Der Drache

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Nach gut zwei Stunden wachte Lev auf, mit Fitzgeralds «Diesseits vom Paradies» auf der Brust, der Mund trocken. Ein Bein hing vom Sofa auf den Boden runter. Er drehte seinen Kopf Richtung Fenster, einzelne Schneeflocken rieselten hinab als würde Asche vom Himmel regnen.

Der Raum war dunkel, wie auch seine Gedanken es immer waren, wenn er in so einem Gemütszustand erwachte. Was nun, dachte er. Er war nicht in der Stimmung, um irgendwelche Gesellschaft zu ertragen, dennoch wollte er in Gesellschaft sein. Am liebsten umgeben von Menschen, mit denen er nichts am Hut hatte, wo er still sein konnte inmitten von Lärm und Gerede.

Lev drehte sich eine Zigarette und ging auf seinen Balkon hinaus. Der Anblick war der gleiche wie immer, aus dem offenen Fenster von Frau Antenodi war klassische Musik zu hören, auch wenn es Winter war. Ihm gefiel es eigentlich immer, nur heute konnte er die Klänge von Bach oder Schubert nicht aushalten.

Als er die Zigarette fertig geraucht hatte, zog er seine Hosen an, nahm seinen Schlüssel und sein Handy, verstaute das Portemonnaie in der Jackentasche, steckte Schillers «Die Räuber» in seine Hosentasche, verschloss die Türe und ging die Treppe hinunter. Er wollte etwas trinken gehen, die Gesellschaft suchen, wo er sie nicht finden konnte.

Das Pub war gut 15 Minuten mit dem Tram entfernt. Er verzichtete bewusst auf seine Kopfhörer und liess die Musik der Umgebung auf ihn einwirken.

Beim Pub angekommen drehte er sich nochmals eine Zigarette, stand vor die Eingangstür und begann zu rauchen. Der dicke, feste Rauch bliess er in die dunkle, glitzernde Dezembernacht raus. Er liebte den Rauch in den Wintermonaten, der bei jedem Zug so fest und dick aus ihm herausquoll als wäre er ein lebendiger Schornstein.

Das Pub war etwa zur Hälfte gefüllt, weil er aber keinen freien Tisch mehr entdecken konnte, setzte er sich an den Tresen und bestellte sich ein Bier. Halbliter. Neben ihm nahm ein weiterer Herr Platz, etwa 55, die Haare durchgewirbelt, die Brille von der Kälte angeschlagen.

Sehe ich auch so aus in 30 Jahren, fragte er sich selber, liess den Gedanken aber rasch wieder fallen, als der Wirt ihm das Bier brachte. «Prost» tönte es vom Platz neben ihm und der ältere Herr hob sein Bier und lächelte ihm zu. «Ebenfalls», sagte Lev.

Für ihn war die Konversation damit zu Ende und er nahm seinen Schiller hervor und begann dort zu lesen, wo er gestern aufgehört hatte.

Es wird alles zugrunde gehn. Warum soll dem Menschen das gelingen, was er von der Ameise hat, wenn ihm das fehlschlägt, was ihn den Göttern gleich macht!

«Ganz alleine unterwegs?» fragte der Herr.

Lev nahm seine Augen von den Seiten und schaute ihm direkt in die Augen. Feste Augen, grün, entweder gefüllt mit Hoffnung oder verdorben vom Übel. Er war sich nicht sicher.
«So ist es.» «Warum?», fragte er.

«Keine Ahnung. Wollte die Gesellschaft meiden, aber nicht einfach alleine zuhause rumsitzen.»

«Typisch Mensch.»

«Wie meinen sie das?», fragte Lev und betrachtete ihn noch genauer. Er konnte ihn schlecht einschätzen, obwohl er diese Fähigkeit immer für sich einvernommen hat. Er konnte eigentlich immer recht gut sagen, mit was einem Typ Mensch er gerade zu tun hat, bei diesem älteren Herrn gelang es ihm aber nicht und er wusste nicht, warum. Und das ärgerte ihn.

«Na, das ist doch typisch für unsere Spezies. Eigentlich sind wir gerne alleine, wenn wir aber alleine sind, sehnen wir uns nach Gesellschaft. Andersrum genau das gleiche, wenn wir zusammen sind, sehnen wir uns nach Ruhe.»

«Tönt ein wenig abgedroschen, im Grunde aber haben sie recht. Woran das wohl liegt?» fragte er.

«Da müssen sie einen Psychologen fragen oder die Stadtbibliothek, ich weiss nichts, was ich nicht weiss», sagte der Herr.

«Tönt nach Sokrates.»

«Da haben sie recht. Ausser dass sie es nicht haben.»

«Auch das tönt nach Sokrates», sagte Lev, der merkte, dass ihn der ältere Herr immer mehr interessierte. Aber warum, wusste er nicht.

Er lachte beherzt. «Wie heissen sie, wenn ich fragen darf?» «Meine Freunde nennen mich Lev. Und sie?»

«Attalo», sagte er mit einer stoischen Ruhe. «Freut mich, Attalo.»

«Die Freude ist ganz meinerseits. Sagen sie Lev, was bringt sie wirklich in dieses Pub? Der Drang nach Gesellschaft, wo keine ist, klar, aber was sonst?»

«Nun, ich weiss es nicht genau. Ich wollte raus aus meinem Apartment, an die frische Luft, durchatmen, Kräfte sammeln», sagte Lev und lehnte sich im Stuhl zurück. Ihn schien es, als zöge eine kleine Brise durch die Bar, aber er wusste, das dies kaum sein konnte. Oder war es vielleicht die Lüftung?

«Sind sie den Kraftlos?» fragte Attalo und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier. Lev und er hatten den Halbliter zwar zur gleichen Zeit bestellt, Attalo war aber schon beinahe fertig während er erst zwei, drei kleine Schlucke genommen hatte.

«Kraftlos wäre wohl das falsche Wort.»

«Und was ist das richtige?», fragte der ältere Herr. «Ich weiss nicht, verwirrt, auf der Suche.»

«Auf der Suche nach was?»

«Nach meinem Sinn», antwortete Lev und ärgerte sich sogleich über seine Antwort. Zu abgestumpft, als wäre er ein Teenager, der das erste Mal von einer Frau verlassen wurde und dachte, dass sich die ganze Welt nur um seinen Liebeskummer dreht.

Attalo lachte nicht laut, aber bestimmt. «So, so. Sie sind auf der Suche nach sich selbst.»

Lev wollte eigentlich widersprechen, wollte dem älteren Herrn etwas sagen, er wusste aber nicht, was, darum liess er es bleiben.

«Dem könnte man so sagen.»

«Und sie denken, dass sie hier fündig werden?» fragte Attalo. «Hier in dieser Kneipe, um diese Zeit, mit dieser Gesellschaft?»

«Hier wohl noch eher als zu Hause, nicht?», fragte Lev eher rhetorisch.

«Da haben sie wohl recht», sagte Attalo laut und lachte, nahm den letzten Schluck von seinem Bier, wandte sich zum Wirt und bestellte nochmals einen halben Liter.

Irgendetwas an diesem älteren Herrn fand Lev eigenartig. Und zwar auf eine gute Art und Weise. Er wusste aber nicht genau, was. Er hatte eine tiefe Stimme, ein ungeheur wirkender Bass, der sich gleichzeitig weich und sanft anhören liess. Eine Stimme in der Form eines in den Ärmen der Mutter wiegendem Baby. Nur dass das Baby erwachsen war und sich anmachte, auch ein zweites Glas Bier herunterzukippen.

«Was lesen sie?» fragte Attalo.

«Schillers die Räuber», sagte Lev und nahm das Buch von der Theke, um es ihm zu zeigen. Der Einband war voll gekritzelt mit irgendwelchen Zeichnungen, Dreiecke gepaart mit
Schlangenlinien und verkrümmten Ovalen.

«Ah, die schöne Geschichte einer Selbstzerstörung, Sturm und Drang wie er leibt und lebt.»

«Sie kennen sich mit Literatur aus?» fragte Lev.

«Ich hatte schon ein, zwei Bücher in der Hand, das gebe ich zu»
sagte Attalo. «Aber ich war nie ein Fan von Schiller.»

«Was dann?» fragte Lev, als plötzlich hinter ihm ein Glas zu Boden krachte. Vier Männer um die 30 Jahre kriegten sich vor Gelächter kaum mehr ein, einer schrie irgendetwas Richtung Bar, dass Lev aber nicht verstehen konnte.

«Russische Literatur, Tolstoi, Bulgakow, Turgenjew. Die Klassiker meistens» sagte Attalo und Lev sah ein Funkeln in seinen Augen aufleuchten. Wohl ein Thema, dass dem alten Herrn passte, dachte er.

«Dostojewski?» fragte Lev.

«Natürlich» sagte Attalo, «Russische Literatur ohne Dostojewski funktioniert ja nicht.»

«Da stimme ich ihnen zu» sagte Lev und nun nahm auch er den letzten Schluck aus seinem Glas. Er wusste nicht, wie lange er schon hier war, es konnte sich um Minuten handeln oder auch Stunden, die Zeit flog oder schlich, stehen bleiben tut sie aber nicht.

«Sie erinnern mich an eine Geschichte» sagte Attalo.

«Was für eine Geschichte?»

«Ich glaube, sie stammt aus dem Osten. Eine Fabel.»

«Erzählen Sie, sie haben mich neugierig gemacht», sagte Lev.

Der ältere Herr strich sich durch das dünne, graue Haar, nahm noch zwei kräftige Stücke und begann dann, die Geschichte zu erzählen.

»Ein einsamer Wanderer wird in der Wüste von einem schrecklichen Ungeheur überrascht. Um sich zu retten, springt der Wanderer in eine tiefe Grube. Aber am Grunde der Grube sieht er einen riesigen Drachen, der das Maul bereits weit aufgerissen hat, um den Wanderer zu verschlingen. In letzter Sekunde kann er sich noch an einem Gebüsch festhalten. Nun sitzt der Wanderer im Dilemma. Oben bei der Grube wartet das schreckliche Ungeheur auf ihn, am Grunde der Grube wartet der hungrige Drache. Seine Arme werden mit jedem Augenblick schwächer, er hält sich aber weiterhin am Gebüsch fest. Er getraut sich weder hochzuklettern, um vom Ungeheuer gefressen zu werden, noch fallenzulassen, um vom Drachen verschlungen zu werden. Plötzlich bemerkt er zwei Ratten, eine weiss, eine schwarz, die anfangen, das Gebüsch anzuknabbern. Immer weiter machen sie, und der Wanderer weiss, dass das Gebüsch irgendwann nachgeben wird und er für immer im Schlund des Drachen verschwinden wird. Dass er bald sterben wird. Als er sich in der Grube herumschaut, entdeckt er plötzlich, wie gelber Honig vom einem stacheligen Busch heruntertröpfelt. Glänzend wie Sonnenstrahlen fallen die in den Sonnenstrahlen schimmernden Tropfen zum Boden hinab. Er macht sein Mund auf und streckt die Zunge heraus. Zu seinem Erstaunen ist der Honig aber nicht süss, sondern sauer. Und so lässt er seinem Schicksal freien Lauf, und entscheidet sich sowohl für das Ungeheuer, als auch für den Drachen, für die weisse und schwarze Ratte, für den sauren Honig.»

Attalo hält inne und sieht Lev tief in die Augen. Als ob er von ihm eine Reaktion erwarte, ein Protest, eine Argumentation. Aber Lev macht nichts von dem, ganz ruhig nimmt er sein Bier in die Hand und nimmt einen grossen Schluck.

«Was denken sie?» fragte Attalo.

«Dass sie die Geschichte abgeändert haben.»

«Warum?», fragte er, mit erstaunten Augen aber einem leisen lächeln auf den Lippen.

«Weil ich die Geschichte auch schon gehört habe. Und wenn ich mich richtig erinnern kann, ist der Honig in dieser Fabel tatsächlich süss. Eine Metapher für das Leben, eine
Aufforderung zum Genuss in schwierigen Zeiten, ein Appell an die Stärke und eine Hommage an die Durchhaltung.»

Wieder lächelte Attalo lächelte, als er dies hörte. Aber warum er lächelte, konnte Lev nicht sagen. Warum hat er diese Geschichte erzählt, fragte sich Lev. Warum hat er sie abgeändert?
«Und auf was wollen sie hinaus?» fragte Lev, der ihn immer noch nicht verstand.

«Um ihnen zu zeigen, dass jeder persönlich seine Geschichte schreibt. Ob gut oder schlecht, ob böse oder nett, ob glücklich oder zermürbt. Eine Geschichte besteht aus Wörtern, es bleibt aber immer eine Geschichte, auch wenn die Wörter abgeändert werden.»

Lev verstand ihn nicht genau, jedenfalls konnte er sich keinen Reim darauf bilden.

«Sie müssen es nicht verstehen, lassen wir es dabei. Noch ein Bier?» fragte Attalo.

«Warum nicht» antwortete Lev.

«Was ist ihr Lieblingsbuch?», fragt Lev, nicht ohne eine gewisse Absicht zu haben. Er hoffte, er könnte diesen älteren Herren etwas besser einschätzen, wenn er erfahren würde, was er gerne liest. Das Wort als Taschenlampe in des Herzens Höhle.

«Schwierig zu sagen, es gibt viele Bücher, die bei mir auf dem ersten Platz stehen könnten.»

«Aber wenn sie auswählen müssten?», fragte Lev. Er wollte nicht locker lassen.

Attalos Augen wanderten von der Bar an die Decke und wieder zurück, er dachte kurz nach und sagte dann: «Der Graf von Monte Cristo.»

«Harren und hoffen» sagte Lev.
«Genau so ist es», sagte Attalo.
Für gestern, heute und morgen.
 



 
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