Filjanka Seenonne
Mitglied
Am Nachmittag ging die gesamte Familie durch den Ort spazieren, um für das Abendbrot einzukaufen.
Als sie ihr Haus verließen und die Straße hinauf gingen, sahen die Kinder den Nachbarsjungen mit gehässiger Miene am Gartenzaun stehen. Vor den Erwachsenen wagte er scheinbar nicht, etwas zu sagen, doch er formte mit dem Mund das stumme Wort Spukhaus, deutete mit dem Daumen über seine Schulter und verzerrte das Gesicht zu einer schaurigen Grimasse.
Der Ort war leise und wirkte irgendwie vergessen. Die Straßen waren noch mit Kopfstein gepflastert und die Häuser hatten hölzerne Türen mit eingeschnitzten Mustern. Häufig rankte Efeu oder Wein die Hauswände hinauf und in den meisten Fenstern hingen gehäkelte Gardinen. Aus einem blickte ihnen eine graue Katze gleichgültig entgegen.
Es gab nur einen größeren Supermarkt, doch dafür viele kleine Geschäfte: einen Bäcker, einen Fleischer, einen Obst- und Gemüsehändler und einen Tante-Emma-Laden betraten sie an diesem späten Nachmittag. Es waren nicht viele Leute unterwegs, doch die meisten beäugten die Familie misstrauisch und unschlüssig mitleidig. Zumindest kam es Astrid und Bruno so vor und so antworteten sie mit sturem Blick. Mama, Papa und Gerda blieben indes unbeirrt höflich und gut gelaunt.
„Das meinen sie nicht so“, war Papa sicher. „In kleinen Orten sind die Bewohner gegenüber Neuen meistens etwas misstrauisch.“
„Das stimmt“, bestätigte Mama. „Denkt nur mal dran, wie Oma immer erzählt hat, als der alte Postbote bei ihr in Rente gegangen war und statt ihm immer so ein zotteliger Jungspund mit ausgelatschten Turnschuhen, der den Mund nicht aufkriegt auftauchte.“ Mama musste bei der Erinnerung lachen. „Sie hat manchmal mit Absicht nicht aufgemacht, weil er ihr komisch vorkam und mittlerweile findet sie ihn ganz reizend.“
„Das ist doch ‚was völlig anderes“, murrte Astrid und sah weiterhin grimmig in die fremden Gesichter zurück. Nur die Bäckersfrau lächelte aufgeschlossen, wünschte ihnen alles Gute und bis bald.
Vor dem Zubettgehen stellte Gerda einen Teller mit Keksen und eine Tasse warme Milch mit Honig ans obere Ende der Treppe. Dann schlüpfte sie in ihr kuscheliges, neues Nachthemd, putzte sich die Zähne und kletterte hinauf in ihr Bett. Unter ihr lag schon Bruno und las ein Buch über zeitreisende Ritter. Astrid durfte unten im Wohnzimmer noch etwas Fernsehen.
„Hach…“, machte das kleine Mädchen. Als ihr Bruder nicht nachfragte, seufzte sie noch einmal etwas schwerer.
„Herrje, Gerda. Was ist denn?“
„Ach lieb, dass du fragst, Bruno.“ Und ihr wuschelbrauner Haarschopf erschien über der Bettkante. „Ich frage mich, ob der Bullerlux meine Kekse mag. Die drei hab ich ganz allein gemacht! Ganz allein geknetet und ausgerollt und allein aufs Blech gelegt … und den Zuckerguss drauf gestrichen.“
„Fein, Gerda“, sagte Bruno, schon wieder in sein Buch vertieft. Gerda zog den Kopf wieder hoch und schmiss sich auf ihr Kopfkissen.
„Und die pinken Feen-Streusel drauf gestreuselt. Das sind meine Lieblingsstreusel! Weil sie rosa sind. Aber eigentlich schmecken sie genauso süß wie die bunten. Nur die mit Schoko schmecken anders, eben schokoladiger.“
„Aha“, machte Bruno.
„Auweia, Bruno!“, rief Gerda außer sich.
„Was ist los, Gerda?“
„Was mach ich denn, wenn die Milch schon kalt ist, wenn der Bullerlux kommt?!“
„Weiß nicht“, kam es dumpf von unten hervor. „Dann muss er sie eben kalt trinken.“
„Haha, die wird ja gar nicht so schnell kalt“, trällerte Gerda. „Ich hab sie in den Teernuss-Becher von Papa geschüttet.“
„Das heißt Thermos.“
„Ist doch egal, wie der heißt. Hauptsache, er hält die Milch schön warm.“
Eine Weile war Ruhe. Dann fiel Gerda noch etwas ein:
„Ob der Bullerlux eine Feen-Freundin hat?“
„Bestimmt, Gerda und jetzt schlaf endlich.“
„Du bist doch auch noch wach“, entgegnete Gerda trotzig.
„Ja, ich will auch eigentlich lesen, aber das kann ich nicht, wenn du die ganze Zeit plapperst!“ Wieder Stille. Dann:
„Entschuldigung. Dann spiel ich noch ganz, ganz mäuschenleise.“
Und das tat sie zu Brunos großer Verblüffung auch. Er las noch das Kapitel zu Ende und knippste dann seine Bettlampe aus. Gerade hatte er sich gemütlich hingewurschtelt, als er etwas hörte. Es war ein flüstern.
„Gerda? Schläfst du immer noch nicht?“, zischte er in die Dunkelheit hinein. Keine Antwort.
„Gerda?“ Ein Klingen, wie von einem Pferdeschlitten im Winter. Tsching, tsching, tsching. Bruno wurde unruhig. Er hatte nicht wirklich Angst, aber ganz wohl war ihm eben auch nicht. Kurzerhand knippste er das Licht wieder an und sah sich im Zimmer um. Nichts zu sehen. Und trotzdem traute er sich nicht den Fuß unter der Decke vorzustrecken. Mit angehaltenem Atem nahm er all seinen Mut zusammen und stand aus dem Bett auf. Auf Zehenspitzen lugte er über die obere Bettkante. Gerda schlief wirklich. Dann huschte Bruno hinüber zum Schreibtisch und schaltete die Lampe dort ein. Er wollte jetzt nicht im Dunkeln liegen, doch seine eigene Lampe war ihm zu hell. Erst als Astrid kam, konnte er endlich einschlafen.
Gerda wurde am nächsten Morgen durch ein Trommeln geweckt. Es war immer noch ziemlich dunkel. Barfuß lief sie zum Fenster und schmulte hinter die Vorhänge. Es regnete in Strömen. Schade. So gern hätte sie heute im Garten gespielt. Dann fielen ihr die Kekse wieder ein und sie huschte, so schnell und so leise wie sie konnte, hinaus zur Treppe. Und im nächsten Moment rannte sie aufgeregt zurück ins Zimmer und auf Brunos Bett zu.
„Bruno!“, rief sie im Flüsterton. „Bruno, Bruno, Bruno!“ Und ihre kleinen Hände rüttelten an der Bettdecke. Ihr großer Bruder drehte sich halb um und blickte sie aus zusammengekniffenen Augen finster an.
„Gerda, das ist doch nicht dein Ernst!“
„Aber die Kekse sind weg!“, zischte sie mit aufgerissenen Augen. „Und die Milch ist auch leer getrunken.“
„Großartig…“ Knurrend drehte Bruno sich wieder um. Astrid zu wecken traute sich Gerda dann aber nicht. Stattdessen kroch sie zu Mama und Papa ins Bett und erzählte. Und erzählte und erzählte bis Papa endlich aufstand und das Frühstück vorbereitete.
„Die hat Papa doch heimlich weggenascht“, behauptete Astrid später halblaut.
„Gar nicht wahr!“, wehrte sich Papa. „Ehrlich nicht. Als du gestern ins Bett bist, hatte ich schon längst Zähne geputzt und die Kekse standen doch noch dort, oder nicht?“
„Hast sie eben nochmal geputzt“, meinte Bruno.
„Oder auch nicht und bist mit Krümelzähnen ins Bett“, scherzte Mama.
„Papperlapapp! Zähne putzen ist sehr wichtig. Vor dem Schlafen, nach dem Essen …“
„Zähne putzen nicht vergessen“, beendete Gerda den Satz mit besserwisserischem Grinsen und bis in ihr Marmeladenbrot.
„Ganz genau“, sagte Mama stolz.
„Das beweist doch gar nichts“, maulte Astrid wieder.
„Na gut“, räumte Gerda ein. „Wenn es der Bullerlux nicht war, dann waren es Heinzelmännchen.“
„Du bist schon so ein Heinzelmännchen…“
„Ich will nochmal Kekse hinstellen! Dann werdet ihrs ja seh’n!“
„Na klar, stellen wir wieder welche hin“, sagte Mama. „Aber die restlichen verteilen wir an die Nachbarn, als Begrüßungsgeschenk.“
Astrid verdrehte die Augen.
„Muss ich da mitkommen?“
„Nein, musst du nicht“, beschwichtigte Mama sie sofort. „Du gehst bitte zur Post. Als wir gestern unterwegs waren, stand der Postbote vor verschlossenen Türen.“
„Ok.“
„Super. Bruno, du gehst am besten mit. Es ist sicher ein Paket von Oma und die glaubt ja, hier gäbe es nichts.“
„Stimmt ja auch“, meinte Astrid.
„Ach, Mausezahn...“
„Ich würde aber lieber Papa helfen“, sagte Bruno.
„Schon ok, bleib mal hier“, wandte sich Astrid an ihn. „Ich nehm‘ einfach den Bollerwagen.“
Und so zog Astrid am Vormittag los, hinter sich den Bollerwagen herziehend. Eines der Räder quietschte fürchterlich, sodass sie froh war, ihren CD-Player und die neuen Kopfhörer mitgenommen zu haben. Deshalb bemerkte sie nicht, dass der Nachbarsjunge wieder gemeine Dinge über das Haus zu ihr hinüber über die Straße rief und auch nicht, wie eine adrett gekleidete Frau sie ansprach und sich erkundigte, ob denn in ihrem Haus alles in Ordnung sei.
Doch den wachsamen Blick einer älteren Dame, die plötzlich beim Schnüren eines Paketes innehielt, als Astrid die Post betrat, bemerkte sie trotz ihrer Kopfhörer und der lauten Musik. Sie nahm die Hörer ab, ließ sie aber um den Hals hängen, sodass die Musik blechern flüsternd daraus hervordrang. Selbstbewusst legte Astrid den Abholschein auf den Schaltertresen. Die Postbeamtin lächelte freundlich und händigte das Paket von Oma aus und half sogar beim Aufladen auf den Wagen.
Nur kurz nachdem Astrid die Post mit dem quietschenden Bollerwagen verlassen hatte, sprach ein Mädchen mit Pudelmütze und einem langen geflochtenen Zopf sie an. „Hey. Du bist die Neue oder?“ Astrid antwortete nicht und ging einfach weiter. Sie wollte nicht wieder hören, dass es in dem Haus spukte und sie wollte auch nicht, dass alle sie die Neue nannten und ihr feige Streiche spielten.
„Warte doch mal!“ Das Mädchen holte sie ein und lief nun neben ihr her.
„Du kommst sicher auf die Wilhelmsschule. Unser Lehrer hat etwas davon gesagt, dass nach den Ferien eine Neue in unsere Klasse kommt.“ Astrid schwieg immer noch und sah weiter geradeaus. Das andere Mädchen ließ sich davon gar nicht beeindrucken.
„Meine Eltern haben mich letztes Jahr auch hierher verschleppt. Und ich fand es sooo ätzend hier. Alles so klein und die Leute hier sind so weltfremd. Stell dir vor, die meisten kennen nicht einmal Geräuschgewitter.“ Als Astrid den Namen ihrer Lieblingsband hörte, schaute sie schließlich doch auf. Das Mädchen streckte ihr die Hand entgegen.
„Ich bin Kathrin. Ich wohne nur ein paar Häuser von euch.“ Dann ergriff sie prompt den einen Griff des Bollerwagens. „Ich helf‘ dir. Muss ja eh in dieselbe Richtung. Wenn du möchtest, können wir ja mal zusammen im alten Theater Billard spielen gehen. Da gibt’s auch gute Fassbrause und Musik und meistens ist wer da. Nur um Matthias solltest du immer einen Bogen machen. Der wohnt neben euch. Ein totaler Blödmann. Gerade zwölf geworden und hält sich für den Größten.“ Astrid antwortete zwar immer noch nicht, schaltete aber ihren Player aus.
„Im Theater probt auch die Schülerband. Sie nennen sich Die Jonesies, nach Tom Jones - und ich kenne die Jungs ganz gut. Mal was anderes, die gefallen dir bestimmt!“ Das war doch nicht zu fassen! Diese Kathrin quatschte sie ungefragt zu, redete ohne Punkt und Komma, atmete wahrscheinlich über ihre Haare und bildete sich ein, Astrid schon richtig gut zu kennen. Aber sie musste zugeben, dass es ganz interessant war, was sie hervorsprudelte.
„Magst du Volleyball? Ich spiele jeden Donnerstag in einer Hobbymannschaft, einfach so zum Spaß. Sind auch Erwachsene bei, aber alles ganz locker und entspannt, ohne Trainer und Wettkämpfe. Oh und du musst unbedingt mal ins Petite Chambreé und die heiße Schokolade probieren, die ist Weltklasse. “
„Aha.“
„Du hast Geschwister, oder?“
Kathrin redete ungefähr so viel wie Gerda. Und obwohl Astrid kaum etwas erwiderte, fühlte sie sich nach diesem Heimweg auf seltsame Weise wohler.
Als sie ihr Haus verließen und die Straße hinauf gingen, sahen die Kinder den Nachbarsjungen mit gehässiger Miene am Gartenzaun stehen. Vor den Erwachsenen wagte er scheinbar nicht, etwas zu sagen, doch er formte mit dem Mund das stumme Wort Spukhaus, deutete mit dem Daumen über seine Schulter und verzerrte das Gesicht zu einer schaurigen Grimasse.
Der Ort war leise und wirkte irgendwie vergessen. Die Straßen waren noch mit Kopfstein gepflastert und die Häuser hatten hölzerne Türen mit eingeschnitzten Mustern. Häufig rankte Efeu oder Wein die Hauswände hinauf und in den meisten Fenstern hingen gehäkelte Gardinen. Aus einem blickte ihnen eine graue Katze gleichgültig entgegen.
Es gab nur einen größeren Supermarkt, doch dafür viele kleine Geschäfte: einen Bäcker, einen Fleischer, einen Obst- und Gemüsehändler und einen Tante-Emma-Laden betraten sie an diesem späten Nachmittag. Es waren nicht viele Leute unterwegs, doch die meisten beäugten die Familie misstrauisch und unschlüssig mitleidig. Zumindest kam es Astrid und Bruno so vor und so antworteten sie mit sturem Blick. Mama, Papa und Gerda blieben indes unbeirrt höflich und gut gelaunt.
„Das meinen sie nicht so“, war Papa sicher. „In kleinen Orten sind die Bewohner gegenüber Neuen meistens etwas misstrauisch.“
„Das stimmt“, bestätigte Mama. „Denkt nur mal dran, wie Oma immer erzählt hat, als der alte Postbote bei ihr in Rente gegangen war und statt ihm immer so ein zotteliger Jungspund mit ausgelatschten Turnschuhen, der den Mund nicht aufkriegt auftauchte.“ Mama musste bei der Erinnerung lachen. „Sie hat manchmal mit Absicht nicht aufgemacht, weil er ihr komisch vorkam und mittlerweile findet sie ihn ganz reizend.“
„Das ist doch ‚was völlig anderes“, murrte Astrid und sah weiterhin grimmig in die fremden Gesichter zurück. Nur die Bäckersfrau lächelte aufgeschlossen, wünschte ihnen alles Gute und bis bald.
Vor dem Zubettgehen stellte Gerda einen Teller mit Keksen und eine Tasse warme Milch mit Honig ans obere Ende der Treppe. Dann schlüpfte sie in ihr kuscheliges, neues Nachthemd, putzte sich die Zähne und kletterte hinauf in ihr Bett. Unter ihr lag schon Bruno und las ein Buch über zeitreisende Ritter. Astrid durfte unten im Wohnzimmer noch etwas Fernsehen.
„Hach…“, machte das kleine Mädchen. Als ihr Bruder nicht nachfragte, seufzte sie noch einmal etwas schwerer.
„Herrje, Gerda. Was ist denn?“
„Ach lieb, dass du fragst, Bruno.“ Und ihr wuschelbrauner Haarschopf erschien über der Bettkante. „Ich frage mich, ob der Bullerlux meine Kekse mag. Die drei hab ich ganz allein gemacht! Ganz allein geknetet und ausgerollt und allein aufs Blech gelegt … und den Zuckerguss drauf gestrichen.“
„Fein, Gerda“, sagte Bruno, schon wieder in sein Buch vertieft. Gerda zog den Kopf wieder hoch und schmiss sich auf ihr Kopfkissen.
„Und die pinken Feen-Streusel drauf gestreuselt. Das sind meine Lieblingsstreusel! Weil sie rosa sind. Aber eigentlich schmecken sie genauso süß wie die bunten. Nur die mit Schoko schmecken anders, eben schokoladiger.“
„Aha“, machte Bruno.
„Auweia, Bruno!“, rief Gerda außer sich.
„Was ist los, Gerda?“
„Was mach ich denn, wenn die Milch schon kalt ist, wenn der Bullerlux kommt?!“
„Weiß nicht“, kam es dumpf von unten hervor. „Dann muss er sie eben kalt trinken.“
„Haha, die wird ja gar nicht so schnell kalt“, trällerte Gerda. „Ich hab sie in den Teernuss-Becher von Papa geschüttet.“
„Das heißt Thermos.“
„Ist doch egal, wie der heißt. Hauptsache, er hält die Milch schön warm.“
Eine Weile war Ruhe. Dann fiel Gerda noch etwas ein:
„Ob der Bullerlux eine Feen-Freundin hat?“
„Bestimmt, Gerda und jetzt schlaf endlich.“
„Du bist doch auch noch wach“, entgegnete Gerda trotzig.
„Ja, ich will auch eigentlich lesen, aber das kann ich nicht, wenn du die ganze Zeit plapperst!“ Wieder Stille. Dann:
„Entschuldigung. Dann spiel ich noch ganz, ganz mäuschenleise.“
Und das tat sie zu Brunos großer Verblüffung auch. Er las noch das Kapitel zu Ende und knippste dann seine Bettlampe aus. Gerade hatte er sich gemütlich hingewurschtelt, als er etwas hörte. Es war ein flüstern.
„Gerda? Schläfst du immer noch nicht?“, zischte er in die Dunkelheit hinein. Keine Antwort.
„Gerda?“ Ein Klingen, wie von einem Pferdeschlitten im Winter. Tsching, tsching, tsching. Bruno wurde unruhig. Er hatte nicht wirklich Angst, aber ganz wohl war ihm eben auch nicht. Kurzerhand knippste er das Licht wieder an und sah sich im Zimmer um. Nichts zu sehen. Und trotzdem traute er sich nicht den Fuß unter der Decke vorzustrecken. Mit angehaltenem Atem nahm er all seinen Mut zusammen und stand aus dem Bett auf. Auf Zehenspitzen lugte er über die obere Bettkante. Gerda schlief wirklich. Dann huschte Bruno hinüber zum Schreibtisch und schaltete die Lampe dort ein. Er wollte jetzt nicht im Dunkeln liegen, doch seine eigene Lampe war ihm zu hell. Erst als Astrid kam, konnte er endlich einschlafen.
Gerda wurde am nächsten Morgen durch ein Trommeln geweckt. Es war immer noch ziemlich dunkel. Barfuß lief sie zum Fenster und schmulte hinter die Vorhänge. Es regnete in Strömen. Schade. So gern hätte sie heute im Garten gespielt. Dann fielen ihr die Kekse wieder ein und sie huschte, so schnell und so leise wie sie konnte, hinaus zur Treppe. Und im nächsten Moment rannte sie aufgeregt zurück ins Zimmer und auf Brunos Bett zu.
„Bruno!“, rief sie im Flüsterton. „Bruno, Bruno, Bruno!“ Und ihre kleinen Hände rüttelten an der Bettdecke. Ihr großer Bruder drehte sich halb um und blickte sie aus zusammengekniffenen Augen finster an.
„Gerda, das ist doch nicht dein Ernst!“
„Aber die Kekse sind weg!“, zischte sie mit aufgerissenen Augen. „Und die Milch ist auch leer getrunken.“
„Großartig…“ Knurrend drehte Bruno sich wieder um. Astrid zu wecken traute sich Gerda dann aber nicht. Stattdessen kroch sie zu Mama und Papa ins Bett und erzählte. Und erzählte und erzählte bis Papa endlich aufstand und das Frühstück vorbereitete.
„Die hat Papa doch heimlich weggenascht“, behauptete Astrid später halblaut.
„Gar nicht wahr!“, wehrte sich Papa. „Ehrlich nicht. Als du gestern ins Bett bist, hatte ich schon längst Zähne geputzt und die Kekse standen doch noch dort, oder nicht?“
„Hast sie eben nochmal geputzt“, meinte Bruno.
„Oder auch nicht und bist mit Krümelzähnen ins Bett“, scherzte Mama.
„Papperlapapp! Zähne putzen ist sehr wichtig. Vor dem Schlafen, nach dem Essen …“
„Zähne putzen nicht vergessen“, beendete Gerda den Satz mit besserwisserischem Grinsen und bis in ihr Marmeladenbrot.
„Ganz genau“, sagte Mama stolz.
„Das beweist doch gar nichts“, maulte Astrid wieder.
„Na gut“, räumte Gerda ein. „Wenn es der Bullerlux nicht war, dann waren es Heinzelmännchen.“
„Du bist schon so ein Heinzelmännchen…“
„Ich will nochmal Kekse hinstellen! Dann werdet ihrs ja seh’n!“
„Na klar, stellen wir wieder welche hin“, sagte Mama. „Aber die restlichen verteilen wir an die Nachbarn, als Begrüßungsgeschenk.“
Astrid verdrehte die Augen.
„Muss ich da mitkommen?“
„Nein, musst du nicht“, beschwichtigte Mama sie sofort. „Du gehst bitte zur Post. Als wir gestern unterwegs waren, stand der Postbote vor verschlossenen Türen.“
„Ok.“
„Super. Bruno, du gehst am besten mit. Es ist sicher ein Paket von Oma und die glaubt ja, hier gäbe es nichts.“
„Stimmt ja auch“, meinte Astrid.
„Ach, Mausezahn...“
„Ich würde aber lieber Papa helfen“, sagte Bruno.
„Schon ok, bleib mal hier“, wandte sich Astrid an ihn. „Ich nehm‘ einfach den Bollerwagen.“
Und so zog Astrid am Vormittag los, hinter sich den Bollerwagen herziehend. Eines der Räder quietschte fürchterlich, sodass sie froh war, ihren CD-Player und die neuen Kopfhörer mitgenommen zu haben. Deshalb bemerkte sie nicht, dass der Nachbarsjunge wieder gemeine Dinge über das Haus zu ihr hinüber über die Straße rief und auch nicht, wie eine adrett gekleidete Frau sie ansprach und sich erkundigte, ob denn in ihrem Haus alles in Ordnung sei.
Doch den wachsamen Blick einer älteren Dame, die plötzlich beim Schnüren eines Paketes innehielt, als Astrid die Post betrat, bemerkte sie trotz ihrer Kopfhörer und der lauten Musik. Sie nahm die Hörer ab, ließ sie aber um den Hals hängen, sodass die Musik blechern flüsternd daraus hervordrang. Selbstbewusst legte Astrid den Abholschein auf den Schaltertresen. Die Postbeamtin lächelte freundlich und händigte das Paket von Oma aus und half sogar beim Aufladen auf den Wagen.
Nur kurz nachdem Astrid die Post mit dem quietschenden Bollerwagen verlassen hatte, sprach ein Mädchen mit Pudelmütze und einem langen geflochtenen Zopf sie an. „Hey. Du bist die Neue oder?“ Astrid antwortete nicht und ging einfach weiter. Sie wollte nicht wieder hören, dass es in dem Haus spukte und sie wollte auch nicht, dass alle sie die Neue nannten und ihr feige Streiche spielten.
„Warte doch mal!“ Das Mädchen holte sie ein und lief nun neben ihr her.
„Du kommst sicher auf die Wilhelmsschule. Unser Lehrer hat etwas davon gesagt, dass nach den Ferien eine Neue in unsere Klasse kommt.“ Astrid schwieg immer noch und sah weiter geradeaus. Das andere Mädchen ließ sich davon gar nicht beeindrucken.
„Meine Eltern haben mich letztes Jahr auch hierher verschleppt. Und ich fand es sooo ätzend hier. Alles so klein und die Leute hier sind so weltfremd. Stell dir vor, die meisten kennen nicht einmal Geräuschgewitter.“ Als Astrid den Namen ihrer Lieblingsband hörte, schaute sie schließlich doch auf. Das Mädchen streckte ihr die Hand entgegen.
„Ich bin Kathrin. Ich wohne nur ein paar Häuser von euch.“ Dann ergriff sie prompt den einen Griff des Bollerwagens. „Ich helf‘ dir. Muss ja eh in dieselbe Richtung. Wenn du möchtest, können wir ja mal zusammen im alten Theater Billard spielen gehen. Da gibt’s auch gute Fassbrause und Musik und meistens ist wer da. Nur um Matthias solltest du immer einen Bogen machen. Der wohnt neben euch. Ein totaler Blödmann. Gerade zwölf geworden und hält sich für den Größten.“ Astrid antwortete zwar immer noch nicht, schaltete aber ihren Player aus.
„Im Theater probt auch die Schülerband. Sie nennen sich Die Jonesies, nach Tom Jones - und ich kenne die Jungs ganz gut. Mal was anderes, die gefallen dir bestimmt!“ Das war doch nicht zu fassen! Diese Kathrin quatschte sie ungefragt zu, redete ohne Punkt und Komma, atmete wahrscheinlich über ihre Haare und bildete sich ein, Astrid schon richtig gut zu kennen. Aber sie musste zugeben, dass es ganz interessant war, was sie hervorsprudelte.
„Magst du Volleyball? Ich spiele jeden Donnerstag in einer Hobbymannschaft, einfach so zum Spaß. Sind auch Erwachsene bei, aber alles ganz locker und entspannt, ohne Trainer und Wettkämpfe. Oh und du musst unbedingt mal ins Petite Chambreé und die heiße Schokolade probieren, die ist Weltklasse. “
„Aha.“
„Du hast Geschwister, oder?“
Kathrin redete ungefähr so viel wie Gerda. Und obwohl Astrid kaum etwas erwiderte, fühlte sie sich nach diesem Heimweg auf seltsame Weise wohler.