Der Bullerlux 7

An diesem Morgen musste sich Gerda beim Frühstück mächtig zusammenreißen, um nicht alles auszuplaudern, was der Nachtling ihnen in der letzten Nacht erzählt hatte. Ja, dass er überhaupt dagewesen war. Immerzu kniff Bruno ihr ins Bein, wenn ihr gerade etwas aus dem Mund purzeln wollte. Und jedes Mal sah er sie dann mit hochgezogenen Augenbrauen und großen, vielsagenden Augen an. Beim Abräumen beugte Gerda sich ganz dicht zu Bruno und fragte flüsternd:
„Aber Papa kann ich doch davon erzählen. Er kennt doch den Bullerlux.“
„Gerda, der Nachtling hat gesagt, wir sollen nichts sagen. Es ist unser Geheimnis.“
„Hach, na gut …“

Auch an diesem Tag gab es noch einige Handgriffe zu tun. Die Mädchen halfen Mama die schönsten Familienfotos auszusuchen. Mama hatte neue Bilderrahmen besorgt und schon einmal eine Packung Nägel und einen Hammer beiseitegelegt. Astrid und Gerda duften bestimmen, welche Fotos zusammen eingerahmt werden sollten. So hatte Mama Zeit, den Teig für die Pizza vorzubereiten, die es zum Mittag geben sollte.
Indessen hatten sich Papa und Bruno in ihre Windjacken und die dicken, warmen, selbstgestrickten Schals von Oma gemummelt. Da es im Haus vorerst nichts mehr zu tun gab, wollten die beiden den Schuppen und den ehemaligen Hühnerstall entrümpeln. Sicherlich würden sie auch einiges an ihnen ausbessern müssen, deshalb nahm Papa seinen Werkzeugkoffer mit und Bruno durfte sogar die Säge und die Wasserwaage tragen.
„So, mein kleiner Baumeister“, begann Papa, als sie die Schuppen erreichten. „Am besten, wir teilen uns die Arbeit auf. Bist du einverstanden, wenn du das Gerümpel heraus stellst?“ Bruno nickte eifrig. Er war neugierig, was er alles finden würde.
„Wenn noch etwas Nützliches dabei ist, behalten wir es. Alles andere, wandert auf den Sperrmüll. Ich verschaffe mir inzwischen einen Überblick, was wir für die Reparatur brauchen.“
Während Papa von außen die Fenster und Wände und auch das Dach begutachtete, betrat Bruno den Schuppen. Es roch muffig und der kleine Raum war bis in die letzte Ecke vollgestellt mit allem, was man sich nur denken konnte. In einem hohen Regal waren massenhaft Farbeimer und Lacke gestapelt, sodass sich die Bretter bereits durchbogen. Davor lehnten eine alte Tür mit zerbrochenem Glasfenster und etliche Spanplatten. In einer verrosteten Zinnwanne sah Bruno drei Räder, vermutlich von einem Fahrrad. Daneben stand eine Schubkarre mit plattem Reifen und beladen mit losen Metallteilen jeglicher Art. Drüben stand eine Werkbank. An der Wand hing ein dickes, aufgerolltes Seil.
Eifrig trug Bruno alles nach einander hinaus und fand noch einen alten Rasenmäher, einen Autoreifen, mehrere Zaunlatten, sowie Schaufeln, Harken, Blumentöpfe und einen Haufen Pflastersteine. Nun waren es nur noch ein paar Kleinigkeiten und drei große Farbeimer, die für Bruni einfach zu schwer waren.
Er war gerade dabei, eine Kiste zu füllen, um mehr auf einmal hinausschaffen zu können, als er ein vertrautes Geräusch hörte. Tsching, tsching, tsching. Nanu? Suchend sah Bruno sich um. Das war doch der Nachtling gewesen! Dasselbe Geräusch hatten er und Gerda nachts auch gehört, kurz bevor er aufgetaucht war. Doch nirgends konnte er den kleinen Fuchs erblicken. Dann stieg eine Staubwolke vom Boden auf, sodass Bruno erst recht nichts mehr erkennen und konnte und einen Augenblick später tat es plötzlich einen lauten Knall und eine Hand voll Blechstangen, die sich noch in einer Ecke versteckt hatten, kollerte tief brummend über die grauen Holzdielen.
„Hihihi …“ Ein Kichern drang zwischen den dunklen Ritzen hervor.
„Bruno!“ Papa erschien ganz aufgeregt in der Tür. „Bruno, ist alles in Ordnung bei dir? Ist dir was passiert?“
„Alles gut, Papa“, sagte Bruno schnell. „Mir sind bloß die Stangen umgekippt.“ Papa sah sich im Schuppen um.
„Da hast du ja schon ganz gut geschafft. Super! Wenn du soweit bist, kannst du mir draußen mit den Brettern helfen.“
Als Papa gegangen war, entfuhr Bruno ein ärgerlicher Fluch: „Mensch, du kannst doch hier nicht so einen Rabatz machen“, zischte er zu der Diele hinunter, unter der er zuvor das Kichern vernommen hatte.
„Ach, jetzt sei nicht so“, antwortete die Stimme des Nachtlings unerwartet hinter ihm. „Ist doch nichts dabei. Ein bisschen Krach ist gesund und macht Spaß.“ Und im nächsten Augenblick hüpfte ein kleiner schwarzer Fuchs auf die Werkbank, zog die Schubkästen auf und schmiss heraus, was darin schlummerte. Kreuz und quer rieselten rostige Nägel auf den Boden und ölige Lappen flogen wild durch die Luft.
„Hey, was soll denn das? Ich brauche doch ewig, wenn du alles verteilst“, beschwerte sich Bruno. Der Nachtling ächzte und seine Ohren lugten aus einer Lade hervor.
„Manchmal muss man eben ordentlich Unordnung machen, damit es sich lohnt.“
„Wie bitte?“
„Schau her, kleiner Menschenjunge/Rohrspatz“, erwiderte der Nachtling und dabei leuchteten seine Augen wie Glühwürmchen. Dann hob er einen schmutzigen Stoffbeutel aus der Lade und kippte ihn aus. Bruno wollte schon wieder schimpfen, aber da sah er, dass es lauter bunte, glänzende Murmeln waren, die da auf dem Boden kullerten und sich in alle Richtungen davonstahlen. Eilig sammelte er sie ein, jede einzelne. Sie passten haargenau in seine Murmelbahn! Eine gefiel ihm besonders gut. Sie war ganz durchscheinend und orange, wie aus Bernstein.
„Siehst du?“, erklang wieder die Stimme des Fuchses. „Mit ein wenig ordentlicher Unordnung lassen sich die schillerndsten Schätze finden.“ Und dann blies er sich kräftig über die offene Handfläche und ein Wind kam auf, wie bei einem Sturm. Er wirbelte wild im Raum umher und erfasste allen Staub darin. Bruno musste sich die Arme vor das Gesicht halten, um nicht von einer herumfliegenden Schraube getroffen zu werden. Der Wind ließ nach und er blickte sich scheu um. Die Stangen und der Kleinkram aus den Schubladen, der Staub in allen Ecken und die Spinnenweben waren verschwunden. Bruno staunte. Wieder im Freien entdeckte er die Stangen auf dem aussortierten Haufen wieder. Er musste grinsen, steckte hastig den Beutel mit den Murmeln in seine Jackentasche und lief los, um Papa zu helfen.
Im Haus hatten Astrid und Gerda die ausgesuchten Fotos eingerahmt und sich ganz genau überlegt, wo welches Bild hängen sollte. Astrid hatte schon einige Nägel in die Wand geschlagen und Mama hob Gerda auf den Arm, damit sie die Bilder aufhängen konnte.
„Jetzt das von Oma und Opa“, entschied Gerda. „Und dorthin kommen dann die Pottrehe.“
„Die heißen Portraits“, korrigierte Astrid von der Treppe aus.
„Mir doch egal, ich sage eben Pottrehe. Portraits … was ist das denn überhaupt für ein Wort? Das klingt ja nach gar nichts. Pottrehe ist wenigstens ein richtiges Wort.“
„Ja, und was für eins …“, seufzte Astrid, konnte sich ein leises Lachen aber nicht verkneifen. „So, hier bin ich auch fertig. Die Treppe entlang wollen wir die Urlaubs-Familienbilder aufhängen.“
„Das ist eine wunderbare Idee“, strahlte Mama und wandte sich zu dem Stapel aus Bilderrahmen um. „Nanu?“ Ihr Blick war auf das Bild von Oma und Opa gefallen, das Gerda eben esrt neben den Ofen gehängt hatte. Jetzt hing es komplett schräg an seinem Nagel. Sie richtete es wieder und schaute dann in der Küche nach der Pizza. Es roch schon sehr lecker.
„Ich freu mich schon total auf die Pizza“, meinte Astrid zu Gerda.
„Ich auch! Vor allem, weil wir die Reste heute Abend vor dem Fernseher essen dürfen“, und bei dem Gedanken kicherte sie freudig. Astrid stand noch auf der obersten Stufe, sammelte einige überzählige Nägel ein und stieg dann hinunter. Mit ihr, an der Wand entlang, hüpfte ein kleiner schwarzer Fuchs von Rahmen zu Rahmen, die allesamt zu einer Seite kippten und nun schief an der Wand hingen. Gerda kicherte wieder und hielt sich die Hand vor den Mund, denn sie durfte ja nicht über den Nachtling sprechen.
„Gera, du bist ganz schön albern“, sagte Astrid als sie unten angekommen war. Dann drehte sie sich noch einmal um, um ihr Werk zu begutachten.
„Was …“ Mehr brachte sie vor Überraschung nicht heraus. Der Nachtling war vom letzten Bilderrahmen hinüber auf das Geländer gehüpft und saß nun mit baumelnden Beinen auf der großen Holzkugel am unteren Ende.
„Eben hingen sie doch noch gerade.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen lief Astrid die Treppe wieder hinauf und richtete jeden einzelnen Rahmen. Hinter ihrem Rücken tanzte der kleine Fuchs abermals an der Wand entlang und wieder kippten die Rahmen zur Seite. Gerda fand das Spiel das Nachtlings lustig. Vor allem, weil sie ihn ja bei seinem Schabernack beobachten konnte, während Astrid die Welt nicht mehr verstand. Gerda sagt aber nichts, denn das durfte sie ja nicht.
Dann setzte sich der Kobold geradewegs auf den Rahmen, den Astrid noch in Händen hielt. Das Mädchen blinzelte. Für sie saß dort kein Fuchs. Sie hatte nur einen Schatten gesehen. Das glaubte sie zumindest, aber ganz sicher war sie sich auch nicht. Sie ließ das Bild los und sah sich um. Und dann, ganz plötzlich, hörte sie ein Kichern! Nicht das piepsige Kichern ihrer kleinen Schwester, sondern ein raschelndes, krispelndes Kichern. Krispelnd? Dieses Wort war Astrid eben in den Sinn gekommen, aber war es überhaupt ein Wort? Mit zusammengekniffenen Augen musterte Astrid noch einmal das letzte Bild. Ganz langsam ließ sie es los und konnte förmlich zusehen, wie es unter dem unsichtbaren Fuchspopo wieder auf die Seite kippte. Entgeistert sah sie die Fotoreihe entlang.
„Das gibt es doch nicht“, entfuhr es ihr fade, doch bevor sie sich den Kopf darüber zerbrechen konnte, was vor sich ging, wurde sie von Mama aus ihrer Fassungslosigkeit herausgerissen.
„Mädels, die Pizza ist fertig!“, verkündete Mamas Stimme aus der Küche.
„Juhuuuu!“, rief Gerda. Ihr langgezogener Ruf verklang auf ihrem Weg in die Küche. Astrid gönnte den Bildern noch einen letzten misstrauischen Blick. Dass der Nachtling ihr frech zuwinkte, sah sie aber nicht. Dann polterten Papa und Bruno herein und sie setzten sich alle an den Esstisch. Nach dem Mittagessen fand Astrid die Fotos allesamt schön ordentlich und gerade an ihren Nägeln vor.
 



 
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