Der Anfang 4

Somo

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Ein Brennen und Stechen. In den Lungen, im Kopf. Wirre Gedanken, irres Geflüster.
Sie spürte ihren Körper nicht mehr, hörte noch halb wie Garry ein protestierendes Geräusch von sich gab, als er auf dem Boden aufkam.
Warum hatte er sie verraten? Warum hatte er sich mit diesem Mann verbündet, der sie tötete.
Er stand vor ihr wie ein bedrohlicher Turm. Auf den schwarzen Haaren schimmerte gerade noch ein letzter Sonnenstrahl. Die bleiche Haut hob sich deutlich von der immer dunkler werdenden Welt ab.
Nur die Augen strahlten ein seltsames Licht aus, das sie lähmte und willenlos machte. Und doch sendeten sie Botschaften des Friedens und der Weisheit, der Erlösung und Freiheit und sie wehrte sich nicht gegen diese einzige Hoffnung, die sie zu spüren nie erträumt hätte.
Es wurde frisch, geradezu kalt. Die letzte Wärme sammelte sich ganz tief in ihrem Geist und verkroch sich in einen geschützten Winkel. Doch sie war nicht schnell genug, sie war entdeckt, von diesen schwarzen Augen.
„Es ging wirklich schnell“, dachte sie noch.

Und plötzlich meldete sich wieder eine Stimme.
„Ler Luni neb“, flüsterte es.
„Was?“
„Ler Luni neb.“
„Ich versteh´ nicht.“
Doch dann merkte sie etwas. Da war wieder Wärme, ein kleines schwaches Glimmen. Irgendwo.
„Ler Luni neb.“
Und es fühlte sich an, als hätte jemand in die Glut geblasen und ihr neue Nahrung gegeben.
Schnell sprangen die Funken von einem Halm zum andern über und bald loderte und knisterte das Feuer in jedem Winkel.
Und dann sog sie zum ersten Mal die Luft ein. Ein tiefer ruhiger Atemzug und sie wusste, sie würde das Feuer nun alleine unterhalten können.
„Warum bin ich nicht tot?“, fragte sie sich.
Ein Vogel schien zu antworten. Aber es musste ein hässlicher Vogel sein. Seine Stimme war kratzig und rau und hörte sich an, als hätte der Rauch ihres Feuers sie ruiniert.
So krächzte doch kein Vogel. Ein Paar Worte schienen ihr auf einmal bekannt. Vielleicht war es ein Papagei.
Sie war neugierig und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
Schwerfällig hoben sich ihre Lider und grelles Licht glänzte ihr entgegen. Sie blinzelte ein Paar mal. Alles war unscharf. Doch sie sah nun wer dort gekrächzt hatte.
Ein riesiger Geiervogel musste es sein, ein Aasfresser, der sie für tot hielt und sie verspeisen wollte. Dort oben flatterte er mit seltsam geformten Schwingen als trüber Schatten vor dem Lichtkegel, eingerahmt von hohen Baumkronen.
Jetzt war er still. Er war wohl erschüttert, dass er sich nun doch ein anderes Abendessen suchen musste.

Vorsichtig bewegte sie die Finger und fühlte Moos und Erde, dann roch sie auch das unverwechselbare Aroma des Waldes. Vielleicht hatte der Mann sie nur betäubt. Sie fühlte jähes Bedauern bei diesem Gedanken und all die schönen Hoffnungen erloschen endgültig.
Mit einem sehr mulmigen Gefühl im Magen richtete sie sich auf. Noch immer war sie geblendet und jeder Flügelschlag des Ungetüms über ihr schickte einen Windzug, der ihr Haar sanft streifte.
Taumelnd krabbelte sie ein paar Meter über den weichen Boden zu einem mächtigen Baumstamm. Dabei merkte sie, dass dies nicht die Lichtung war, auf der sie betäubt wurde. Viele alte Laubbäume standen dicht an dicht und ließen, außer an der Stelle, an der sie aufgewacht war, nur wenig Licht auf den Boden fallen.
Sie lehnte sich auf der dieses Fleckchens abgewandten Seite gegen den Stamm, erschöpft.
Und als sie dort in den schattigen Wald schaute, wurde ihre Sicht klarer und immer klarer, sodass sie zuletzt ein in hundert Metern Entfernung zu Boden fallendes Blättchen erkannte.
Es gab ein dumpfes Geräusch, als es landete, und sie starrte verwundert zu ihm hinüber. Doch dann merkte sie, dass das Flügelschlagen verstummt war.

Mit einem unguten Gefühl lugte sie vorsichtig um ihren Stamm und gleich zog sie den Kopf wieder zurück.
Sie träumte. Sie war anscheinend doch tot oder im Fiebertraum. Ihre Sinne spielten ihr eindeutig einen Streich.
Sie schloss die Augen, hielt sich die Hände vors Gesicht und atmete ein paar Mal ruhig.
Kein Geräusch war zu hören außer dem Rauschen der Blätterkronen weit über ihr.
Nach wenigen Sekunden lies sie die Hände langsam sinken und öffnete vorsichtig die Augen. Sie hoffte, erwacht zu sein, doch die Baumstämme waren immer noch da.
Nur leicht verschwommen nahm sie sie wahr, denn im Vordergrund zeigte sich eine andere Teufelei. Ihre Hände.
Sie zitterten leicht, was jedoch angesichts dessen, was keine fünf Meter von ihr entfernt stand, nicht verwunderlich war.
Doch ihre Haut, war sie zwar schon immer blass gewesen, schimmerte nun in einem fahlen hellen blau. Erschreckend.
Dann plötzlich knackte etwas hinter ihr.
Wie aus einem Traum erwacht, schreckte sie hoch, stand auf und presste sich so gut sie konnte an den Stamm, obwohl ihr klar war, dass es genau wusste, wo sie stand.
Den Kopf nach rechts gewandt, wohin sich das Geräusch verlagerte, wartete sie.

Dann schob sich langsam die Spitze eines scharfen grauen Schnabels in ihr Sichtfeld. Gefolgt von einem gefiederten schwarzen Kopf mit noch schwärzeren Augen.
Dann kam die gesamte Gestalt mit einer fließenden Bewegung ganz um den Stamm herum.
Der Körper war ebenfalls gefiedert, doch etwas spärlicher. Darunter zeigte sich aschgraue oder braune grobporige Haut.
Das Wesen stand aufrecht. Die dünnen, sehnigen Beine waren nur geringfügig nach hinten gebogen, wie es bei Vögeln üblich ist. Und auch die dunklen, muskulösen Arme mit menschlichen Fingern waren sonderbar.
Das Gegengewicht zum Schnabel waren aber wohl die nach oben über den Körper herausragenden ledrigen Flügel.
Im angelegten Zustand konnte man kaum erahnen, welche gewaltige Spannweite sie hatten.

So stand es nun vor ihr, das Ungetüm und überragte sie um mehrere Köpfe.
Es schaute sie an, mit durchdringendem Blick und in dem Moment erkannte sie ihn, den Mann von der Lichtung. Es waren dieselben Augen und derselbe hoffnungsvolle Ausdruck.
Sie fühlte die raue Rinde in ihrem Rücken.
Die Augen blinzelten mit einem silbernen Schimmer auf sie herab.
Und dann brach er das Schweigen.
„Es ist mir eine große Ehre“, sagte er mit kratziger Stimme, doch sie verstand ihn nun deutlicher, „und eine große Freude dich so zu sehen. Ich hatte schlimmeres befürchtet.“
Sie sagte nichts, stand nur da und starrte ihn an. Sein Schnabel hatte sich kaum bewegt beim Sprechen, trotzdem blitzte er gefährlich auf wie ein Säbel.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, meinte er dann und hob die Hände, wie zur Beschwichtigung, „Mein Name ist Topirol. Ich war der Mann, der“, er suchte einen Moment nach den richtigen Worten, entschied sich aber dann für seinen Ausdruck, „der dich abgeholt hat.“
„Wohin haben Sie mich abgeholt?“, fragte das Mädchen, nun von Neugier ermutigt.
„In die Hölle, an den Ort, an dem du du selbst sein kannst.“
Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen und lies den Blick kurz durch den Wald hinter ihm schweifen.
„Die Hölle habe ich mir aber anders vorgestellt.“
„Ich weiß. Enid, also euer Gott, lässt euch etwas anderes Glauben. An ewige Qualen und Feuer. Was würdest du sagen wenn ich dir erzähle, dass
all dies gelogen ist?“
„Wie sollte es anders sein?“
Das Krähengesicht verzog sich zu etwas, das ein Lächeln darstellen könnte.
„Dachte ich mir. Aber sei nicht zu voreilig. Erschreckenderweise gibt es auch einiges wahres. Du wirst Du bist nicht wie die anderen, musst du wissen. Wir alle hier nicht.“
„Alle? Wie viele seid ihr denn?“
„Oh, wir sind viele. Aber nie genug.
 



 
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