der alte Artist

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Lastro

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der alte Artist

Armins Vater Arno hatte sich dafür entschieden. Es ist sein Wunsch bei Sabina zu wohnen, denn er mag sie und sie ihn auch. Dort sitzt er in seinem Sessel, den ganzen Tag lang. Ab und zu er steht auf, um zum Klohäuschen zu schlurfen. Das ist sein Leben. So sitzt er da und ist zufrieden. Er schaut in die Welt, aus seinem Sessel, und hört dem Gezwitscher der Vögel zu, was man gut verstehen kann. Denn die Vöglein künden ihm ein Leben ohne Last. Sie fliegen hin und her, und singen ihm ein Lied. Wenn er noch entsprechend gut hören kann. Manchmal weiß man das nicht so genau.

Manches scheint er nicht zu verstehen, oder sein Gesicht zeigt es jedenfalls nicht. Dann aber wird er plötzlich unwirsch, wenn etwas passiert, ohne dass er gefragt wurde, und es anders läuft, als nach seinem Bilde. Die Vögel scheinen ihn jedenfalls nicht aufzuregen. Das ist auch gut so.

Armins Vater war im Krieg. Er ist weit gegangen, durch das eigene Land, und hinein in andere Länder. Und er ist zurückgekommen. Und dann hat er nichts erzählt. Nichts löste seine Zunge. Sein Hals war verstopft. Und ist es noch immer.

Männer, die in den Krieg ziehen, sind Schwertschlucker. So ähnlich wie der, der Tiefenberg neulich mit dem Zirkus besuchte. Es ist eben eine gefährliche Angelegenheit, das Schwertschlucken. Vor allem, wenn Machtmenschen dir das scharfe Metall hineinschieben. Zuerst bringen sie dich dazu, das Maul aufzumachen, mit der Versicherung, dass ihnen deine Meinung wichtig sei. Dann sagen sie, dass es der Himmel dir danken werde, wenn du bei ihnen mitmachst. Du schaust nach oben. Und in diesem Moment schieben sie dir das Schwert in das ahnungslos geöffnete Maul. Die Spitze berührt den Boden deines Magens, und oben ragt der Griff wie ein Kreuz zwischen deinen Zähnen heraus. Von jetzt an ist jede Bewegung für dich gefährlich, denn der Magen könnte durch die Klinge verletzt werden. Ebenso die Speiseröhre, gar die Kehle und der ganze Mund. Essen kannst du auch nicht mehr. So wirst du in Besitz genommen.

Und schreitest voran in ferne Länder, den Blick in die Wolken, mit offenem Mund, und trägst das Kreuz voran, tastenden Fußes. Es ist ein steifes Gefühl im Innern, aber das Metall hat sich langsam erwärmt und deine Körpertemperatur erreicht, was macht, dass du es bald nicht mehr so spürst. Und nach einiger Zeit denkst du, dies sei dein normaler Zustand, und du lachst sogar wieder. Ja, du kannst, denkst du, vor lauter Lachen dein Maul gar nicht zukriegen und merkst nicht mehr, dass der Schwertgriff es offen hält. So gehst du weiter und lachst vor dich hin, ständig, und deine Kameraden lachen auch alle. Du wanderst zwischen den Toten herum, und zwischen den zerstörten Dörfern, und lachst in den Himmel. Und wenn es kracht, und blitzt und schreit, dann lachst du auch. Du kommst aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Ohne dich selbst zu verletzen. Tödlich zu verletzen. Und wenn dich dann die Kugel trifft und du hintenüber fällst, schlitzt dich das Schwert von innen auf und nagelt dich auf der Erde fest. Und der Schwertgriff schaut aus deinem lachend erstarrten Maul wie ein Grabkreuz. Die Augen blicken nun geradeaus in den Himmel.

Armins Vater hat die Kugel nicht erwischt. Sonst säße er nicht in seinem Sessel. Vermutlich hat er einigen anderen zum Ehrengrabe verholfen, dort am Wolgastrand. Wie auch immer. Regungslos die Steppe schweigt. Und still lauscht der Wind.

Seitdem er zurück ist, besteht er darauf, Schuhwerk von verschieden Paaren zu tragen. So sitzt er dort im Sessel mit den Tretern, die nicht zueinander passen, und sagt nichts. Vielleicht hat er ja noch das Schwert im Schlund. Aber der Mund ist zu. Vielleicht ist der Griff abgebrochen. Der Mund ist jedenfalls zu, und wird so schnell nicht geöffnet. Bewegen tut er sich auch nicht viel. Vielleicht, um eine Verletzung durch die Schwertklinge zu vermeiden. Wer weiß. Jedenfalls braucht er nicht mehr gehen, in dem Zustand. Der Sessel hält ihn.

Als Arno Nimra jung war, wollte er Artist werden. Vielleicht sogar ein Schwertschlucker. Man weiß es nicht mehr genau. Alles wartet nun darauf, dass der alte Artist das Schwert wieder herauszieht, aus seinem Maul, und alle endlich Beifall spenden können und „großartig!“ rufen dürfen. Sie warten sehnsüchtig darauf, und halten schon lange den Atem für den begeisterten Aufschrei zurück. Sie wären regelrecht erlöst, und danach gäbe es ein großes Fest zu Ehren aller Akrobaten auf dieser Welt. Doch irgendetwas ist schief gegangen bei seinem Kunststück. Warum auch immer.

Nun sitzt Armins Vater im Sessel und lauscht den Piepmätzen. Und das ist wichtiger als alles andere. Es sei ihm gegönnt. Eines Tages wird er seinen Mund öffnen. Und dann wird eine ganze Schar dieser Vögelchen kommen, über ihm schweben, mit ihren Schnäbeln in seinen Mund ragen, die alte Klinge mit vereintem Flügelschlagen aus seinem Körper ziehen und damit davonfliegen, im Himmel über der Steppe verschwinden und sie irgendwo in einen Vulkanschlund fallenlassen, wo sie sich zischend mit der glühenden Lava vereinen und in ihre Bestandteile auflösen wird. Und dann wird der alte Artist seinen Mund zuklappen und die Augen auch.



Lastro
 



 
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