Der Biss

Matula

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"Für den letzten Tagesordnungspunkt brauche wir kein Protokoll, Maderna. Schreiben Sie: Ende der Sitzung um zwanzig Uhr fünfzehn. Dann können Sie gehen. Schönen Abend."

Maderna schrieb wie ihm geheißen, erhob und retirierte sich kopfnickend nach allen Seiten.

"Ist der neu?" wollte Herr Feldbach wissen. "Wieso ist der so klein?"

"Keine Ahnung", antwortete Mag. Konrady, "ich glaube, er hat italienische Wurzeln. Waren ja auch die römischen Legionäre so kleine Stöpsel - aber halt viele. Wenn einer über eins sechzig war, hat er sich gleich 'Maximus' genannt."

Herr Dr. Mayer-Wilczek räusperte sich: "Wenn das dann geklärt wäre, könnten wir zum informellen Tagesordnungspunkt kommen, meine Herren ... und Frau Lauscher. Leider hat es wieder einen Vorfall gegeben. Diesmal mit der neuen Attachée aus Lettland. Sie hat es halb und halb mit Humor genommen, aber nur, weil er im Rollstuhl sitzt. Wir werden andere Seiten aufziehen müssen."

"Könntest du etwas deutlicher werden. Was ist passiert?"

Mayer-Wilczek seufzte. "Er hat sie am Buffet in den Hintern gebissen. - Immer sage ich, dass die Leute Abstand halten sollen, weil er ihnen sonst mit den Rädern über die Zehen fährt, aber diesmal war ich nicht dabei und am Buffet war wieder großes Gedränge. Sie hat lange Beine, ihr Gesäß war wohl auf der Höhe seines Gesichts und ... happ!"

"Und wie weiter?"

"Naja, sie hat aufgeschrien und zu schimpfen begonnen. Da ist Magister Grötz aufmerksam geworden und war natürlich gleich zur Stelle. Nachdem sie auf Lettisch geschimpft hat, hat niemand verstanden, worum es geht. Zwei Augenzeugen haben Grötz von dem Vorfall berichtet, der kroatische und der holländische Attaché. Der Kroate hat nicht viel gesehen, nur wie er sich den Mund abgewischt hat, wahrscheinlich die Fusseln von ihrer Hose. Der Holländer hat erzählt, dass sie bei Ajax Amsterdam einmal einen Fußballer hatten, der häufig andere Spieler gebissen hat. - Das nützt uns aber nichts, weil unser Beißer ja kein Fußballer ist."

"Ja, und außerdem ist es ein neuer modus operandi!" warf Feldbach ein. "Bisher hat er doch nur gezwickt, soweit ich weiß."

"Was heißt da 'nur gezwickt'!" empörte sich Frau Lauscher. "Als Frauenvertretungsbeauftragte muss ich Sie daran erinnern, dass unerwünschte körperliche Annäherungen jeglicher Art verboten sind! Die polnische Handelsattachée hatte noch tagelang einen blauen Fleck an der Schulter. Man sollte den Mann wegen Körperverletzung anzeigen!"

"Frau Lauscher, bitte ...," Dr. Mayer-Wilzcek war um Kalmierung bemüht. "Also erstens hat er nicht nur gezwickt, sondern schon früher hin und wieder gebissen, und zweitens liegt doch auf der Hand, dass er keine sexuellen Absichten verfolgt. Er hat noch nie eine Frau geschnappt und geküsst, so wie dieser spanische Fußballfunktionär seinerzeit. So überschwänglich ist er nicht! Als die Briten noch dabei waren, hat er einen von den jungen Assistenten in den Hintern gezwickt. Der hat das sogar lustig gefunden ... waren eigentlich ganz verträglich, die Briten."

"Vielleicht hat er ihn von hinten mit einer Frau verwechselt," gab Mag. Konrady zu bedenken. "Mir hat er nämlich einmal gesagt, dass er die europäischen Frauen sehr appetitlich findet und nie eine Amerikanerin anrühren würden."

"Na da sehen Sie es!" triumphierte Frau Lauscher. "Von wegen keine sexuellen Absichten!"

Die Runde versank in nachdenkliches Schweigen. Nach einer Weile nahm Dr. Mayer-Wilczek wieder den Faden auf.

"Das ist alles sehr, sehr unangenehm. Vor allem, weil wir nicht wissen, warum er das tut. Wir werden ihn aus dem Verkehr ziehen müssen. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht."

"Einen Staatssekretär aus dem Verkehr ziehen? Noch dazu einen behinderten?" Herr Feldbach lachte ungläubig.

"Ja! Und mir ist auch ganz egal, wessen Onkel er ist. Ich bin es wirklich leid, dauernd neue Entschuldigungen erfinden zu müssen. Er hat sich einfach nicht im Griff. - Verzeihen Sie das Wortspiel."

"Da sehe ich auch so", bekräftigte Frau Lauscher Herrn Mayer-Wilczek. "Kaum beugt sich eine Diplomatin zu ihm hinunter oder geht in die Knie, muss er zupacken. Wir dürfen das nicht länger ignorieren."

"Gibt es eigentlich ein bestimmtes Muster bei seinen Übergriffen?" wollte Herr Feldbach wissen. "Ich meine bevorzugt er bestimmte Länder und lässt andere ungeschoren? Mir hat er nämlich einmal gesagt, dass ihm manche Europäer so verschlafen vorkommen und dass man sie aufwecken muss."

"Das sind doch ganz blöde Ausreden!" ereiferte sich Frau Lauscher. "Wollen wir seine Grapscherei jetzt als europapolitische Maßnahme betrachten?! - Ich sehe schon ein, dass es nicht leicht ist mit einer Querschnittslähmung, aber auch so jemand darf sich nicht alles erlauben."

Wieder trat nachdenkliche Stille ein.

"Ich bitte, jetzt nicht über mich herzufallen", sagte Mag. Konrady nach einer Weile, "aber manchmal, also wirklich nur manchmal, möchte ich bei solchen Veranstaltungen auch alle wegbeißen und wegzwicken. Wenn sie sich so alterieren in diesem schauerlichen Englisch, wenn sie sich gegenseitig in ihre Ängste steigern, den Feind schon ante portas sehen, durch Datenbänke zusammenwachsen und durch Waffen ein großes Stachelschwein werden wollen, wenn sie dann aber in den Pausen herumstehen, mit verschränkten Armen, das Handy in der Achselhöhle für den bestellten Anruf und dabei dauernd über ihre Unterbringung und ihre Reisekostenabrechnung reden, dann ... ja, wie gesagt."

Mag. Konradys Ausbruch wurde mit Schweigen quittiert.

"Frau Kollegin, ich bin überzeugt davon, dass wir es hier nicht mit einer 'Grapscherei' im herkömmlichen Sinn zu tun haben. Dagegen spricht schon die Wahl der Mittel, der 'modus operandi', wie Herr Kollege Feldbach bemerkt hat. Frauen sind öfter betroffen, weil sie höflicher sind und sich immer auf Augenhöhe unterhalten wollen. Die Männer reden ungerührt von oben herab, aber im Gedränge, zum Beispiel im Lift oder am Buffet, können auch sie zu Opfern werden."

Frau Lauscher schüttelte missbilligend den Kopf und notierte ein paar Worte auf ihrem Notizblock.

"Und weil sie vorhin nach einem Muster gefragt haben," fuhr Mayer-Wilczek fort, "nationale Präferenzen kann ich nicht erkennen, aber bei neuen Attachés vergisst er sich öfter als bei den altgedienten. Fast so, als ob er ihre Beschaffenheit in einem sehr wörtlichen Sinne prüfen wollte. Und natürlich sind die, die ihn kennen, vorsichtig und halten Abstand."

"Hast du ihn nach dem Vorfall mit der Lettin zur Rede gestellt?" wollte Mag. Konrady wissen.

"Nein, das ist ganz zwecklos. Er weiß ja selber nicht, was er tut. Er faselt von einer gestörten Augen-Hand-Koordination, dann wieder von fehlender Feinmotorik. Das Beißen begründet er mit konvulsivischen Kieferkontraktionen, die in Verbindung mit bestimmten Reizwörtern ausgelöst werden. Als Beispiele hat er 'Fachkräftemangel' und 'Konsumverdrossenheit' genannt. Manchmal glaube ich, er macht sich über uns lustig."

"Davon bin ich überzeugt!" versicherte Frau Lauscher. "Er ist ein gerissener Hund und so müssen wir ihn auch behandeln."

"Einschläfern?"

"Nein, Maulkorb und an die kurze Leine!"

"Ich weiß jetzt nicht, was Sie damit sagen wollen, Frau Kollegin!" Herr Mayer-Wilczek war hörbar verärgert. "Solche Vergleiche sind wenig hilfreich. Eigentlich habe ich gehofft, dass wie gemeinsam einen Plan entwickeln, um ihn von den internationalen Zusammenkünften fernzuhalten, ehe es zu einem Eklat kommt, der durch die Medien zieht. Ich meine eine diplomatische Lösung, kein Hundegeschirr."

Sein Blick wanderte von einem zum anderen.

"Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen", meinte Konrady. "Da müssest du ihn schon im WC einsperren. Er will doch überall dabei sein und sich wichtig machen. Um in den Festsaal zu kommen, muss er im dritten Stock den ganzen langen Gang bis zum Lastenlift radeln. Im Erdgeschoß muss er raus und den ganzen Weg wieder retour zum anderen großen Lift. Nur so kommt er in den ersten Stock. Aber das nimmt er alles auf sich, weil er immer, immer dabei sein muss."

"... um Frauen zu beißen und zu kneifen," ergänzte Frau Lauscher.

"Eigentlich beachtlich in seinem Alter", meinte Herr Feldbach.

"Ja, allerdings hat er mir neulich anvertraut, dass ihn die langen Wege schon recht echauffieren. Er möchte keinesfalls verschwitzt zu den Sitzungen kommen. - Vielleicht wäre aus diesem Umstand ein Nutzen zu ziehen ... ?"

Mayer-Wilczek blickte fragend in die Runde.

"Der kleine Maderna schaut ziemlich kräftig aus," meinte Feldbach.

"Ist er auch!" bestätigte Mag. Konrady. "Er rudert und stemmt Gewichte in seiner Freizeit. Die Kleingewachsenen trainieren immer besonders viel, um nicht fett zu werden. Wir kennen ja solche Beispiele. So mancher Große hat das schon zu spüren bekommen, vor allem die Langen mit den X-Beinen, die Golfen gehen."

"So einen bemannten Rollstuhl könnte der Maderna wahrscheinlich bei gegebenem Anlass ohne weiteres kippen, oder irre ich mich da?" fragte Frau Lauscher.

"Selbstverständlich, nach vor oder nach hinten, je nach Bedarf. Mit einem Konditionierungserfolg wäre wahrscheinlich schon nach wenigen Wochen zu rechnen."

Herr Dr. Mayer-Wilczek strahlte: "Trefflich, liebe Kollegen! Dann wollen wir noch ein Gläschen Sekt auf seinen neuen kleinen Adlatus trinken!"
 
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