Der arme Poet

Ein Leben als Single, das kann sich Jan Dressel nicht vorstellen, zumindest nicht für längere Zeit, und schon gar nicht im fortgeschrittenen Alter. Nach dem Tod seiner Ehefrau findet er gut ein Jahr später, kurz vor dem Erreichen des Rentenalters, seine neue Lebensgefährtin, Regine. Alle in seinem Umfeld beglückwünschen ihn dazu; die beiden passen gut zueinander. Regine, den schönen Dingen des Lebens zugewandt, ist von Beruf Journalistin, seit kurzem im Vorruhestand. Im Berufsleben davor war sie als Pressereferentin in der Kulturbehörde ihres Bundeslandes tätig gewesen. Und sie ist ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet, mit dem sich Jan in seiner Freizeit bevorzugt beschäftigt: dem geschriebenen Wort.

Der frühere Innenausstatter Jan Dressel erzählt für sein Leben gern und schreibt darüber. Den Traum vom großen Roman hat er nach mehreren ergebnisschwachen Anläufen aufgegeben. Er hat erkannt, dass sein erzählerisches Potenzial, bei all seiner Leidenschaft des ambitionierten Hobbyautors, hierfür nicht ausreicht. Aber Kürzeres, das bekommt er gut hin. So ist er als eifriger Verfasser von Leserbriefen bei den Redaktionen verschiedener Zeitungen in der Region berühmt-berüchtigt; hin und wieder liest man auch in überregionalen Magazinen derartige Beiträge von ihm. Seine Frau Regine unterstützt diese Aktivitäten, inhaltlich mischt sie sich jedoch nicht ein. Dann beginnt Jan, Kurzgeschichten zu schreiben, die er gerne veröffentlicht sehen möchte. Dies betreibt er in Internetforen, die er mit seinen Storys beschickt, zusätzlich nimmt er an Autorenwettbewerben teil, mit überschaubarem Erfolg.

Das Ehepaar Dressler geht in der Partnerschaft liebevoll und tolerant miteinander um, der Umgangston ist freundlich-dezent. In diesem Rahmen ist es ein Höchstmaß an Kritik, wenn Regine eine seiner Geschichten mit einem interessant kommentiert. Jan kann mit dieser Kurzform eines vergifteten Kompliments gut umgehen, so etwas gehört zum normalen Sprach-Code des Paares. Jans Hobby, das Schreiben, würden beide deswegen nie in Frage stellen. Im Gegenteil. Er beabsichtigt, eine Auswahl seiner Kurzgeschichten in einer Sammlung zu veröffentlichen. Die Bedenken seiner Frau zu diesem Vorhaben bewahrheiten sich. Es gelingt ihm nicht, eine Anthologie mit seinen Kurzgeschichten bei einem Verlag unterzubringen. Er bleibt deshalb bei dem bisherigen Muster der Veröffentlichung und tingelt mit seinen Geschichten durch die einschlägigen Seiten des Internets. Hier findet er die Plattformen, auf denen er sich sichtbar machen kann. Irgendwann entdeckt Jan die Lyrik für sich, stellt dabei jedoch fest, dass er sich mit dem Verfassen poetischer Texte schwertut. Ehefrau Regine beobachte
t dies wohlwollend-kritisch aus der Halbdistanz. Ihr kurzer Kommentar zu seinen Erstversuchen, putzig, lässt ihn diese Art der Dichtkunst beenden.

Und die beiden haben ja noch ihr Familienleben. In diesem wird das Befinden der Dressels durch die Geburt von Jans erstem Enkel gekrönt. Beide sind geradezu vernarrt in dieses kleine Wesen. Sie genießen es sehr, wie dieser neue Mensch ins Leben hineinwächst. Schon bald begrüßt er die Großeltern mit einem hinreißenden, zahnlosen Lächeln, wenn diese sich ihm nähern. Es scheint dem Kleinen auch Freude zu bereiten, mit den winzigen Händen nach dem vorgestreckten Finger zu greifen. Jan Dressel sitzt mitunter der Schalk im Nacken. Bei einer solchen Gelegenheit hält er dem Kleinen einen Stift hin, und parallel dazu einen kurzen Pinsel - beide Gegenstände in einer neutralen Farbe. Der Enkel grabscht zu, er wählt den Pinsel. Jan glaubt zwar nicht an Orakel, findet die Reaktion des Enkels aber höchst amüsant - ein netter Gag. Diese Szene hat seine Frau beobachtet und fängt herzhaft zu lachen an, sie ruft ihrem Mann zu: Siehste!

Diese kleine Episode hat Jan dann anscheinend doch als eine Art Orakel betrachtet. Er wiederbelebt kurz darauf sein früheres Hobby, er fängt zu malen an. Die Beschäftigung mit der Malerei hat ihm früher viel Freude bereitet, und ein gewisses Talent ist bei ihm vorhanden. Als er seiner Frau das erste, von ihm gemalte Ölbild vorstellt, ist diese verblüfft. Nicht schlecht, lautet ihr Kommentar - in ihrem Sprachgebrauch fast schon ein Ritterschlag. Das, was sie als Jans vollendetes Werk vor sich sieht, ist die Variation eines bekannten Motivs des berühmten Malers Carl Spitzweg: 'Der arme Poet'.

Jans Bild ist natürlich künstlerisch nicht annähernd von Spitzweg'scher Qualität. Das, was er hier mit seinen Mitteln geschaffen hat, sollte aber auch gar nicht der Versuch einer Kopie sein. Regine betrachtet schmunzelnd das Werk, und schließt nicht aus, dass dieses bekannte Sujet einen verschlüsselten Hinweis auf Jans Versuche als Schriftsteller enthalten könnte. Dabei murmelt sie, mehr nur für sie selbst bestimmt: „So hoffentlich nicht, mein Lieber. Auch wenn deine Dichtkunst brotlos ist, aus dem Bett solltest du schon noch kommen.“
 



 
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