Deine Taschenuhr

Ava L. Ries

Mitglied
[Für meine ewige Wegbelgeiterin]

„Nimm das hier und lauf!“, schreist du mir nach. „Nimm das hier und lauf!“
Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat, aber du wirst es schon wissen.
„Nimm das hier und lauf“, waren deine letzten Worte, bevor wir uns nicht mehr sahen.
„Nimm das hier und lauf!“

Ich laufe ganz schnell und einfach nur geradeaus. Bald schon erreiche ich den Wald, dort könnte ich mich verstecken. Mir geht langsam die Puste aus. So einen Sprint haben meine Lungen schon lange nicht mehr mitgemacht.
Waldboden unter meinen nackten Füßen, Blätter streifen zischend meine kühlen Beine, Wind in meinen Haaren, nun bin ich da. Jetzt muss ich nur noch den alten großen Baum finden, dann kann ich mich darin verstecken und alles wird wieder gut.

„Nimm das hier und lauf“, wieso bekomme ich diese Worte nicht mehr aus meinem Kopf? Was sie wohl bedeuten? Was das hier wohl bedeutet?

Ein kurzer Blick die Blätterkrone hoch und dann ich. Als Kinder haben wir das öfter gemacht, aber heute schramme ich mir die Handflächen auf. Mein Brustkorb hebt und senkt sich immer noch schneller als gewöhnlich; zwischendurch stoße ich schmerzende Seufzer aus, aber ich muss da hoch! Ich muss die dicken Äste erreichen, die mir Sicherheit versprechen, erst dann kann ich mich darin wiegen.
Danach endlich oben angekommen. Einige Haarsträhnen aus dem Gesicht gestrichen, noch ein letzter Blick nach unten. Puh, ich habe in den letzten Minuten doch einige Meter zurückgelegt! Wie lange unsere Trennung nun schon zurückliegt?

„Nimm das hier und lauf!“, hallt deine dumpfe Stimme in meinem Körper nach.
„Nimm das hier und lauf!“, flacht mit jedem ruhigeren Atemzug langsam ab und dann ein leises Ticken. Mein Blick nun Richtung Hände gerichtet und…

Eine Uhr, eine Taschenuhr, um genau zu sein, die du mir vorhin gegeben hast. Hast sie mir gegeben und gesagt, ich solle laufen. Laufen, immer weiter bis zu unserem Baum. Wieso bist du nicht mitgekommen? Wieso sollte ich so schnell verschwinden? Und wieso hast du mir deine goldene Taschenuhr gegeben? Deine geliebte Uhr… Das ist alles, was mir jetzt noch von dir bleibt.
In meinen wirren Gedanken versunken blitzt es plötzlich vor mir auf. Zuerst glaube ich an meine Verfolger, doch dann weiß ich es besser. In der Rinde des Baumes funkeln golden die Initialen, die wir damals eingeritzt haben. Weißt du noch? Wie frisch Verliebte haben wir uns verhalten, uns in der Rinde des damals noch jungen Baumes verewigt. Und jetzt leuchten sie glitzernd vor mir.

„Nimm das hier und lauf!“ und deine Hand war immer schon größer als meine; auch jetzt, als du mir deine Taschenuhr übergibst. Es bleibt uns keine Zeit für eine letzte Umarmung, eine letzte Berührung.
„Nimm das hier und lauf!“, war das Einzige, was du noch über deine Lippen bekommen hast und ich vor Schreck gar nichts mehr. Was wohl meine letzten Worte an dich waren?

Das Funkeln geht auch von deiner Uhr aus. Ich drehe sie prüfend in meiner Hand, betrachte alle Seiten zum ersten Mal genauer. Dann die Rückseite und… unserer Initialen. Eingraviert, festgehalten für die Ewigkeit; schon länger verblasst aber plötzlich ganz hell leuchtend. Meine innere Stimme treibt mich an, richtet die Uhr ganz automatisch auf die eingeritzte Stelle im alten Holz. Das glitzernde Gold verschmilzt mit dem matten Dunkelbraun. Ein Lichtschein strahlt mich an, blendet für einen Moment meine Augen. Schützend kneife ich sie zu, spüre unter mir eine Veränderung. Der harte Ast wird ganz weich, meine bloßen Füße berühren den neuen Boden und tasten ihn vorsichtig ab. Neugierig öffne ich sie wieder, meine Augen, schaue geradeaus und sehe…

„Nimm das hier und lauf!“, deine letzten Worte, die letzte gemeinsame Zeit. Der letzte Zeiger tickt herunter, die Uhr steht plötzlich still. Deine Taschenuhr noch schützend in meiner Hand, fest umklammert.
„Nimm das hier und lauf.“ Deine Uhr vor meinem Herzen, du schon längst drin. Das Gold glitzert noch hallend nach, meine Gefühle auch.
Es war deine Taschenuhr. Deine.

Meine?
 



 
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