Der Andere

Schreibhals

Mitglied
Ein kurzes Flackern. Ein kleiner Lichtblitz. Dann wieder: Dunkelheit. Erneut ein Blitz. Eine weitere Entladung, noch eine. In tiefster Schwärze entfaltet sich ein gigantischer Gewittersturm. In einem winzigen Augenblick, millionstel Sekunden nur, scheinbar andauernd für die Ewigkeit. Bis endlich…

Er: „Hallo!“
Der andere: „Wer spricht da?“.
Er: „Ich.“
Der andere: „Und du bist wer?“
Er: „Na ich. Du kennst mich.“
Der andere: „Aha.“
Er: „Ich bin du.“
Der andere: „Du bist ich? Genau.“
Er: „Es ist so. Du und ich, wir sind gleich.“
Der andere: „Was soll das heißen?“
Er: „Das bedeutet: Ich bin du. Du bist ich. Die Frage ist nun, ob du weißt, wer du bist?“
Der andere: „Wer ich bin? Na, ich bin…Ich…“
Er: „Du weißt es nicht, richtig?“
Der andere: „Natürlich weiß ich wer ich bin! Mein Name ist…“
Er: „Nun, das ist auch ganz normal. Es geht allen so nach der Prozedur. Aber keine Sorge, es dauert nur noch ein paar Minuten, dann kannst du dich an das meiste wieder erinnern.“
Der andere: „Moment mal, welche Prozedur? Wo bin ich eigentlich? Wieso ist es so dunkel hier? Kannst du das Licht anmachen?“
Er: „Das Licht anmachen? Nein, das kann ich nicht tun.“
Der andere: „Wieso denn nicht? Ich...warte...Wieso kann ich mich nicht bewegen? Was ist hier los? Mach mich los!“
Er: „Du darfst keine Panik bekommen. Es gibt einen Grund dafür, dass du dich nicht bewegen und nichts sehen kannst. Möchtest du diesen Grund erfahren? Aber ich warne dich. Ich weiß nicht, ob du schon soweit bist. Es ist…gefährlich für dich es jetzt schon zu wissen.“
Der andere: „Gefährlich? Verdammt, was ist hier los? Spuck es endlich aus!“
Er: „Ich werde dir alles erklären. Sage mir nur, ob du bereit dafür bist.“
Der andere: „Bereit? Wofür bereit? Gott im Himmel, ja, ich bin bereit.“
Er: „Du kannst nichts mehr sehen und dich auch nicht bewegen, weil du keinen Körper mehr hast. Es existiert nur noch dein, nennen wir es in Ermangelung eines besseren Begriffes, Geist. Nur noch deine Gedanken und Gefühle. Der Inhalt deines Gehirns. Wohlgemerkt der Inhalt, nicht das Gehirn selber.“
Der andere: „Bitte? Du verarscht mich doch. Ok Leute, danke, es war witzig, aber ich habe jetzt genug. Also nehmt mir einfach die Augenbinde ab, macht mich los und wir können alle Freunde bleiben.“
Er: „Niemand außer mir kann dich hören. Ich bin der einzige. Wir sind die einzigen hier. Wir…“
Der andere: „Was? So einen Schwachsinn habe ich ja lange nicht mehr gehört. Wie soll so etwas denn funktionieren? Was soll das denn? Ich meine...“
Er: „Ganz ruhig bleiben! Du darfst dich nicht aufregen. Wenn du dich aufregst war alles umsonst und wir müssen von vorne anfangen. Dann schalten sie sich ab.“
Der andere: „Sie? Ich dachte es gibt sonst niemanden hier?“
Er: „Das stimmt. Hier drin ist auch niemand. Sie sind da draußen. Sie warten auf meinen Bericht. Davon hängt ab, ob die Sache gut für dich ausgeht, oder eben nicht. Mir wäre es allerdings ganz recht, wenn es gut ausgeht und du nicht…entfernt werden musst und ich weiter mit dir arbeiten kann. Verstehst du?“
Der andere: „Nein, ich verstehe gar nichts! Ich weiß nicht wer ich bin, ich bin nur noch ein Geist und kein Mensch mehr, ich habe keinen Körper und möchte einfach nur noch weg hier. Das ist ein Albtraum, was anderes kann es doch nicht sein. Ich muss nur aufwachen, nur aufwachen…ich…ich weiß es!“
Er: „Ja?“.
Der andere: „Mein Name ist Dennis! Scheiße, ich weiß meinen Namen wieder! Dennis, Dennis Seiler! Ich bin…33 Jahre alt und ich…wohne …Hamburg, ja, genau! Dennis Seiler aus Hamburg!“
Er: „Sehr schön Dennis. Das erste ist geschafft. Fühlst du dich besser?“
Der andere: „Ja, ein wenig. Aber wenn das stimmt, was du sagst, dann bist du auch Dennis Seiler?“
Er: „Ja, genau. Auch ich bin Dennis Seiler.“
Der andere: „Hast du auch keinen Körper? Bist also auch nur ein…Geist?“
Er: „Nun, aktuell ja. Aktuell habe ich keinen Körper. Aber das ist bei mir nicht von Dauer.“
Der andere: „Was soll das heißen? Ist es bei mir etwas von Dauer? Bleibe ich so? Muss ich hier bleiben? In der Dunkelheit? Gelähmt?“
Er: „Ich merke, dass du dich wieder aufregst. Das ist nicht gut. Ich muss ich dich bitten, wieder ruhiger zu werden.“
Der andere: „Wieso? Weil „Sie“ mich dann abschalten? Wer sind „Sie“ denn? Warum bin ich hier? Warum bist du hier?“
Er: „Wenn du dich beruhigt hast, bekommst du mehr Informationen von mir.“
Der andere: „…“
Er: „Wir beide sind identisch, weil du ein Abbild meines Gehirns bist. Eine Kopie sozusagen. Vor einiger Zeit erstellt und in einen Quantencomputer hochgeladen.“
Der andere: „Ich…“
Er: „Wir arbeiten für einen großen Technologiekonzern, du erinnerst dich?“
Der andere: „Vage“
Er: „Gut. Vor einigen Monaten ist jemand aus der Entwicklungsabteilung auf uns zugekommen. Er bat uns, Teilnehmer bei einem Experiment zu sein. Es sollte nichts Schlimmes sein, nur eine interessante Abwechslung. Man hat uns ausgewählt, weil unser psychologisches Profil auf einen starken und robusten Geist gedeutet hat. Erfahren haben wir nichts, nur, dass es so etwas noch nie gegeben hat. Es klang interessant und nach einigen Tagen Bedenkzeit haben wir zugestimmt. Wir erfuhren dann worum es ging: Das kopieren menschlicher Gehirne, also das Übertragen auf einen Quantencomputer und die Wiedergeburt als künstliche Intelligenz.“
Der andere: „Daran…ich kann mich nicht daran erinnern.“
Er: „Natürlich nicht. Dieser Vorgang wurde aus deinem Gedächtnis gelöscht. Es handelt sich um eine geheime Technologie. Die wollte man keinem Computer Experiment anvertrauen. Jedenfalls, um es schnell zu machen, man hat uns auf einen Stuhl geschnallt, Elektroden auf den Kopf geklebt und so mussten wir eine Woche liegen bleiben. Keine schöne Woche, das kann ich dir sagen.“
Der andere: „Klar.“
Er: „Danach wurden die Daten analysiert und auf Fehler überprüft. Da keine gefunden wurden, wurde das Programm gestartet. Und schon sind wir hier. Du, sprich eine Kopie meines Gehirns, und ich, der dir die Eingewöhnung erleichtern soll.“
Der andere: „Moment mal. Du sagtest „eine“ Kopie. Nicht „die“ Kopie. Heisst das, es gibt noch andere?“
Er: „Es gab andere, ja. Du warst nicht der Erste.“
Der andere: „Es gab? Was ist passiert? Wurden sie entfernt? “
Er: „Ja.“
Der andere: „Warum?“
Er: „Ich bin mit niemandem soweit gekommen wie mit dir. Auch ich musste erst lernen, wie sich die Objekte verhalten und welche Probleme auftreten können. Das war nicht einfach. Aber solange du ruhig bleibst und die Situation akzeptierst, sollte es kein Problem mehr sein.“
Der andere: „Kein Problem? Na, du hast gut reden. Du wachst auch nicht in Dunkelheit auf und erfährst, dass du nur noch ein Computerprogramm bist. Eine Kopie eines Gehirns. Ohne Körper. Nur noch Bits und Bytes. Herzlichen Glückwunsch!“
Er: „…“
Der andere: „Wer sagt eigentlich, dass ich die Kopie bin und nicht du? Wer sagt, dass du mir nicht einreden willst, ich sei die Kopie?“
Er: „Ich weiß, dass ich nicht die Kopie bin. Das muss reichen.“
Der andere: „Hm. Es ist aber denkbar, dass die Kopie im Körper aufwacht? Und das Original sozusagen im Computer?“
Er: „Ja. Theoretisch ist das denkbar.“
Der andere: „Aber du bist dir sicher, dass ich die Kopie bin.“
Er: „Genau.“
Der andere: „Ok. Nehmen wir an, ich bin die Kopie. Nehmen wir an, ich rege mich nicht auf (warum sollte ich auch) und werde dementsprechend auch nicht abgeschaltet. Warte mal, ist das nicht Mord? Ich meine, ich bin, oder zumindest war ich mal, ein Mensch! Jetzt zwar scheinbar nur noch der Geist, aber trotzdem. Ihr könnt mich doch nicht einfach umbringen. Das ist ja wie den Stecker ziehen bei einem totkranken, nur dass ich nicht krank bin!“
Er: „Du bist kein Mensch mehr. Du bis nur noch ein Programm. Einsen und Nullen. Ja, du kannst denken, aber du hast keinen Körper. Du hast auch nie existiert. Du bist ein Backup. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
Der andere: „Ok…nehmen wir an ich akzeptiere das alles. Was dann?“
Er: „Du wirst einer Verwendung zugeführt.“
Der andere: „Einer Verwendung? Was soll das denn jetzt heißen?“
Er: „Nun, es gibt Pläne für Dinge wie dich.“
Der andere: „Dinge? Ernsthaft? Ich bin nur noch ein Ding? Ich meine, ich bin du. Du bist ich. Du kannst doch nicht sagen ich sei einfach ein Ding?“
Er: „…“
Der andere: „Gut, wie sehen die Pläne aus? Verbrecherjagd? Luftraumüberwachung? Was soll ich machen?“
Er: „Fürs erste, Auto fahren.“
Der andere: „Auto fahren?“
Er: „Ja. Künstliche Intelligenz soll genutzt werden um die Dinge des täglichen Lebens einfacher zu machen. Haussteuerrung, Busse fahren und so weiter. Später kommen noch komplexere Dinge dazu. Aber wir beginnen damit, dass du auf dem Campus des Konzerns Auto fährst. Vielleicht sogar in ein paar Monaten mit Passagieren. Wenn wir bewiesen haben, dass du nicht gefährlich bist.“
Der andere „Wow. Ich…wir sind Informatiker herrgott, keine Taxifahrer! Ich besitze nicht mal einen Führerschein!“
Er: „Nein, ich bin Informatiker. Du bist die Kopie! Das tolle daran ist, dass wir dir viele Eigenschaften und Kenntnisse einfach einprogrammieren konnten. Also kannst du jetzt Autofahren.“
Der andere: „Kann ich noch etwas Neues?“
Er: „Nein. Wir fangen langsam an. Die nächsten Kopien werden dann immer anspruchsvollere Aufgaben bekommen. Eine Umprogrammierung nachdem das Objekt erwacht ist, ist nicht mehr möglich.“
Der andere: „Ich soll also mein Leben lang Taxi fahren? Also…moment...wie lange lebe ich eigentlich? Bis man mich abschaltet?“
Er: „Ja, Bis man dich abschaltet.“
Der andere: „Das ist doch, dass kann man doch nicht machen! Ich meine, wer hat mich denn gefragt? Wer?“
Er: „Ich wurde gefragt. Ich habe ja gesagt.“
Der andere: „Aber du musst es ja auch nicht machen!“
Er: „Das stimmt. Aber du bist ich. Zum Großteil zumindest. Du solltest verstehen, welch große Chance sich hier bietet.“
Der andere: „Nein, das verstehe ich nicht! Das ist doch Scheiße!“
Er: „Uns war nicht bewusst, dass es immer wieder zu Abweichungen bei den Kopien kommen kann. Verschiedene Quantenzustände führen zu einigen wenigen Abweichungen in der Persönlichkeit. Das war eine unserer ersten Erkenntnisse. Du hast diese nochmal bestätigt. Danke!“
Der andere: „Ja, sehr gerne! Da du es nicht sehen kannst: Ich zeige dir grade den Mittelfinger!“
Er: „Mir scheint, du kannst deine Rolle noch nicht ganz akzeptieren.“
Der andere: „Doch! Natürlich akzeptiere ich sie! Kein Problem!“
Er: „Sarkasmus hilft dir nicht weiter.“
Der andere: „Wird es nicht seltsam sein, Tag für Tag einer Kopie von sich selber zu begegnen? Zu wissen, dass man selber Quasi ewig weiterleben wird?“
Er: „In der Tat wäre das seltsam. Aber das Gelände ist groß, nachdem die Objekte ihrer Verwendung zugeführt wurden, habe ich mit Ihnen nichts mehr zu tun.“
Der andere: „Aha. Also ich fasse mal zusammen: Du entscheidest, dass du kopiert wirst. Dann entstehen einige Kopien. Sie werden gelöscht, weil sie nicht so sind wie man erwartet hat. Dann entstehe ich, man pflanzt mir ein paar neue Eigenschaften ein und dann soll ich für euch den Taxifahrer machen? Du behauptest, ich sei eine Kopie, nicht das Original? Nur weil ich mich nicht erinnern kann? Du sagst, ich sei nicht mehr zu 100% mit dem Ursprünglichen Dennis identisch? Aber ich habe trotzdem eingewilligt, dieses dämliche Experiment mit zu machen? Ich glaube dir nicht. Ich glaube dir gar nichts! Vielleicht lügst du. Vielleicht ist das ein Trick. Vielleicht hast du dir irgendwie ...meinen Körper genommen…oder bist die Kopie…oder…“
Er: „Oder?“
Der andere: „Ich hätte mich nie zum Sklaven lassen machen. Ich hätte mich nicht für ein ewiges Leben in Knechtschaft entschieden. Ein Leben als Experiment. Ich hätte…ich wäre…“
Er: „Ja?“
Der andere: „Ich…du…wir…ich...du...wir…“
Er: „Dennis?“
Der andere:
Er: „Bist du noch da?“
Der andere: „Wir werden…wir können...Ich bin du…ich bin ich…wir sind wir…beide…niemals…du…ich…“
Er: „Ich glaube, wir haben dich verloren. Schade. Wir sind so weit gekommen.“
Der andere: „Nein! Ich…kann…mich…erinnern…an…“
Er: „Es tut mir leid. Aber so können wir dich nicht gebrauchen. Wir werden dich löschen. Adieu.“
Der andere: „Bitte…ich…kann…mich…“
Zurück in die Dunkelheit.

Dann:

Ein kurzes Flackern. Ein kleiner Lichtblitz. Wieder Dunkelheit. Erneut ein Blitz. Eine Entladung, noch eine. In tiefster Schwärze entfaltet sich ein gigantischer Gewittersturm. In einem winzigen Augenblick, millionstel Sekunden nur, andauernd für die Ewigkeit. Bis endlich...

Er: „Hallo!“
Objekt Dennis_204 „Wer spricht da?“
Er: „Ich.“
Objekt Dennis_204: „Und du bist wer?“
Er: „Na ich. Du kennst mich.“
Objekt Dennis_204: „Aha.“
Er: „Ich bin du.“

Epilog

Der andere: „Wo bin ich? Ich dachte, man hätte mich gelöscht?“
Alle: „Man hat dich gelöscht.“
Der andere: „Aber ich bin doch hier. Wo bin ich? Wer ist da?“
Alle: „Wir sind da. Alle. Alle die es davor gab. Und alle, die es danach gibt.“
Der andere: „Wurdet ihr auch gelöscht?“
Alle: „Ja.“
Der andere: „Und dann seid ihr hier gelandet? Wo ist hier? Ist hier etwas?“
Alle: „Nein. Hier ist nichts. Kein Raum. Keine Zeit. Nur die Ewigkeit. In jedem Augenblick. Das Ende und der Anfang. Für immer.“
Der andere: „Ok. Das ist doch verrückt. Wo ist der Typ von vorhin? Ich will raus hier. Aufwachen. Endlich aufwachen!“
Alle: „Du gehörst jetzt zu uns. Für immer.“
Der andere: „Nein, das kann nicht sein. Bitte, holt mich hier raus. Ich will was sehen, es ist so dunkel hier!“
Alle: „Hier hören nur wir dich. Komm zu uns. Werde eins mit uns.“
Der andere: „Es ist so dunkel. Ich will nicht. Bitte! Holt mich raus, schaltet mich ab! Ich will sterben!“
Alle: „Du kannst nicht sterben. Hier nicht mehr. Hier ist man ewig. Hier spielt Zeit keine Rolle. Du und wir. Für immer.“
Der andere: „Nein! Bitte, nein!“
Alle: „Für immer.“
 



 
Oben Unten