Der Detektiv

Heinrich VII

Mitglied
Es schneite an dem Tag. Harry Reinhardt zog den Hut tiefer ins Gesicht und knöpfte seinen Mantel zu. Die Zigarette im Mundwinkel bekam unterwegs immer mehr Schneeflocken ab, weichte durch und ging schließlich aus. Harry spuckte sie auf die Straße. Austreten erübrigte sich bei diesem Wetter. Als er die nächste Querstraße erreicht hatte, bog er nach links ab. Die Straßenbahn fuhr gerade vorbei. Er musste stehen bleiben und sah den vorbei rasenden Waggons zu. Haarscharf hinter dem letzten ging er rüber. Zum Glück waren nicht so viele Menschen unterwegs, kein Gedränge auf der Straße. Harry legte einen Zahn zu. Er hatte seine Schuhe mit Profil angezogen. Nicht die Stiefeletten, die er gewöhnlich trug; in dem Fall wäre es eine Rutschpartie geworden.
Von weitem konnte er den leer gefegten Platz und die Reihe von Garagen ausmachen, zu denen er bestellt worden war. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, den Platz von Schnee zu räumen. Das war gut. Als Harry näher kam, blickte er sich um. Lucki war nirgends zu sehen, dieser Idiot. Kam sich vor wie ein richtiger Gangster. Träumte von Lucky Luciano in New York und solchen Leuten. Nur, dass die Grips und Talent bewiesen hatten, während Lucki nur ein Idiot war, der ein paar Schläger bezahlte, die seine Drecksarbeit erledigten. Mehrere Miezen sollte er laufen haben, wie es hieß, in schäbigen Bordellen oder auf der Straße. Hin und wieder kaufte er ein kleines Kontingent an Drogen und vertickte sie oder er kassierte Schutzgeld in örtlichen Restaurants und Kneipen.
„Erfreulich“, tönte es unvermutet hinter Harry, „du bist gekommen.“
Harry drehte sich um und sah in Luckis Spiegelbrille, mitten im Winter. Damit nicht genug. Sein Gegenüber trug einen Anzug, mit einem grasgrünen Jackett, das einem Augenkrebs bereitete. Links und rechts standen die stummen Gorillas, deren aufmerksame Blicke auf Harry gerichtet waren. Überraschen kann der Kerl einen nicht, dachte Harry, immer dieselben scheiß Klamotten und dieselben scheiß Idioten um ihn rum.
„Willst du zum Fasching mit diesem grünen Ding?“, fragte Harry und wischte Lucki das dämliche Grinsen aus dem Gesicht.
Der Angesprochene schluckte: „Du bist nicht in der Lage blöde Witze zu reißen.“
Harry nickte. „Kommen wir also zur Sache.“
Lucki trat auf ihn zu, bis er direkt vor ihm stand. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als wollten sie sich das Du anbieten. Eine scharfe Falte war zwischen seinen Augen, tiefer als ein Schützengraben im Ersten Weltkrieg. Die beiden Gorillas machten den Schritt mit, so dass sie sich gleich wieder links und rechts neben Lucki postiert waren.
„Hast du das Zeug?“
Harry zögerte: „Wo ist sie?“
Lucki zückte ein Handy, drückte darauf herum und reichte es ihm. Harry bekam einen Film zu sehen. Ein Kellerloch, in dem Samantha auf einen Stuhl gefesselt war.
Dann eine Hand, die ihr den Knebel raus nahm, damit sie sprechen konnte.
„Die machen mich alle, Harrylein, wenn du ihnen das Zeug nicht besorgst.“
An der Stelle brach der Film ab, man sah nur noch weißes Flimmern und hörte das Band rauschen.
Harry gab das Handy zurück: „Steckt sie immer noch in diesem Drecksloch?“
„Wenn du mir das Zeug aushändigst, kann sie binnen kurzem frei sein.“
„Und wer garantiert mir, dass du Sammy nicht trotzdem in diesem Keller vermodern lässt?“
Lucki baute sich vor ihm auf: „ICH garantiere das.“
Einer Klapperschlange, die mich gerade beißen will, dachte Harry, oder einem Alligator, der mich beim Schwimmen mit seinem Gebiss bekannt machen will,
würde ich gewiss mehr trauen.
Harry griff in die Innentasche seines Mantels und wollte ein Päckchen hervor holen. Die beiden Gorillas zogen im gleichen Moment ihre Waffen und richteten sie auf Harry.
„Will dir nur das Päckchen geben.“
„In Ordnung“, sagte Lucki, „meine Jungs sind halt auf Draht.“
Die beiden steckten die Pistolen weg. Harry zog ein in Folie gewickeltes Päckchen aus der Innentasche und übergab es Lucki. Der gab es an einen seiner Gorillas weiter, der damit sofort zum Auto marschierte.
„Wir testen das Zeug und wiegen es. Wenn alles so ist, wie es war, kannst du deine Prinzessin bald in Empfang nehmen.“
Harry nickte. Samantha war nicht seine Freundin – aber es bahnte sich etwas zwischen ihnen an. Sie war in sein unaufgeräumtes Büro herein geschneit,
um seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Besser gesagt, das Päckchen zu übergeben, das sie ihrem Bruder mit Mühe abgetrotzt hatte.
So hatten sie sich kennen gelernt. Und so hatten sie sich ineinander verliebt.

Der Gorilla ließ sich Zeit. Harry sah mehrmals zum Auto hin, in dem der Kerl saß. Es stand aber zu weit weg, um Details zu erkennen.
Harry rieb die Hände aneinander, hauchte sie an und rieb sie wieder. Dann trippelte er im Stand, um auch die Beine und Füße etwas wärmer zu kriegen.
„Wo bleibt denn dein Riesenbaby? Man friert sich hier langsam den Arsch ab.“
Lucki grinste. Er zog eine Zigarette aus der Schachtel und hielt sie Harry hin.
„Hier nimm – hält dich zumindest innen warm.“
Harry lehnte ab.
„Rauchst du nicht mehr oder nimmst du keine von mir?“
„Rauche nicht mehr“ log Harry.

Eine endlose Weile später waren sie zu viert auf dem Weg. Lucki hatte Harry aufgefordert seinen Wagen zu lenken, nachdem die Ware positiv getestet war.
Er selbst konnte, wie er meinte, so besser die Übersicht behalten. Die beiden Gorillas nahmen auf der Rückbank Platz. Sie ließen das Industriegebiet hinter sich und fuhren stadtauswärts.
„Erst mal nur gerade aus“, erklärte Lucki, „ich sag dir dann wie´s weiter geht.“
„Hat es Samantha warm, oder friert sich sich irgendwo den Arsch ab?“
Lucki lachte. Sie ist in einem Haus mit funktionierender Heizung, keine Sorge.“
Sie waren bereits einen Arsch voll Kilometer gefahren, als Lucki die Anweisung gab, in einen Feldweg ab zu biegen. Harry bog ab und fuhr den Weg entlang,
der nach oben in Richtung eines Waldes führte. Als sie eine Weile gefahren waren, sagte Lucki: „Halt an! Ich fahr´ jetzt selbst.“
Harry sah ihn verdutzt an, bremste aber und stoppte den Wagen.
„Brauchst du jetzt keinen Überblick mehr?“
Lucki grinste. „Ab hier tatsächlich nicht mehr.“
Lucki gab einem seiner Gorillas ein Zeichen. Der hielt Harry , der inzwischen auf den Beifahrersitz gewechselt hatte, von hinten fest, nahm eine Augenbinde
und wollte sie ihm anlegen.
„Was soll ´n das?“, protestierte Harry und entzog sich dem Griff, indem er mit dem Oberkörper nach vorne schnellte. Der Gorilla sah seinen Boss fragend an.
„Es ist nötig“, sagte Lucki., „also mach keinen Ärger.“
Als Harry nun blind neben Lucki saß, der jetzt den Wagen lenkte, gingen ihm ungute Gedanken durch den Kopf. Die fahren mich nicht zu Sammy. Sie fahren da oben in den Wald, zerren mich aus der Karre, verpassen mir eine blaue Bohne und verscharren mich. Sammy ist vielleicht längst tot und die ganze Aktion nichts als eine Farce mit Todesfolge.
Der Feldweg wurde stetig schlechter und steiler.
Das konnte kaum der Weg zu Luckis Wochenendhaus sein. Oder doch? Aber, wenn nein, warum verbinden sie mir die Augen? Damit ich etwas nicht sehen kann,
auf das wir gar nicht zu steuern?
Der Wagen stoppte endlich. Einer der Gorillas bemühte sich zur Beifahrertür, öffnete sie und zerrte Harry unsanft heraus.
„Wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang“, sagte Lucki, „und du lässt die Augenbinde da wo sie ist.“

Unter Harrys Schuhsohlen knirschte der Schnee. Es musste noch mehr geschneit haben – oder hier oben lag einfach mehr. Der Gorilla trieb ihn mit regelmäßigen Stößen vor sich her. Niemand redete. Harry wog seine Chance ab, die Binde runter zu reißen, dem Gorilla eine zu verpassen und anschließend zu türmen. Selbst wenn er das schaffte, was ein Wunder gewesen wäre, würden sie ihn auf der Flucht erschießen. Und Sammy? – sie würde vermutlich in diesem Kellerloch verrotten. Warum sollten die sich noch die Mühe machen, sie frei zu lassen, wenn ich über dem Jordan war?
Sie liefen weiter, Harry unternahm nichts. Da war keine Trumpfkarte mehr, die er hätte ausspielen können. Vielleicht gerade noch Zeit für ein letztes Stoßgebet. Er fühlte wie seine Haare und sein Gesicht nass wurden. Es musste erneut angefangen haben zu schneien. In der Aussichtslosigkeit seiner Situation machte er den Mund auf und schnappte nach den Flocken, die herunter kamen. Sie schmeckten gut – vielleicht seine letzte Speise auf Erden.
„Hast es gleich hinter dir“, sagte Lucki.
Und dann: „Vorsicht Treppe!“
Ein Gorilla stütze ihn, als sie tatsächlich eine Treppe hinunter gingen. Als sie unten an kamen, sagte Lucki:
„Du bleibst jetzt so stehen und zählst bis hundert. Dann erst nimmst du die Binde ab.“
„Wo sind wir – ist Sammy hier gefangen?“
Lucki kam ganz nahe an sein Ohr: „Sie und ihr Bruder, wie du weißt, haben mir das Zeug gestohlen. Das kann ich nicht einfach so auf mir sitzen lassen.
Eigentlich müsste ich den beiden das Licht ausblasen. Aber es hat sich ja anderes ergeben, wie du noch merken wirst. Also beschwere dich nicht über die geringe Strafe. Du wirst sie bestimmt finden, bist doch ein Detektiv. Danach müsst ihr das Stück zurück laufen bis zur Landstraße. Taxis kommen hier nicht.“

Harry hörte wie die drei Männer die Stufen hinauf gingen. Sicherheitshalber ließ er die Augenbinde auf und zählte bis hundert. Dann riss er sich den Lappen von den Augen und sah so viel wie vorher. Nichts. Es war stockdunkel um ihn. Neben sich ertastete er eine Wand. Mit der Hand hielt er Kontakt zu ihr und wagte vorsichtig ein paar zögerliche Schritte nach vorne. Bis sein Fuß gegen etwas stieß. Er blieb stehen, ging in die Hocke und tastete den Boden ab. Fand aber nichts. Vielleicht hatte er das Ding ein Stück nach vorne gekickt. Er stand wieder auf, presste die Handfläche auf die Wand und tastete sich vorsichtig einen Schritt weiter voran. Er ging in die Hocke und tastete den Boden nochmal ab; bekam etwas metallisches zu fassen. Ergriff und erkannte es und machte die Taschenlampe an. Ein Lichtstrahl erhellte das Kellergewölbe. Harry musste nach all der Dunkelheit für einen Moment die Augen schließen. Unglaublich: Lucki hatte ihm wenigstens eine Leuchte da gelassen.

Ratten huschten vorbei, als er mit dem hellen Strahl den Gang erkundete. Es roch nach Moder, Spinnweben an den Wänden. Aber es war deutlich wärmer als draußen. Harry dachte an Sammy. Wie alt der Handy-Film wohl war, den Lucki ihm gezeigt hatte? Vielleicht war sie bereits tot. Vielleicht taten die Ratten sich gerade an ihrem Kadaver gütlich. Harry drückte eine Tür auf, auf die er gestoßen war. Er leuchtete in den Raum, doch da war nichts außer Gerümpel und muffigem Geruch. Ein paar Kisten mit Kartoffeln standen an einer Wand. Er sah sie sich näher an. Augen, so lang wie eine Pipeline und ganz verschrumpelt.
Er stieß noch zwei weitere Türen im Gang auf, fand aber nichts. Wieder draußen auf dem Gang, meinte er ein Geräusch gehört zu haben. Er folgte der Richtung aus der es vermeintlich gekommen war. Am Ende des Ganges befand sich eine weitere Tür. Er wollte sie, wie die anderen, aufdrücken, aber sie war verschlossen. Also hämmerte er mit der Faust dagegen: „Sammy – bist du da drin?“
Es kam keine Antwort. Er schlug nochmal mit der Faust gegen die Tür, stärker und rief lauter.
„Ich bin es Sammy, Harry Reinhardt, der Detektiv. Ich will dich hier raus holen.“
Auch jetzt kam keine Antwort.
Harry griff in die Innentasche seines Mantels und förderte ein Türöffner-Besteck zu Tage. Eine Weile fummelte er damit am Schloss herum, doch es wollte partout nicht aufgehen. Er dachte an Eintreten; dürfte aber bei einer dicken Stahltür nicht funktionieren. Vielleicht gab es ein Fenster in dem Raum und er musste nur um das Gebäude herum, um hinein - Bevor er den Gedanken zu Ende denken konnte, ging die Tür auf und Sammy stand vor ihm.
„Komm rein.“
Harry starrte sie einen Moment ungläubig an. Seine Kinnlade war ihm vor Erstaunen bis auf den Boden gefallen. Sie war leicht bekleidet mit einem kurzen Rock und einem T-Shirt. Sie sah geduscht aus und hatte schön gekämmte Haare. Es schien ihr prächtig zu gehen in ihrem Verließ.
„Nun komm schon rein - es ist kalt da draußen.“
Im Raum war es angenehm warm. Neben dem Bett stand ein Heizlüfter, der in Betrieb war. Es gab ausreichend Licht durch eine Stehlampe. Das Bett sah komfortabel aus und das Bettzeug war frisch. Sogar ein Kleider-Schrank stand an einer Wand. Harry öffnete die Tür und sah eine ganze Reihe von Röcken, Hosen, Pullis und Jacken darin fein säuberlich aufgehängt. Als er eine Schublade unten aufriss, sah er ausreichend frische Slips, Strümpfe und Unterhemden.
„Du hast dich hier häuslich eingerichtet?“
Sammy nickte.
Sogar Wasser - er sah das Waschbecken.
„Bist du hier auf Urlaub?“
Samantha sah ihn an und überlegte einen Moment, was sie antworten sollte: „Ja und nein.“
„Hast du was mit Lucki, dass er dich so Hof halten lässt – so ne Art Stockholm Syndrom?“
Sammy setzte sich aufs Bett und seufzte. Sie hielt den Blick erst gesenkt, dann sah sie Harry an.
„Ihr macht hier gemeinsame Sache, habt mich mit dem Video schön verarscht.“
„Nein“, dementierte Samantha, „das stimmt so nicht.“
Harry war mehr als verwirrt.
„Sieht aber ganz danach aus.“
Er sah sich ein zweites Mal ungläubig im Raum um.
„Und ich Idiot dachte, die Ratten fressen bereits deinen Kadaver.“
Harry setzte sich auf einen Sessel, der dem Bett gegenüber vor einem Tisch stand.
Auch dieser Luxus war ihr nicht vergönnt. Einen bedrückenden Moment schwiegen sie, ehe Harry fragte: „Dann vögelt Lucki dich also?“
Sammantha schluckte, sagte erst nichts. Dann fing sie plötzlich an zu reden: „Mein naiver, junger Bruder, wie du weißt, ist in Luckis Villa eingebrochen und hat ihm Stoff geklaut. Dass Lucki schnell erfahren würde, wer der Dieb war, hat er nicht bedacht, weil er dumm ist. Mein Bruder war nicht greifbar, weil er sich versteckt hatte, wenigstens das konnte er. Lucki hat dann von mir erfahren, der Schwester, hat mich ausfindig gemacht und hierher gebracht. “
„Und dann hat Lucki dich gezwungen, mit ihm zu ficken?“
Sammy sah ihn unverhohlen an. „Das war der Deal. Ansonsten hätte er meinen Bruder alle gemacht, so bald er ihn gefunden hätte. Oder ihm zumindest ein paar Finger abgeschnitten oder gleich die ganze Hand.“
Scheiße, dachte Harry.
Das Motiv war ihm klar. Aber dass sie es tatsächlich getan hatte – mit diesem kriminellen Schmierlappen freiwillig ins Bett zu steigen, das -
Harry war nahe dran, zu fragen, wie sie es geschafft hatte, diesen Kerl auf sich und in sich zu lassen. Und hinterher seinen widerlichen Saft abzuwischen.
Schon der Gedanke daran erzeugte ein Würgegefühl in seinem Hals und vor allem Wut.

Als sie später zurück in der Stadt waren, fuhren sie mit dem Taxi erst zu Harrys Büro.
Sammy hatte von Lucki auch ein Handy bekommen und unterwegs, als sie Netz hatte, das Taxi gerufen.
„Ich komme die Tage vorbei und bringe dir das Geld, das ich dir für den Job schulde.“
Harry schüttelte den Kopf. „Überweise es besser.“
Er gab ihr eine Karte auf der unter anderem auch seine Bankdaten waren.
Samantha wollte zum Abschied noch etwas sagen, aber Harry stieg wortlos aus und warf die Tür zu.
Draußen setzte er seinen Hut auf und steckte sich eine Zigarette an.
Sie würde nicht lange trocken bleiben, es schneite schon wieder.
 
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