies ist nur die Einleitung zu einer längeren Geschichte und Alex konnte sich irgendwie der Löschung entziehen. Jetzt versucht er aus dem Internet heraus seien Körper zurückzubekommen ...
bis denn Carsten ...
 

Neziri

Mitglied
Helden und Bösewichte

Ja ja, das könnt ihr wieder mal nicht verwinden, daß der Böse einfach kurzen Prozeß macht, auf der ganzen Linie erfolgreich ist und mit seiner Missetat durchkommt, hm?
Also Klartext: Der Böse hat gewonnen, der Gute ist tot. Ende. Das steht in der Geschichte, und so war es von Anfang an geplant.
Und der Schrei, dieses langgezogene Nein, das Alex noch von sich gibt während er gelöscht wird, sollte Widerstand genug gegen einen solch übermächtigen Gegner gewesen sein.
 



 
Oben Unten