Der ausgedachte Tod

Anonym

Gast
Erich erwachte von den Regentropfen. Unaufhörlich hämmerten sie auf das Dachfenster. Er schaltete die kleine Leselampe am Bett ein und betrachtete noch ein wenig schlaftrunken die Rinnsale, die sich ihren Weg über die glatte Fläche des Fensters bahnten. Ein weiterer Regentag stand also bevor. Ein Tag, von dem er nicht wusste, wie er ihn verbringen sollte. Er warf einen Blick auf den Digitalwecker. 5 Uhr 24. Mörderische Zeit. Zu früh um aufzustehen, zu spät, um noch einmal richtig einzuschlafen.

Er hatte wieder geträumt. Von ihr. Von seiner Nachbarin. Ilse. Seiner einzigen Nachbarin, denn abseits des Hauptorts bestand der kleine Flecken nur aus zwei Häusern. Eigentlich aus dreien, aber das Gehöft zur linken lag schon lange verlassen da. In der früheren Schreinerei hausten Fledermäuse, sicher auch Ratten. Blieb nur Ilse.
Sie wohnte auch alleine, so wie er. Wie alt mochte sie sein? Ihr Mann war schon vor langer Zeit verstorben. Manchmal kam ihre Tochter vorbei. Aber nur selten. Er ahnte, wusste, dass auch sie das Alleinsein bevorzugte.
So wie er.
Schon immer war er lieber für sich gewesen. Ein Einzelgänger, pflegten Eltern, Lehrer und Ausbilder zu sagen. Ein Einzelgänger, der sich finanziell unabhängig gemacht hatte und nun so lebte, wie er es schon immer wollte: allein. Allerdings auch einsam. Ein Unterschied, wie er nun festgestellt hatte.

In seinen Träumen war er weder allein noch einsam. Da hockte er auf einem Baumstamm, genoss nach einer Wanderung mit Ilse eine Brotzeit. Komischerweise war sie immer dabei. Aber wer sonst? Der Postbote, der sehr selten kam? Nein, Ilse war es, auch wenn sie bestimmt zehn Jahre älter war als er. Oder? Sie war schlecht zu schätzen mit ihrer bis auf Stirnfalten glatten Haut, ihren in einem Pferdeschwanz gebändigten Locken, die leicht ergraut waren. Sie war schlank, aber ihr Rücken nicht gerade. Ihre Augen blickten nicht mehr jung. Sie hatten zu viel gesehen.
Erich wälzte sich auf seine Einschlafseite, die rechte. Er schloss die Hand um sein schlaffes Glied und hielt es fest. Stellte sich vor, es wäre Ilse, die das tat. Sie war doch bestimmtes erfahren. Immerhin war sie ja mal verheiratet gewesen. Er seufzte. Das gleichmäßige Trommeln des Regens ließ ihn müde werden. Der Schlaf, der Bruder des Todes, umarmte ihn.

5 Uhr 24. Ilse stöhnte auf. Nicht schon wieder vor sechs Uhr wach sein. Sie knipste die Nachttischlampe an, richtete sich mühsam auf und schlüpfte in die Hausschuhe. Im Zimmer war es kalt. Sie erschauderte, griff nach ihrem Morgenmantel, der am Fußende lag, warf ihn über und ging durch den Flur in die Küche. Dort war es noch warm vom Vorabend. Sie setzte Wasser auf, gab einen Teebeutel in eine Tasse und fachte den Kamin an. Der Morgen graute und zeichnete die Umrisse des nebenstehenden Hauses in den Himmel. Erich! Diese blöde Kerl. Ihr einziger Nachbar. Was musste sie auch so bescheuert sein, sich dieses Haus zu kaufen. Aber sie hatte es ja so gewollt, endlich frei, endlich allein.
Aber sie war nicht allein.

Erich war da. Wie er sie immer anstarrte, dabei war er doch viel jünger als sie. Bestimmt zehn Jahre. Wieso hockte der da so alleine in seinem Haus? Besuch – Fehlanzeige. Dieser blöde Wichser. Ja, das war er und das tat er auch bestimmt: sich einen runterholen. Wer weiß, welche Fantasien der hatte. Sie selbst? Sie musste lachen. Wenn er wüsste wie sie aussah. Das welke Fleisch, ihre Kaiserschnittnarben, ihr latentes Übergewicht, sorgfältig kaschiert durch Kleidung. Naja, wenigstens war sie finanziell unabhängig. Ihr Mann war reich gewesen. Reich an Erfahrungen jeglicher Art, aber auch reich an Kohle.
Und jetzt lebte sie ihren Traum alleine. Einsam fühlte sie sich nicht. Wieso einsam? Sie konnte tun und lassen was sie wollte. Zu ihren Kindern war der Kontakt spärlich. Nur Annika kam noch manchmal. Ilse trank den Tee, dann schaltete sie ihren Computer ein und rief den Text auf. Stirnrunzelnd las sie den letzten Absatz. Das war alles Schmarrn. Sie löschte ihn und hämmerte wie wild drauflos. Der Verlag drängte. Es waren noch drei Wochen bis zur Abgabe des Thrillers. Sie beschloss, Marie doch sterben zu lassen.

Zwei Stunden und drei Seiten später lehnte Ilse sich zufrieden zurück. Puh! Marie war tot und hatte in Blut gebadet. Der Mörder kam durch. Bei ihr gab es kein Happyend. Sie wusste schon jetzt, dass die Polizei den entscheidenden Hinweis nicht finden würde. Bei ihr kam nie der wahre Mörder heraus. Der Leser ahnte zwar, wer er war. Sein könnte. Nie enthüllte sie ihn. Das war der Erfolg ihrer Thriller. Die Leser waren süchtig nach ihnen. Jedes Mal hofften sie, jetzt würden sie eine Lösung präsentiert bekommen. Und niemand wusste, wer Ilse war und wo sie wohnte. Ilse, die brave Hausmaid. Die harmlose alte Schrulle.
Ilses Handy brummte. Sie nahm es und sah eine Whatsapp-Nachricht ihrer Tochter Annika aufploppen. „Hi Mama, ich komme heute um 14 Uhr, okay? Habe dann noch nichts gegessen!“ las Ilse mit Schmunzeln. Klar, so konnte man auch ausdrücken, dass sie für ein Essen zu sorgen hatte. Sie wusste auch schon was: Kässpatzen. Sie ging ins Bad, um sich zurechtzumachen.

Erich hatte sein Frühstück beendet, das Bett gemacht und alles soweit aufgeräumt. Was nun? Er sah in den wolkenverhangenen Himmel. Schielte zum Haus nebenan. Licht schimmerte durch mehrere Fenster. Plötzlich wusste er, was zu tun war: Er würde Ilse besuchen. Einfach so. Was sollte schon groß passieren? Im schlimmsten Fall würde sie nicht öffnen. Er ergriff Jacke und Schal und schlurfte langsam nach draußen. Ging den kleinen Weg zu ihrem Haus hinunter und klingelte.
Stille.
Ilse drehte gerade die Dusche ab, als sie die Klingel hörte. Mist, wer kam denn jetzt? Doch nicht der Postbote? Sie schlang das Handtuch um sich, ein zweites um den Kopf, angelte die Latschen unter dem Waschbecken hervor und ging zur Haustür. Sie öffnete und starrte überrascht in Erichs Gesicht. „Du?“, entfuhr es ihr. „Guten Morgen“, erwiderte Erich schüchtern, „ich dachte, ich statte dir mal einen Besuch ab“, fügte er überflüssigerweise hinzu. Er war ja schon da. „Ach so“, sagte Ilse wenig begeistert, „ich dachte schon, es ist etwas passiert. Komm rein, ich ziehe mich schnell an. Aber viel Zeit habe ich nicht, meine Tochter kommt später“. Damit verschwand sie im Schlafzimmer.
Erich trat unsicher ein, schloss die Tür und ging in die Küche. Ein aufgeklappter Laptop zog seinen Blick an. Er wusste gar nicht, dass sie einen hatte! Er trat neugierig näher. Der Cursor blinkte am letzten Buchstaben der letzten Zeile. Er las. Und las.
Und las.
Ilse kam aus dem Schlafzimmer, in Jeans und weitem Männerhemd ihres Verblichenen, darüber ein bunter Schal. Sie sah den gebeugten Rücken Erichs, der vor dem Laptop stand. Vor dem aufgeklappten Laptop. Hatte er etwa alles gelesen, was sie heute verfasst hatte? „Was machst du da?“, fragte sie überflüssigerweise. Erich drehte sich langsam um. Er blickte sie an. Sie ihn. Erich wusste, was passieren würde.

Sie würde so sterben, wie sie es sich für Marie ausgedacht hatte.
 



 
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