Marcus Richter
Mitglied
Der Dunkle
„O ihr Herrscher des unterirdischen Reiches, gönnet mir, Wahres zu reden…“
Gustav Schwab
Irgendwo hinter der Bühne hatten sie seinen Kopf.
Kikki standen Schweißperlen auf der Stirn. Sie wankte auf den Zehenspitzen und keuchte, als sich ein kräftiger Körper an ihr vorbei schob. Für einen Augenblick presste sich ihr ein steifes Glied gegen den Rücken, und zwei Hände nahmen ihre Schultern und zogen sie an sich. Dann ein Ton, eine Fanfare vielleicht, und der Druck und die Hände verschwanden, und Zehntausende bewegten sich wie ein Heer einen Schritt nach vorn.
Nur einen Schritt! Aber im selben Moment begannen sie in den vorderen Reihen zu schreien, und die Security warf sich auf Holzbalken, die die Absperrung zwischen Bühne und Fanraum abstützen sollten. Die Pfähle gruben sich tief in den Stadionboden, und die Betonfüße, in welche die Absperrung eingelassen war, bewegte sich Millimeter für Millimeter auf das Stahlgerüst zu, das sich über die Bühne wie eine gespreizte Hand erhob. Als wollten sie eine gewaltige Kavallerie aufhalten, stachen die Stahlfinger in den Himmel.
An den Enden der hoch aufragenden Stangen flatterten schwarze Fahnen, von denen sich das leuchtend weiße Bild eines Schildkrötenpanzers abhob. Ohne Kopf, ohne Beine, nur das ovale Rund, über das sich feine, weiße Linien wie Gitarrensaiten zogen. Darüber ein Name, der Name - einer, den man nie vergessen würde, wenn man ihn einmal gehört hatte. Kikki hielt den Atem an.
„Orpheus…
…Orpheus!“
Der sternenklare Himmel war in undurchdringliches Schwarz getaucht. Kein einziger Stern, nichts. Es konnte einen verrückt machen, wenn man zu lange hinsah, auch wenn man wusste, dass oben auf dem Dach des Stadions die Spotlights gen Nachthimmel gerichtet waren und das Sternenlicht förmlich auffraßen, bevor es sie hier unten erreichen konnte. Kikki wurde gestoßen und geriet in die Schraubzwinge einer Gruppe von Back-Sabbaths, die sie mit genieteten Lederjacken aufs Korn nahmen. Sie duckte sich weg und kam irgendwo hoch, den Mund weit offen und keuchend.
Luft!
Dann kam das Kreischen. Junge Frauen wühlten sich an den Leibern von Unbekannten empor und bestiegen sie wie lebendige Felsen. Ein starker Geruch stieg auf, der den markanten Gestank von alkoholisiertem Atem überdeckte. Die jungen Frauen wurden irre und pressten ihre Schöße in die Nacken von Männern, wegen derer sie sonst die Straßenseite gewechselt hätten. Sie ließen sich Schnapsflaschen hinaufreichen und begossen mit dem Inhalt ihre Brüste. Kikki wurde emporgehoben und spürte einen heißen Atem an ihrem Becken, als irgendwo ganz in der Nähe eine riesige Stichflamme hochging und ins Nachtschwarz verpuffte. Und das war genau in dem Augenblick als Judd Randall die Saiten seiner schwarzen E-Gitarre anschlug und die Rückkopplung ganz vorn eine Massenpanik auslöste.
Niemand kommt da raus, dachte Kikki und rutschte über einen heißen, kahl rasierten Schädel auf breite, muskulöse Schultern.
Niemand, dachte sie.
Jetzt nicht mehr!
Es hatte viele Rockbands in den letzten Jahren gegeben. Gute und Schlechte. Das war wie das Einmaleins des Rock`n´Roll. Wer blieb, wurde entweder irre oder das Heroin mistete den ganzen Laden aus, bis nur noch die Bassisten auf der Bühne standen und schwankende Schlagzeuger, die nach jedem Song nach hinten zu kippen drohten. Der Alkohol holte sie alle. Gute Gitarristen suchte man gewöhnlich in der Entzugsklinik oder in der Irrenanstalt. Hepp Dean, der Songwriter und Frontmann von Under Down hatte angeblich epileptische Anfälle bekommen, wenn er nur eine Gitarre zu Gesicht bekommen hatte. Aber das war nie jemandem aufgefallen, jedenfalls nicht solange er auf der Bühne stand. Im Sanatorium hatten sie ihm dann Elektroschocks verpasst, bis sein Gehirn nur noch ein großes Schwarzes Loch war, in dem alles auf Nimmerwiedersehen verschwand. Man konnte dieses Schwarze Loch in seinen Augen sehen, hieß es. Und was aus Billy Pikes geworden war, der nach einem Besuch bei ihm nie wieder gesehen wurde, konnte sich jeder, der von der Sache wusste, selbst zusammen reimen.
Er war ein seinen Augen verschwunden, sagten sie. Billy Pikes war durch die Augen von Hepp Dean in das Schwarze Loch in seinem Schädel gezogen worden.
Aber das war nichts gegen Orpheus. Nein, scheiße! Nichts konnte dagegen an. Das Schwarze Loch von Hepp Dean war nichts weiter als eine gekräuselte Rosette im Gegensatz zu dem, was man sich über Orpheus erzählte. Und dabei hatte Sol Stark nie Drogen genommen, nie getrunken oder mit Frauen rumgemacht. Sol Stark hatte mit dem Rücken zum Publikum gespielt, sich nie umgedreht. Er hatte nie Zugaben gegeben, war einfach abgegangen, wenn das Set gespielt war. Die meisten hatten ihn gehasst; so sehr hatten sie ihn geliebt. Und die großen Tourenveranstalter hätten sich lieber den Strick genommen, als diese Band mit diesem Frontmann zu verpflichten. In London hatten vierundzwanzigtausend Fans nach dem Konzert 94 die Bühne gestürmt und die Aufbauten bis auf die Grundfesten niedergerissen. Das Equipment war im Feuer aufgegangen, und der Veranstalter hatte sich noch in derselben Nacht mit einem Derringer in den Kopf geschossen.
Danach schrieb Sol Stark den Song bullitt in your head, und er hielt sich sechs Wochen auf Platz eins der US-Charts.
Aber nur ein halbes Jahr später war es vorbei. Alles war vorbei. In Birmingham schnitten sie Sol Stark den Kopf ab. Angeblich waren es betrunkene Frauen, einige Hundert, die die Bühne stürmten und sich mit Cuttern und Taschenmessern über den Mann hermachten.
Er soll bis zum Schluss gesungen haben. Auch als der Kopf schon vom Rumpf getrennt worden war.
Natürlich war das unmöglich, jedenfalls sagten das die Ärzte.
Aber einige glaubten es.
Aus den Lautsprechern dröhnte Judd Randalls Gitarrensolo zu thin´ abou´. Kikki sah seine scharf geschnittene Gestalt hinter den Vorhängen verschwinden, um nur Augenblicke darauf auf einer Empore zu erscheinen, die sich in schwindelerregender Höhe über der Bühne erhob. Sie spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte, als der Kahlkopf unter ihr ihre Kniekehlen presste und den muskelbepackten Nacken in ihrem Schoss wand. Sie riss die Hände in die Höhe und kreischte, als das Gitarrensolo endete und Dan Dan in der Mitte der Bühne auf das Schlagzeug einhämmerte, das sich um ihn herum wie ein Turm erhob. Der Schlagzeuger trug Ketten an Händen und Füssen. Ein irres Bild! So als würde Dan Dan davonfliegen, wenn er könnte. Herman Wall stand links und spielte den Bass mit einer eisernen Spore. Er trug noch immer ein schwarzes Trauerband am Oberarm, obwohl die Sache mit Stark nun schon über zehn Jahre zurück lag. Wenn er aufschaute, konnte man das Glitzern in seinen Augen noch auf hundert Meter sehen. Er hatte sich zwei silberne Tränen in die Haut unter den Augen implantieren lassen. Bei Schwarzlicht schimmerten sie durch die Haut, als wären es Sterne.
Und dann warb da noch dieser Kasten, dieses schwarze Ding, das ganz vorne am Bühnenrand stand, auf irgendeinem wackligen Klapptisch. Jedes mal wurde das Publikum auf einen Schlag still, wenn Judd Randall diesen Kasten auf die Bühne trug und ihn hochhielt, sekundenlang.
Da drin war Sol Starks Kopf, hieß es. Der Dunkle, wie sie ihn nannten. Nur sein Kopf.
Und jedes Mal, wenn die Menge aus den Lautsprechern Sol Starks Stimme vernahm, wenn er sein thin´ abou´ in ihre Ohren brüllte, so als wäre er noch lebendig, dann redeten sie sich ein, dass seine Stimme vom Band kam, dass es ein Fake war, dass es nicht wahr sein konnte.
Aber Kikki konnten sie nicht täuschen. Sie spürte es in ihrem Schoss, in ihren Schenkeln, die sie wie Fangeisen um den Nacken des Kahlkopfes geschlungen hatte. Sie wusste, dass der Geruch ihn wahnsinnig machte. Sie spürte, wie er sich wand, wie die Musik und die Hitze ihm zu Kopf stiegen.
Sie sah auf die Bühne und krallte sich in den schwitzenden Schädel.
Dieser Gesang kam nicht vom Band!
Jede Faser ihres Körpers wollte es hinausschreien.
Es war der Dunkle…
Irgendwann musste sie stehen bleiben und einfach atmen.
Einfach nur atmen.
Ihre Knie flatterten, als wären es die Flügel einer Elster. Sie hielt sie fest und spürte das Zittern der Lippen und des Unterkiefers. Ihr Verstand rebellierte, als ihr der Geruch des Kahlkopfes in die Nase kroch, der zwischen ihren Beinen aufstieg, und sie sah wieder seinen kräftigen Brustkorb vor ihrem Gesicht, in den sie sich verbissen hatte. Sie hatte das Blut geschmeckt, seinen Schweiß, der in ihrem Kopf wie eine chemische Verbindung reagiert hatte. Sie hatte nichts gedacht, keinen Augenblick. Und die wilde Gewalt, mit der er sie genommen hatte, hatte sie fast um den Verstand gebracht.
Die Übelkeit und die Verwirrung ließen erst nach, als sie die Augen schloss.
Atmen, dachte sie, nur atmen.
Sie wusch sich im Fluss, so wie sie es als Kind immer getan hatte. Der Geruch, der ihr mit dem Schweiß aus allen Poren drang, ließ kaum nach, auch nachdem sie untertauchte und prustend aufstand. Um ihre Beine wirbelte die Strömung und etwas Lebendiges berührte sie.
Sie sah sich um. Sie hatte etwas gehört.
Rasch stieg sie aus dem Wasser und presste die noch immer feuchten Kleidungsstücke an ihre Brust. Sie blies sich das Wasser von der Oberlippe und starrte die Straße hinauf.
Das war ein Summen, dachte sie. Sie schaute in den Himmel und kniff die Augen zusammen; ein Flugzeug vielleicht. Dann kam ihr ein anderer Gedanke, und sie schreckte auf, als etwas über ihre Schulter krabbelte. Sie wischte es fort, und summend umschwirrte es ihren Kopf. Ein zweites Summen mischte sich hinein, dann ein drittes.
Sie duckte sich und stolperte vorwärts, während sich immer mehr Tiere in der Dunkelheit erhoben, als hätten sie in einem Nest darauf gewartet.
Sie erreichte die Straße und lief.
Und aus der Dunkelheit schälte sich eine Gestalt, mitten in einem schwarzen Schwarm, der lebendig mit ihm verwoben war.
Die Bienen sprachen zu ihm.
Er hatte darauf gewartet, dass die Bienen zu ihm kommen würden. Er hatte in der Dunkelheit, in einer Höhle auf sie gewartet. Tief da unten, wohin sich kein Tagtier verirrte. Nur Nachtwesen, denen er sich zuordnete, konnten in der Finsternis überleben, und er hörte sie knistern und über die Wände streichen, mit ihren Fühlern und Tentakeln. Sie waren wie er und liebten kalten Stein und den Regen, der durch den Felsen kroch.
Ob er einmal ein Mensch gewesen war? Einmal, vor sehr langer Zeit vielleicht. Aber seit er in der tiefen Düsternis des Unterirdischen weilte, hatte er alles abgelegt, was ihn zu einem Menschen gemacht hatte. Er war gänzlich frei davon und ließ sein Gehirn Welten umspannen, in denen kein Platz für Rührseeligkeiten oder auch nur der Anflug eines Gefühls war. Nicht einmal hassen konnte er, und er hätte nicht gewusst, was damit gemeint war; selbst wenn man ihm Hände und Beine abgeschnitten hätte - er hätte den Vorgang mit Gleichmut verfolgt.
Und es war der Augenblick absoluter Freiheit und absoluter Leere und Dunkelheit gewesen, als ein Tier vom großen Volk in das Unterirdische kroch. Vermutlich, um zu sterben, so dachte er, als es sich ihm summend zuwandte.
Auf seinem Handrücken setzte es sich nieder und tanzte.
Das rhythmische Säuseln der Flügelpaare, das Trippeln der Beine erzeugten Muster in den Nervenenden seiner Oberhaut und wurden weitergetragen zu längst vergessenen Synapsen, rudimentären Schaltstellen, die keine Worte in seinem Kopf erzeugten – nur Bilder von klarster Harmonie.
Und plötzlich sah er vor seinem inneren Auge Blütenmeere, in denen Mohn und Ginster brandeten. Er sah Larven, die sich im engen Fünfeck zwirbelten und eine Königen, die nicht weniger schön war, als das Leben selbst, würde es vom Auge des Unlebendigen betrachtet. Er sah die sonnendurchfluteten Felder vor dem hoch aufragenden Felsenmassiv, in dessen düstere Höhlungen er sich einst zurückgezogen hatte.
Als er schließlich aufstand, wusste er, dass seine menschliche Stimme ohne Bedeutung war.
Er zischte und summte und krümmte und streckte sich. Sogar die Gelenke knisterten, die Muskeln redeten, die Knochen flüsterten. Und sein ganzes Selbst begann zu sprechen.
„Lass sie zu mir kommen“, sprach es,
„all die Hunderttausend.“
Herman Wall hielt das Richtmikrofon in die Dunkelheit. Irgendwas war da draußen passiert, hatte der Kopf gesagt.
Die Scheinwerfer des schwarzen Ford Mustang schnitten in die Nacht und leuchteten die Felsen an, die wie gebückte, alte Männer den Abhang an der Straße säumten. Die Bäume an dieser Straßenseite waren uralt. Die gespaltenen Stämme sahen aus, als wären sie auf dem Weg. Irgendwohin, im Schritt erstarrt.
Wall kniff die Augen zusammen und ließ das Band zurückspulen.
„Hört sich wie ein Bienenschwarm an“, flüsterte Judd Randall, als sie sich die Aufnahme anhörten.
Wall schaute auf und drehte die Zigarette zwischen den Lippen. „Nicht in der Nacht“, sagte er. „Bienen fliegen nicht nachts.“ Er spuckte auf den Boden und Tabakrauch stieg um sein Gesicht auf.
„Aber Köpfe reden auch nicht“, hielt Randall dagegen.
Wall sah ihn an und warf die Zigarette auf den Boden.
Er spulte das Band noch einmal zurück, drückte Play und lauschte.
„Verdammte Scheiße, hört sich wie ein Bienenschwarm an“, sagte er.
Der schwarze Mustang stand seit den frühen Morgenstunden auf der Hauptstraße und Herbert Mullow hatte Frank Mead angerufen. Die Hitze war erdrückend.
Der Officer stieg aus dem Wagen und hielt die Hand über die Augen. Er sah über die Straße und beobachtete, wie eine junge Frau mit einem Kinderwagen unsicher auf dem Gehweg innehielt und den schwarzen Mustang betrachtete. Etwas schien sie zu beunruhigen. Obwohl der Verkehr um diese Uhrzeit nicht unerheblich war, zog sie es vor, lieber mit dem Kinderwagen die Straßenseite zu wechseln, als in die Nähe des schwarzen Fahrzeugs zu kommen. Mead schüttelte den Kopf und brummte. Er zog eine Coke aus der Kühltasche auf dem Beifahrersitz, öffnete sie und trank.
Als er die Straße überquerte, nickte er der jungen Frau aufmunternd zu und erntete ein unsicheres Lächeln. Unter dem Türrahmen eines Gemischtwarenladens stand Herbert Mullow mit verschränkten Armen. Auf der Fensterscheibe gleich daneben stand in großen Buchstaben all you need.
„Was nutzt es, wenn da all you need steht, wenn sich keiner an diesem schwarzen Ding vorbeitraut“, sagte Mullow mürrisch, als Mead sich zu ihm gesellte und an der Coke nippte. „Kommt Rachel wegen des Wochenendeinkaufs vorbei?“, fragte er.
Mullow schüttelte den Kopf. „Sie fährt heute ausnahmsweise zum Mart, hat sie gesagt. Der am anderen Ende der Stadt. Da fährt sie sonst nie hin.“
„Und Carson?“, fragte Mead.
„Hab seinen Jeap gesehen, kurz, ist nicht mal ausgestiegen.“
Mead schnalzte mit der Zunge und kratzte sich das Kinn.
„Man kann keinem Mann verbieten, da zu parken, wo es erlaubt ist“, sagte er nachdenklich.
„Aber er kann doch auch wo anders parken“, zischte Mullow wütend. „Und muss es gerade so ein schwarzes Ding sein? Mit diesen schwarzen Scheiben? Da kriegt man es ja mit der Angst!“
Mead betrachtete die getönten Scheiben des schwarzen Mustangs und ein kehliger Laut entfuhr ihm. Mit der Angst bekam er es nicht gerade zu tun.
„Was, wenn sie da drin Gewehre haben?“, fragte Mullow.
Mead nippte abermals.
„Man kann einem Mann auch nicht verbieten, ein Gewehr in seinem Auto zu haben“, sagte er. „Du hast doch auch eins in deinem Wagen.“
Mullow stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Ich kann es mir nicht leisten, den ganzen Tag herumzustehen und zu quatschen. Es muss doch möglich sein, den Wagen von hier wegzuschaffen. Ansonsten kann ich gleich dicht machen. Geh ich eben nach Denver“, warnte er, „da machen sie keine langen Geschichten. Da werden solche einfach aus der Stadt gejagt.“
Mead zog die Augenbraue hoch und sah Mullow von der Seite an. „Na na!“, sagte er und ging über den Fußweg und umrundete den schwarzen Mustang. Er notierte das Kennzeichen und blieb an der Beifahrertür stehen. Mit dem Boden der Coke klopfte er gegen die Scheibe und ließ beiläufig die Hand zu seiner Dienstwaffe sinken. Als die Fensterscheibe sich senkte, bückte er sich und musterte das Innere.
„Na, nicht zu heiß da drin“, fragte er, als ihm ein Schwall abgestandener, heißer Luft entgegenkam. Im Inneren des Wagens sah er drei Männer in schwarzer Lederkleidung, die sich müde reckten, als wären sie eben gerade erwacht.
„Ist was nicht in Ordnung“, fragte der, der ihm am nächsten saß und strich sich durch das kurze, dunkle Haar.
„Das würd ich Sie gern fragen“, meinte der Officer und musterte den Mann in Schwarz.
„Kommt drauf an“, antwortete er.
„Worauf“, fragte Mead.
„Ob was nicht in Ordnung ist.“
Frank Mead war ein Mann ohne musikalischen Sachverstand. Er hörte alles, wie man so schön sagte. Aber er legte großen Wert darauf, dass sich ihm die Musik nicht aufdrängte und ihn nicht verrückt machte. Er hatte etwas an sich, was man eine Ader dafür nannte. So wie andere trockene Alkoholiker waren, so war Frank Mead trocken von der Musik geworden. Wenn er das Kofferradio auf seinem Schreibtisch einschaltete, dann achtete er darauf, dass die Musik nicht zu speziell war.
Speziell war das richtige Wort, dachte Mead und legte die Beine hoch. Hinter ihm in den Zellen waren unruhige Schritte zu hören, während aus dem Radio eben jene unspezielle Popmusik klimperte, die einen Mann wie Mead nicht verrückt machen konnte.
Mead hatte das Kennzeichen des schwarzen Mustangs am Mittag durchgegeben und vermutete, dass das Problem erst nach Abflauen der Mittagshitze bearbeitet werden würde.
Er vermutete richtig. Gegen achtzehn Uhr erreichte ihn der Rückruf, als im Radio top of the pops angekündigt wurde.
Im Radio quengelte das fistelige Stimmchen einer angesagten Neunzehnjährigen, als Mead sich in seinem Schreibtischstuhl umwandte und nickte.
„Ach wirklich“, fragte er und sah die Männer in den Arrestzellen mit großen Augen an.
„Ist nicht war“, sagte er.
„Und du meinst, das sind diese Jungs?“
Er lachte kurz auf, als der Beamte auf der anderen Leitung einen Witz machte und verabschiedete sich.
„Na, wenn da nicht das Pferd im Stall verrückt wird“, brummte Mead und stand von seinem Schreibtischstuhl auf.
Die drei Männer in der Arrestzelle waren ebenfalls aufgestanden und an die Gitterstäbe getreten.
„Nicht so verrückt wie wir, wenn Sie nicht bald diese Sirenenmusik ausmachen“, sagte Judd Randall und nickte in Richtung Kofferradio, aus dem die fistelige Stimme der Neunzehnjährigen wie eine todbringende Warnung plärrte.
Frank Mead machte einen Schritt zurück und drehte das Radio ab, ohne sich umzudrehen.
„Früher haben sie sich hier unten Bienenwachs in die Ohren gegossen“, sagte er.
Die drei Männer entspannten sich, als der grauenhafte Klang der Musik verebbte. Judd Randall ließ die Nackenwirbel knacken.
„Diese Zeiten sind endgültig vorbei, Mister“, sagte er.
Am Straßenrand, an dem sich der Little River entlang schlängelte, hatte Dave Ulster die Kleidungsstücke einer Frau entdeckt. Roch nach Fotze, wie er sagte, bevor er sich hastig verbesserte. „Nach so was eben“, sagte er und senkte mit rotem Kopf den Blick. Frank Mead stutzte, als Ulster ihm die Sachen in die Arme drückte. Er hielt die Nase darüber und schnupperte. „Schon gut, Dave“, sagte er und legte die Kleidungsstücke beiseite. „Ist schon wie du sagst. Nach so was eben.“
Ulster nickte verlegen. „Die kleine Kikki Dern ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.“
„Die Kleine?“, fragte Mead. Sie war schon Mitte zwanzig, aber eben zierlich. Darum nannten sie alle die Kleine. Sie wechselte ihre Sexualpartner wie andere die Unterwäsche. Darum passte die Verniedlichung nicht ganz. Aber manche nannten Dave Ulster auch Sly, was soviel wie listig bedeutete. Trotzdem traf der Spitzname ebenso wenig auf Dave Ulster zu, wie das Klein auf Kikki Dern.
„Vielleicht ist sie ja ertrunken“, sagte Dave Ulster und kniete sich ans Flussbett.
Frank Mead stand daneben und machte sich eine eiskalte Coke auf. „Von hier bis hoch zur nächsten Biegung ist das Wasser gerade hüfthoch. So klein war sie nun auch nicht.“
Ulster sah ihn von unten an und schien ernsthaft nachzudenken. Frank Mead wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah auf den Boden. Etwas Dunkles lag im trockenen Gras. Als er sich hinkniete, um es mit Daumen und Zeigefinger aufzuheben, gab Dave Ulster einen quiekenden Laut von sich und stand kerzengerade auf.
„Bienen!“ Er musste einen Angstschrei unterdrücken.
Als Frank Mead das Insekt, das er entdeckt hatte, vom Boden auflas, sah er, dass die Tiere überall im Gras verstreut lagen.
„Keine Sorge, sie sind tot“, sagte Mead.
Ulster versuchte sich zu beruhigen.
„Gut“, sagte er und prustete erleichtert.
Frank Mead betrachtete das Tier und schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht“, sagte er und tippte das Insekt in seiner Hand an, das völlig schwarz gefärbt war.
„Ich glaube nicht, dass das gut ist.“
Der Kopf hatte ihnen verraten, dass es eine Unterwelt gab, ein Labyrinth.
„Das war einmal ein Bergbaugebiet“, sagte Judd Randall, als sie an einer verfallenen Farm aus dem schwarzen Mustang stiegen. Dan Dan, der bis dahin still gewesen war, zog die Sonnenbrille die Nase herunter und blinzelte den Abhang hinab, an dessen Senke ein hölzerner Zaun die Sicht versperrte.
„Es riecht süß hier“, sagte er und ging voraus, während Herman Wall sich den schwarzen Kasten unter den Arm klemmte und den Blick über die Anhöhen schweifen ließ, die das Tal, in das sie hinab stiegen, wie einen Halbmond gürtete. Es konnte durchaus sein, dass es hier hunderte von verlassenen und verfallenen Schächten gab. Aber es machte keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen. Der Kopf würde ihnen keine weiteren Hinweise geben. So war es nie gewesen. Der Kopf war nur die Stimme eines Gefühls oder eines Gedankens, den er aus auf unerklärliche Weise aus der Zwischenwelt aufsog. Eine Welt, mit der nur diejenigen Kontakt aufnehmen konnten, die tot und lebendig zugleich waren. So wie der Kopf, der lebendig war, durch einen unsichtbaren Faden verbunden mit dem toten Körper, den sie bei Birmingham beerdigt hatten.
Am Fuß des Abhanges gingen sie den hölzernen Zaun entlang, bis zu einer Stelle, wo das mannshohe Bollwerk sich plötzlich öffnete. Dan Dan war ein Stück voraus und bereits durch die Lücke gestiegen, und sie fanden ihn mitten in einem wilden Durcheinander umgestürzter Bienenkästen, aus denen die zerstörten Wabenrahmen wie herausgerissene Schubladen hingen. Die Stille, die über dem riesigen Areal hing, war erdrückend. Auf dem Boden lagen Wabenzangen und Smoker, als hätte sie jemand mitten in der Arbeit fallen gelassen und wäre davon gestürzt. Wabenreste wurden vom Wind umhergetrieben und türmten sich an dem Holzzaun auf. Dan Dan hob den Smoker auf und roch daran. Er schüttelte den Kopf und steckte das Gerät in einen Lederbeutel, den er am Gürtel trug.
Unweit der Bienenkästen, von denen Judd Randall vermutete, dass sie einmal einige dutzend Bienenvölker beherbergt hatten, erhob sich der heruntergekommene Rest eines Wohnhauses, an das sich eine zusammengekrümmte Scheune anschloss. Aus dem Tor gaffte sie das breite Maul eines Lastwagens an, dessen Führerhaus aus dem Inneren herauslugte.
„Jemand zuhaus“, rief Judd Randall und nahm die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Er faltete die Bügel zusammen und schob die Brille in die Innentasche seiner schwarzen Lederjacke, als das Fliegengitter der Eingangstür von einem Windstoß aufgeschlagen wurde.
Im Inneren des Hauses hörte er langsame Schritte, als wäre jemand erwacht und taumelte noch schlaftrunken über die Diele. Dann hielten die Schritte inne und Stille trat ein.
Die drei Männer sahen sich an. Die Leute fackelten hier nicht lange, wenn es um das unberechtigte Betreten ihres Eigentums ging, und es war kein schöner Gedanke, hier im Staub mit einer Schrotladung im Bauch zu verrecken.
„Hören Sie, wir wollen keinen Ärger machen“, sagte Randall vorsichtig, als sich die Eingangstür öffnete.
„Das will ich hoffen“, bekamen sie zur Antwort und eine zierliche Frau erschien im Türrahmen, die sich auf einem Gehstock abstützte, den sie am Knauf in die Hüfte stemmte. Die drei Männer tippten sich höflich an die Stirn.
„Mam.“
Die alte Frau verdrehte die Augen und kicherte.
„Blödsinn!“ Sie musterte die Männer in der schwarzen Lederkleidung und schüttelte den Kopf. „Wie kann man nur so bescheuert sein und mit schwarzen Klamotten in der Sonne rumstehen! So was Dämliches hab ich nicht gesehen, seit dieser Lipman in der Wüste einen Brunnen graben wollte.“
Herman Wall wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Es ist verdammt heiß, Mam“, sagte er und nickte.
Die alte Frau stand im Schatten der Veranda und musterte sie nachdenklich, bevor sie mit der knochigen Hand eine fortwischende Bewegung machte, als würde sie einen Zweifel vertreiben.
„Jetzt kommt schon in den Schatten, Jungs! Die Hitze hat Euch das Gehirn weich gekocht.“ Sie schüttelte den Kopf und stakste zielstrebig über die Veranda, um sich in einen Korbstuhl sinken zu lassen.
„Mam!“, stieß sie amüsiert aus und schüttelte den Kopf, als wäre es das dümmste, was sie je gehört hatte.
„Was für ein Blödsinn!“
Das Summen der Bienen und das Flüstern ihrer Beinpaare auf seiner Haut, bereiteten ihm eine Erektion, die so stark war, dass er unvermittelt aufheulte und in die Knie ging. Der Schwarm streichelte ihn wie eine liebende Hand, und die Bienen strichen und melkten seinen Unterleib, bis er kreischend zum Orgasmus kam. Die Bienen krochen von seinem Gesicht und offenbarten die schmerz- und lustverzerrte Züge. Mit den Mundwerkzeugen aus Chitin säuberten sie seinen Körper, nahmen jeden Tropfen von Schweiß und Samen auf und trugen ihn fort.
Als er aufstand, und die Bienen ehrfürchtig vor ihm auseinanderstoben, war er jung und schön, als wäre er im selben Augenblick geboren worden. Seine Fingernägel waren sauber beschnitten, die Haare bis auf die Kopfhaut abgenagt, die Haut von jeder Schuppe befreit und ohne Makel.
Er hatte ihr Licht gemacht, damit ihn sehen konnte. Auch hatte er ihr erlaubt, ihr T-Shirt zu tragen, das sie über die angezogenen Knie gezogen hatte, um so viel wie möglich seinem durchdringenden Blick zu entziehen. Aber er wusste, dass es nicht genug war, um alle Stellen zu verdecken, und dass er damit ihren Willen Stück für Stück zerbrach, viel mehr, als hätte er sie gezwungen, nackt zu sein. Mit jedem Augenblick, in dem er jene Stellen musterte, die sie nicht verdecken konnte, bröckelte ihre Selbstachtung wie ein Rinnsal von feinstem Sand von ihrer Fassade ab. Und zurück blieb nur die nackte, um ihrer Selbst willen existierende Kreatur. Und bald würde sie bereit sein, alles zu tun, nur damit sie weiterlebte. Nichts weiter als das. Keine Kompromisse. Nur leben.
Dann würde sie bereit sein.
„Ich wusste, dass ihr eines Tages hier auftauchen würdet.“
Die alte Frau, die in dem Korbstuhl saß, ließ ihren Worten eine sehr lange Pause folgen, dass Judd Randall unsicher auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Dan Dan hatte mit einem Strohhalm das Eis in einem großen Glas mit Eistee klimpern lassen und hielt plötzlich inne, über den Rand der Sonnenbrille aufblickend.
Die alte Frau sah sie nacheinander eindringlich an und legte den Kopf schief.
„Aber irgendetwas stimmt nicht mit euch Jungs“, sagte sie nachdenklich. Sie presste die Lippen aufeinander, als suchte sie nach den richtigen Worten.
„Ihr seid nicht ganz“, sagte sie schließlich stockend.
„Ihr seid nicht vollständig“, sagte sie laut und klopfte mit dem Knöchel des Mittelfingers auf den wurmstichigen Verandatisch. „Wie beschnittene Schwänze, verdammt!“
Herman Wall wurde rot, und die Alte winkte ab. Ihr Blick folgte dem von Judd Randall, der hin zu dem schwarzen Kasten gezuckt war, den er auf dem Boden abgestellt hatte.
Für einen Augenblick schien die Alte nachzudenken.
„Das ist der Grund, warum ihr hier seid, nicht wahr?“
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und knarkste über die Veranda zu dem Kasten und beäugte ihn.
„Ich wusste, dass ihr nicht die Gabe habt“, sagte sie und beugte sich vor. Mit der Muffe des Gehstocks kam sie auf Millimeter an den Kasten heran, ohne ihn zu berühren.
„Er hat sie“, sagte sie scharf.
„Das, was da drin ist, hat sie.“
Der Gehstock zitterte in ihrer Hand, und sie schien mit dem Gedanken zu spielen, den schwarzen Kasten zu berühren, der sie magisch in den Bann zog. Dann aber richtete sie sich auf, setzte den Gehstock auf den Boden und ließ den Blick weit über das Tal schweifen.
„Es gab einmal eine Zeit, in der Männer Steine zum Leben erwecken konnten und Bäume, die ihnen nachwanderten, wie treue Hunde. Es waren Männer mit überdurchschnittlich großen Herzen. Wenn sie liebten, waren sie in der Lage, allein durch den Klang ihrer Stimme, den unbeseelten Dingen Leben einzuhauchen. Ein Wort aus ihrem Mund“, flüsterte sie, „und das Meer drängte als Flut auf das Land.“
Die Alte schnaubte und nickte.
„Als die Bienen von mir gingen, wusste ich, dass einer kommen würde, der diese Gabe besitzt.“
Sie schaute die drei Männer an, einen nach dem anderen.
„Jetzt sind drei gekommen“, sagte sie,
„die diesen einen mit sich tragen.“
„O ihr Herrscher des unterirdischen Reiches, gönnet mir, Wahres zu reden…“
Gustav Schwab
Irgendwo hinter der Bühne hatten sie seinen Kopf.
Kikki standen Schweißperlen auf der Stirn. Sie wankte auf den Zehenspitzen und keuchte, als sich ein kräftiger Körper an ihr vorbei schob. Für einen Augenblick presste sich ihr ein steifes Glied gegen den Rücken, und zwei Hände nahmen ihre Schultern und zogen sie an sich. Dann ein Ton, eine Fanfare vielleicht, und der Druck und die Hände verschwanden, und Zehntausende bewegten sich wie ein Heer einen Schritt nach vorn.
Nur einen Schritt! Aber im selben Moment begannen sie in den vorderen Reihen zu schreien, und die Security warf sich auf Holzbalken, die die Absperrung zwischen Bühne und Fanraum abstützen sollten. Die Pfähle gruben sich tief in den Stadionboden, und die Betonfüße, in welche die Absperrung eingelassen war, bewegte sich Millimeter für Millimeter auf das Stahlgerüst zu, das sich über die Bühne wie eine gespreizte Hand erhob. Als wollten sie eine gewaltige Kavallerie aufhalten, stachen die Stahlfinger in den Himmel.
An den Enden der hoch aufragenden Stangen flatterten schwarze Fahnen, von denen sich das leuchtend weiße Bild eines Schildkrötenpanzers abhob. Ohne Kopf, ohne Beine, nur das ovale Rund, über das sich feine, weiße Linien wie Gitarrensaiten zogen. Darüber ein Name, der Name - einer, den man nie vergessen würde, wenn man ihn einmal gehört hatte. Kikki hielt den Atem an.
„Orpheus…
…Orpheus!“
Der sternenklare Himmel war in undurchdringliches Schwarz getaucht. Kein einziger Stern, nichts. Es konnte einen verrückt machen, wenn man zu lange hinsah, auch wenn man wusste, dass oben auf dem Dach des Stadions die Spotlights gen Nachthimmel gerichtet waren und das Sternenlicht förmlich auffraßen, bevor es sie hier unten erreichen konnte. Kikki wurde gestoßen und geriet in die Schraubzwinge einer Gruppe von Back-Sabbaths, die sie mit genieteten Lederjacken aufs Korn nahmen. Sie duckte sich weg und kam irgendwo hoch, den Mund weit offen und keuchend.
Luft!
Dann kam das Kreischen. Junge Frauen wühlten sich an den Leibern von Unbekannten empor und bestiegen sie wie lebendige Felsen. Ein starker Geruch stieg auf, der den markanten Gestank von alkoholisiertem Atem überdeckte. Die jungen Frauen wurden irre und pressten ihre Schöße in die Nacken von Männern, wegen derer sie sonst die Straßenseite gewechselt hätten. Sie ließen sich Schnapsflaschen hinaufreichen und begossen mit dem Inhalt ihre Brüste. Kikki wurde emporgehoben und spürte einen heißen Atem an ihrem Becken, als irgendwo ganz in der Nähe eine riesige Stichflamme hochging und ins Nachtschwarz verpuffte. Und das war genau in dem Augenblick als Judd Randall die Saiten seiner schwarzen E-Gitarre anschlug und die Rückkopplung ganz vorn eine Massenpanik auslöste.
Niemand kommt da raus, dachte Kikki und rutschte über einen heißen, kahl rasierten Schädel auf breite, muskulöse Schultern.
Niemand, dachte sie.
Jetzt nicht mehr!
Es hatte viele Rockbands in den letzten Jahren gegeben. Gute und Schlechte. Das war wie das Einmaleins des Rock`n´Roll. Wer blieb, wurde entweder irre oder das Heroin mistete den ganzen Laden aus, bis nur noch die Bassisten auf der Bühne standen und schwankende Schlagzeuger, die nach jedem Song nach hinten zu kippen drohten. Der Alkohol holte sie alle. Gute Gitarristen suchte man gewöhnlich in der Entzugsklinik oder in der Irrenanstalt. Hepp Dean, der Songwriter und Frontmann von Under Down hatte angeblich epileptische Anfälle bekommen, wenn er nur eine Gitarre zu Gesicht bekommen hatte. Aber das war nie jemandem aufgefallen, jedenfalls nicht solange er auf der Bühne stand. Im Sanatorium hatten sie ihm dann Elektroschocks verpasst, bis sein Gehirn nur noch ein großes Schwarzes Loch war, in dem alles auf Nimmerwiedersehen verschwand. Man konnte dieses Schwarze Loch in seinen Augen sehen, hieß es. Und was aus Billy Pikes geworden war, der nach einem Besuch bei ihm nie wieder gesehen wurde, konnte sich jeder, der von der Sache wusste, selbst zusammen reimen.
Er war ein seinen Augen verschwunden, sagten sie. Billy Pikes war durch die Augen von Hepp Dean in das Schwarze Loch in seinem Schädel gezogen worden.
Aber das war nichts gegen Orpheus. Nein, scheiße! Nichts konnte dagegen an. Das Schwarze Loch von Hepp Dean war nichts weiter als eine gekräuselte Rosette im Gegensatz zu dem, was man sich über Orpheus erzählte. Und dabei hatte Sol Stark nie Drogen genommen, nie getrunken oder mit Frauen rumgemacht. Sol Stark hatte mit dem Rücken zum Publikum gespielt, sich nie umgedreht. Er hatte nie Zugaben gegeben, war einfach abgegangen, wenn das Set gespielt war. Die meisten hatten ihn gehasst; so sehr hatten sie ihn geliebt. Und die großen Tourenveranstalter hätten sich lieber den Strick genommen, als diese Band mit diesem Frontmann zu verpflichten. In London hatten vierundzwanzigtausend Fans nach dem Konzert 94 die Bühne gestürmt und die Aufbauten bis auf die Grundfesten niedergerissen. Das Equipment war im Feuer aufgegangen, und der Veranstalter hatte sich noch in derselben Nacht mit einem Derringer in den Kopf geschossen.
Danach schrieb Sol Stark den Song bullitt in your head, und er hielt sich sechs Wochen auf Platz eins der US-Charts.
Aber nur ein halbes Jahr später war es vorbei. Alles war vorbei. In Birmingham schnitten sie Sol Stark den Kopf ab. Angeblich waren es betrunkene Frauen, einige Hundert, die die Bühne stürmten und sich mit Cuttern und Taschenmessern über den Mann hermachten.
Er soll bis zum Schluss gesungen haben. Auch als der Kopf schon vom Rumpf getrennt worden war.
Natürlich war das unmöglich, jedenfalls sagten das die Ärzte.
Aber einige glaubten es.
Aus den Lautsprechern dröhnte Judd Randalls Gitarrensolo zu thin´ abou´. Kikki sah seine scharf geschnittene Gestalt hinter den Vorhängen verschwinden, um nur Augenblicke darauf auf einer Empore zu erscheinen, die sich in schwindelerregender Höhe über der Bühne erhob. Sie spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte, als der Kahlkopf unter ihr ihre Kniekehlen presste und den muskelbepackten Nacken in ihrem Schoss wand. Sie riss die Hände in die Höhe und kreischte, als das Gitarrensolo endete und Dan Dan in der Mitte der Bühne auf das Schlagzeug einhämmerte, das sich um ihn herum wie ein Turm erhob. Der Schlagzeuger trug Ketten an Händen und Füssen. Ein irres Bild! So als würde Dan Dan davonfliegen, wenn er könnte. Herman Wall stand links und spielte den Bass mit einer eisernen Spore. Er trug noch immer ein schwarzes Trauerband am Oberarm, obwohl die Sache mit Stark nun schon über zehn Jahre zurück lag. Wenn er aufschaute, konnte man das Glitzern in seinen Augen noch auf hundert Meter sehen. Er hatte sich zwei silberne Tränen in die Haut unter den Augen implantieren lassen. Bei Schwarzlicht schimmerten sie durch die Haut, als wären es Sterne.
Und dann warb da noch dieser Kasten, dieses schwarze Ding, das ganz vorne am Bühnenrand stand, auf irgendeinem wackligen Klapptisch. Jedes mal wurde das Publikum auf einen Schlag still, wenn Judd Randall diesen Kasten auf die Bühne trug und ihn hochhielt, sekundenlang.
Da drin war Sol Starks Kopf, hieß es. Der Dunkle, wie sie ihn nannten. Nur sein Kopf.
Und jedes Mal, wenn die Menge aus den Lautsprechern Sol Starks Stimme vernahm, wenn er sein thin´ abou´ in ihre Ohren brüllte, so als wäre er noch lebendig, dann redeten sie sich ein, dass seine Stimme vom Band kam, dass es ein Fake war, dass es nicht wahr sein konnte.
Aber Kikki konnten sie nicht täuschen. Sie spürte es in ihrem Schoss, in ihren Schenkeln, die sie wie Fangeisen um den Nacken des Kahlkopfes geschlungen hatte. Sie wusste, dass der Geruch ihn wahnsinnig machte. Sie spürte, wie er sich wand, wie die Musik und die Hitze ihm zu Kopf stiegen.
Sie sah auf die Bühne und krallte sich in den schwitzenden Schädel.
Dieser Gesang kam nicht vom Band!
Jede Faser ihres Körpers wollte es hinausschreien.
Es war der Dunkle…
Irgendwann musste sie stehen bleiben und einfach atmen.
Einfach nur atmen.
Ihre Knie flatterten, als wären es die Flügel einer Elster. Sie hielt sie fest und spürte das Zittern der Lippen und des Unterkiefers. Ihr Verstand rebellierte, als ihr der Geruch des Kahlkopfes in die Nase kroch, der zwischen ihren Beinen aufstieg, und sie sah wieder seinen kräftigen Brustkorb vor ihrem Gesicht, in den sie sich verbissen hatte. Sie hatte das Blut geschmeckt, seinen Schweiß, der in ihrem Kopf wie eine chemische Verbindung reagiert hatte. Sie hatte nichts gedacht, keinen Augenblick. Und die wilde Gewalt, mit der er sie genommen hatte, hatte sie fast um den Verstand gebracht.
Die Übelkeit und die Verwirrung ließen erst nach, als sie die Augen schloss.
Atmen, dachte sie, nur atmen.
Sie wusch sich im Fluss, so wie sie es als Kind immer getan hatte. Der Geruch, der ihr mit dem Schweiß aus allen Poren drang, ließ kaum nach, auch nachdem sie untertauchte und prustend aufstand. Um ihre Beine wirbelte die Strömung und etwas Lebendiges berührte sie.
Sie sah sich um. Sie hatte etwas gehört.
Rasch stieg sie aus dem Wasser und presste die noch immer feuchten Kleidungsstücke an ihre Brust. Sie blies sich das Wasser von der Oberlippe und starrte die Straße hinauf.
Das war ein Summen, dachte sie. Sie schaute in den Himmel und kniff die Augen zusammen; ein Flugzeug vielleicht. Dann kam ihr ein anderer Gedanke, und sie schreckte auf, als etwas über ihre Schulter krabbelte. Sie wischte es fort, und summend umschwirrte es ihren Kopf. Ein zweites Summen mischte sich hinein, dann ein drittes.
Sie duckte sich und stolperte vorwärts, während sich immer mehr Tiere in der Dunkelheit erhoben, als hätten sie in einem Nest darauf gewartet.
Sie erreichte die Straße und lief.
Und aus der Dunkelheit schälte sich eine Gestalt, mitten in einem schwarzen Schwarm, der lebendig mit ihm verwoben war.
Die Bienen sprachen zu ihm.
Er hatte darauf gewartet, dass die Bienen zu ihm kommen würden. Er hatte in der Dunkelheit, in einer Höhle auf sie gewartet. Tief da unten, wohin sich kein Tagtier verirrte. Nur Nachtwesen, denen er sich zuordnete, konnten in der Finsternis überleben, und er hörte sie knistern und über die Wände streichen, mit ihren Fühlern und Tentakeln. Sie waren wie er und liebten kalten Stein und den Regen, der durch den Felsen kroch.
Ob er einmal ein Mensch gewesen war? Einmal, vor sehr langer Zeit vielleicht. Aber seit er in der tiefen Düsternis des Unterirdischen weilte, hatte er alles abgelegt, was ihn zu einem Menschen gemacht hatte. Er war gänzlich frei davon und ließ sein Gehirn Welten umspannen, in denen kein Platz für Rührseeligkeiten oder auch nur der Anflug eines Gefühls war. Nicht einmal hassen konnte er, und er hätte nicht gewusst, was damit gemeint war; selbst wenn man ihm Hände und Beine abgeschnitten hätte - er hätte den Vorgang mit Gleichmut verfolgt.
Und es war der Augenblick absoluter Freiheit und absoluter Leere und Dunkelheit gewesen, als ein Tier vom großen Volk in das Unterirdische kroch. Vermutlich, um zu sterben, so dachte er, als es sich ihm summend zuwandte.
Auf seinem Handrücken setzte es sich nieder und tanzte.
Das rhythmische Säuseln der Flügelpaare, das Trippeln der Beine erzeugten Muster in den Nervenenden seiner Oberhaut und wurden weitergetragen zu längst vergessenen Synapsen, rudimentären Schaltstellen, die keine Worte in seinem Kopf erzeugten – nur Bilder von klarster Harmonie.
Und plötzlich sah er vor seinem inneren Auge Blütenmeere, in denen Mohn und Ginster brandeten. Er sah Larven, die sich im engen Fünfeck zwirbelten und eine Königen, die nicht weniger schön war, als das Leben selbst, würde es vom Auge des Unlebendigen betrachtet. Er sah die sonnendurchfluteten Felder vor dem hoch aufragenden Felsenmassiv, in dessen düstere Höhlungen er sich einst zurückgezogen hatte.
Als er schließlich aufstand, wusste er, dass seine menschliche Stimme ohne Bedeutung war.
Er zischte und summte und krümmte und streckte sich. Sogar die Gelenke knisterten, die Muskeln redeten, die Knochen flüsterten. Und sein ganzes Selbst begann zu sprechen.
„Lass sie zu mir kommen“, sprach es,
„all die Hunderttausend.“
Herman Wall hielt das Richtmikrofon in die Dunkelheit. Irgendwas war da draußen passiert, hatte der Kopf gesagt.
Die Scheinwerfer des schwarzen Ford Mustang schnitten in die Nacht und leuchteten die Felsen an, die wie gebückte, alte Männer den Abhang an der Straße säumten. Die Bäume an dieser Straßenseite waren uralt. Die gespaltenen Stämme sahen aus, als wären sie auf dem Weg. Irgendwohin, im Schritt erstarrt.
Wall kniff die Augen zusammen und ließ das Band zurückspulen.
„Hört sich wie ein Bienenschwarm an“, flüsterte Judd Randall, als sie sich die Aufnahme anhörten.
Wall schaute auf und drehte die Zigarette zwischen den Lippen. „Nicht in der Nacht“, sagte er. „Bienen fliegen nicht nachts.“ Er spuckte auf den Boden und Tabakrauch stieg um sein Gesicht auf.
„Aber Köpfe reden auch nicht“, hielt Randall dagegen.
Wall sah ihn an und warf die Zigarette auf den Boden.
Er spulte das Band noch einmal zurück, drückte Play und lauschte.
„Verdammte Scheiße, hört sich wie ein Bienenschwarm an“, sagte er.
Der schwarze Mustang stand seit den frühen Morgenstunden auf der Hauptstraße und Herbert Mullow hatte Frank Mead angerufen. Die Hitze war erdrückend.
Der Officer stieg aus dem Wagen und hielt die Hand über die Augen. Er sah über die Straße und beobachtete, wie eine junge Frau mit einem Kinderwagen unsicher auf dem Gehweg innehielt und den schwarzen Mustang betrachtete. Etwas schien sie zu beunruhigen. Obwohl der Verkehr um diese Uhrzeit nicht unerheblich war, zog sie es vor, lieber mit dem Kinderwagen die Straßenseite zu wechseln, als in die Nähe des schwarzen Fahrzeugs zu kommen. Mead schüttelte den Kopf und brummte. Er zog eine Coke aus der Kühltasche auf dem Beifahrersitz, öffnete sie und trank.
Als er die Straße überquerte, nickte er der jungen Frau aufmunternd zu und erntete ein unsicheres Lächeln. Unter dem Türrahmen eines Gemischtwarenladens stand Herbert Mullow mit verschränkten Armen. Auf der Fensterscheibe gleich daneben stand in großen Buchstaben all you need.
„Was nutzt es, wenn da all you need steht, wenn sich keiner an diesem schwarzen Ding vorbeitraut“, sagte Mullow mürrisch, als Mead sich zu ihm gesellte und an der Coke nippte. „Kommt Rachel wegen des Wochenendeinkaufs vorbei?“, fragte er.
Mullow schüttelte den Kopf. „Sie fährt heute ausnahmsweise zum Mart, hat sie gesagt. Der am anderen Ende der Stadt. Da fährt sie sonst nie hin.“
„Und Carson?“, fragte Mead.
„Hab seinen Jeap gesehen, kurz, ist nicht mal ausgestiegen.“
Mead schnalzte mit der Zunge und kratzte sich das Kinn.
„Man kann keinem Mann verbieten, da zu parken, wo es erlaubt ist“, sagte er nachdenklich.
„Aber er kann doch auch wo anders parken“, zischte Mullow wütend. „Und muss es gerade so ein schwarzes Ding sein? Mit diesen schwarzen Scheiben? Da kriegt man es ja mit der Angst!“
Mead betrachtete die getönten Scheiben des schwarzen Mustangs und ein kehliger Laut entfuhr ihm. Mit der Angst bekam er es nicht gerade zu tun.
„Was, wenn sie da drin Gewehre haben?“, fragte Mullow.
Mead nippte abermals.
„Man kann einem Mann auch nicht verbieten, ein Gewehr in seinem Auto zu haben“, sagte er. „Du hast doch auch eins in deinem Wagen.“
Mullow stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Ich kann es mir nicht leisten, den ganzen Tag herumzustehen und zu quatschen. Es muss doch möglich sein, den Wagen von hier wegzuschaffen. Ansonsten kann ich gleich dicht machen. Geh ich eben nach Denver“, warnte er, „da machen sie keine langen Geschichten. Da werden solche einfach aus der Stadt gejagt.“
Mead zog die Augenbraue hoch und sah Mullow von der Seite an. „Na na!“, sagte er und ging über den Fußweg und umrundete den schwarzen Mustang. Er notierte das Kennzeichen und blieb an der Beifahrertür stehen. Mit dem Boden der Coke klopfte er gegen die Scheibe und ließ beiläufig die Hand zu seiner Dienstwaffe sinken. Als die Fensterscheibe sich senkte, bückte er sich und musterte das Innere.
„Na, nicht zu heiß da drin“, fragte er, als ihm ein Schwall abgestandener, heißer Luft entgegenkam. Im Inneren des Wagens sah er drei Männer in schwarzer Lederkleidung, die sich müde reckten, als wären sie eben gerade erwacht.
„Ist was nicht in Ordnung“, fragte der, der ihm am nächsten saß und strich sich durch das kurze, dunkle Haar.
„Das würd ich Sie gern fragen“, meinte der Officer und musterte den Mann in Schwarz.
„Kommt drauf an“, antwortete er.
„Worauf“, fragte Mead.
„Ob was nicht in Ordnung ist.“
Frank Mead war ein Mann ohne musikalischen Sachverstand. Er hörte alles, wie man so schön sagte. Aber er legte großen Wert darauf, dass sich ihm die Musik nicht aufdrängte und ihn nicht verrückt machte. Er hatte etwas an sich, was man eine Ader dafür nannte. So wie andere trockene Alkoholiker waren, so war Frank Mead trocken von der Musik geworden. Wenn er das Kofferradio auf seinem Schreibtisch einschaltete, dann achtete er darauf, dass die Musik nicht zu speziell war.
Speziell war das richtige Wort, dachte Mead und legte die Beine hoch. Hinter ihm in den Zellen waren unruhige Schritte zu hören, während aus dem Radio eben jene unspezielle Popmusik klimperte, die einen Mann wie Mead nicht verrückt machen konnte.
Mead hatte das Kennzeichen des schwarzen Mustangs am Mittag durchgegeben und vermutete, dass das Problem erst nach Abflauen der Mittagshitze bearbeitet werden würde.
Er vermutete richtig. Gegen achtzehn Uhr erreichte ihn der Rückruf, als im Radio top of the pops angekündigt wurde.
Im Radio quengelte das fistelige Stimmchen einer angesagten Neunzehnjährigen, als Mead sich in seinem Schreibtischstuhl umwandte und nickte.
„Ach wirklich“, fragte er und sah die Männer in den Arrestzellen mit großen Augen an.
„Ist nicht war“, sagte er.
„Und du meinst, das sind diese Jungs?“
Er lachte kurz auf, als der Beamte auf der anderen Leitung einen Witz machte und verabschiedete sich.
„Na, wenn da nicht das Pferd im Stall verrückt wird“, brummte Mead und stand von seinem Schreibtischstuhl auf.
Die drei Männer in der Arrestzelle waren ebenfalls aufgestanden und an die Gitterstäbe getreten.
„Nicht so verrückt wie wir, wenn Sie nicht bald diese Sirenenmusik ausmachen“, sagte Judd Randall und nickte in Richtung Kofferradio, aus dem die fistelige Stimme der Neunzehnjährigen wie eine todbringende Warnung plärrte.
Frank Mead machte einen Schritt zurück und drehte das Radio ab, ohne sich umzudrehen.
„Früher haben sie sich hier unten Bienenwachs in die Ohren gegossen“, sagte er.
Die drei Männer entspannten sich, als der grauenhafte Klang der Musik verebbte. Judd Randall ließ die Nackenwirbel knacken.
„Diese Zeiten sind endgültig vorbei, Mister“, sagte er.
Am Straßenrand, an dem sich der Little River entlang schlängelte, hatte Dave Ulster die Kleidungsstücke einer Frau entdeckt. Roch nach Fotze, wie er sagte, bevor er sich hastig verbesserte. „Nach so was eben“, sagte er und senkte mit rotem Kopf den Blick. Frank Mead stutzte, als Ulster ihm die Sachen in die Arme drückte. Er hielt die Nase darüber und schnupperte. „Schon gut, Dave“, sagte er und legte die Kleidungsstücke beiseite. „Ist schon wie du sagst. Nach so was eben.“
Ulster nickte verlegen. „Die kleine Kikki Dern ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.“
„Die Kleine?“, fragte Mead. Sie war schon Mitte zwanzig, aber eben zierlich. Darum nannten sie alle die Kleine. Sie wechselte ihre Sexualpartner wie andere die Unterwäsche. Darum passte die Verniedlichung nicht ganz. Aber manche nannten Dave Ulster auch Sly, was soviel wie listig bedeutete. Trotzdem traf der Spitzname ebenso wenig auf Dave Ulster zu, wie das Klein auf Kikki Dern.
„Vielleicht ist sie ja ertrunken“, sagte Dave Ulster und kniete sich ans Flussbett.
Frank Mead stand daneben und machte sich eine eiskalte Coke auf. „Von hier bis hoch zur nächsten Biegung ist das Wasser gerade hüfthoch. So klein war sie nun auch nicht.“
Ulster sah ihn von unten an und schien ernsthaft nachzudenken. Frank Mead wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah auf den Boden. Etwas Dunkles lag im trockenen Gras. Als er sich hinkniete, um es mit Daumen und Zeigefinger aufzuheben, gab Dave Ulster einen quiekenden Laut von sich und stand kerzengerade auf.
„Bienen!“ Er musste einen Angstschrei unterdrücken.
Als Frank Mead das Insekt, das er entdeckt hatte, vom Boden auflas, sah er, dass die Tiere überall im Gras verstreut lagen.
„Keine Sorge, sie sind tot“, sagte Mead.
Ulster versuchte sich zu beruhigen.
„Gut“, sagte er und prustete erleichtert.
Frank Mead betrachtete das Tier und schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht“, sagte er und tippte das Insekt in seiner Hand an, das völlig schwarz gefärbt war.
„Ich glaube nicht, dass das gut ist.“
Der Kopf hatte ihnen verraten, dass es eine Unterwelt gab, ein Labyrinth.
„Das war einmal ein Bergbaugebiet“, sagte Judd Randall, als sie an einer verfallenen Farm aus dem schwarzen Mustang stiegen. Dan Dan, der bis dahin still gewesen war, zog die Sonnenbrille die Nase herunter und blinzelte den Abhang hinab, an dessen Senke ein hölzerner Zaun die Sicht versperrte.
„Es riecht süß hier“, sagte er und ging voraus, während Herman Wall sich den schwarzen Kasten unter den Arm klemmte und den Blick über die Anhöhen schweifen ließ, die das Tal, in das sie hinab stiegen, wie einen Halbmond gürtete. Es konnte durchaus sein, dass es hier hunderte von verlassenen und verfallenen Schächten gab. Aber es machte keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen. Der Kopf würde ihnen keine weiteren Hinweise geben. So war es nie gewesen. Der Kopf war nur die Stimme eines Gefühls oder eines Gedankens, den er aus auf unerklärliche Weise aus der Zwischenwelt aufsog. Eine Welt, mit der nur diejenigen Kontakt aufnehmen konnten, die tot und lebendig zugleich waren. So wie der Kopf, der lebendig war, durch einen unsichtbaren Faden verbunden mit dem toten Körper, den sie bei Birmingham beerdigt hatten.
Am Fuß des Abhanges gingen sie den hölzernen Zaun entlang, bis zu einer Stelle, wo das mannshohe Bollwerk sich plötzlich öffnete. Dan Dan war ein Stück voraus und bereits durch die Lücke gestiegen, und sie fanden ihn mitten in einem wilden Durcheinander umgestürzter Bienenkästen, aus denen die zerstörten Wabenrahmen wie herausgerissene Schubladen hingen. Die Stille, die über dem riesigen Areal hing, war erdrückend. Auf dem Boden lagen Wabenzangen und Smoker, als hätte sie jemand mitten in der Arbeit fallen gelassen und wäre davon gestürzt. Wabenreste wurden vom Wind umhergetrieben und türmten sich an dem Holzzaun auf. Dan Dan hob den Smoker auf und roch daran. Er schüttelte den Kopf und steckte das Gerät in einen Lederbeutel, den er am Gürtel trug.
Unweit der Bienenkästen, von denen Judd Randall vermutete, dass sie einmal einige dutzend Bienenvölker beherbergt hatten, erhob sich der heruntergekommene Rest eines Wohnhauses, an das sich eine zusammengekrümmte Scheune anschloss. Aus dem Tor gaffte sie das breite Maul eines Lastwagens an, dessen Führerhaus aus dem Inneren herauslugte.
„Jemand zuhaus“, rief Judd Randall und nahm die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Er faltete die Bügel zusammen und schob die Brille in die Innentasche seiner schwarzen Lederjacke, als das Fliegengitter der Eingangstür von einem Windstoß aufgeschlagen wurde.
Im Inneren des Hauses hörte er langsame Schritte, als wäre jemand erwacht und taumelte noch schlaftrunken über die Diele. Dann hielten die Schritte inne und Stille trat ein.
Die drei Männer sahen sich an. Die Leute fackelten hier nicht lange, wenn es um das unberechtigte Betreten ihres Eigentums ging, und es war kein schöner Gedanke, hier im Staub mit einer Schrotladung im Bauch zu verrecken.
„Hören Sie, wir wollen keinen Ärger machen“, sagte Randall vorsichtig, als sich die Eingangstür öffnete.
„Das will ich hoffen“, bekamen sie zur Antwort und eine zierliche Frau erschien im Türrahmen, die sich auf einem Gehstock abstützte, den sie am Knauf in die Hüfte stemmte. Die drei Männer tippten sich höflich an die Stirn.
„Mam.“
Die alte Frau verdrehte die Augen und kicherte.
„Blödsinn!“ Sie musterte die Männer in der schwarzen Lederkleidung und schüttelte den Kopf. „Wie kann man nur so bescheuert sein und mit schwarzen Klamotten in der Sonne rumstehen! So was Dämliches hab ich nicht gesehen, seit dieser Lipman in der Wüste einen Brunnen graben wollte.“
Herman Wall wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Es ist verdammt heiß, Mam“, sagte er und nickte.
Die alte Frau stand im Schatten der Veranda und musterte sie nachdenklich, bevor sie mit der knochigen Hand eine fortwischende Bewegung machte, als würde sie einen Zweifel vertreiben.
„Jetzt kommt schon in den Schatten, Jungs! Die Hitze hat Euch das Gehirn weich gekocht.“ Sie schüttelte den Kopf und stakste zielstrebig über die Veranda, um sich in einen Korbstuhl sinken zu lassen.
„Mam!“, stieß sie amüsiert aus und schüttelte den Kopf, als wäre es das dümmste, was sie je gehört hatte.
„Was für ein Blödsinn!“
Das Summen der Bienen und das Flüstern ihrer Beinpaare auf seiner Haut, bereiteten ihm eine Erektion, die so stark war, dass er unvermittelt aufheulte und in die Knie ging. Der Schwarm streichelte ihn wie eine liebende Hand, und die Bienen strichen und melkten seinen Unterleib, bis er kreischend zum Orgasmus kam. Die Bienen krochen von seinem Gesicht und offenbarten die schmerz- und lustverzerrte Züge. Mit den Mundwerkzeugen aus Chitin säuberten sie seinen Körper, nahmen jeden Tropfen von Schweiß und Samen auf und trugen ihn fort.
Als er aufstand, und die Bienen ehrfürchtig vor ihm auseinanderstoben, war er jung und schön, als wäre er im selben Augenblick geboren worden. Seine Fingernägel waren sauber beschnitten, die Haare bis auf die Kopfhaut abgenagt, die Haut von jeder Schuppe befreit und ohne Makel.
Er hatte ihr Licht gemacht, damit ihn sehen konnte. Auch hatte er ihr erlaubt, ihr T-Shirt zu tragen, das sie über die angezogenen Knie gezogen hatte, um so viel wie möglich seinem durchdringenden Blick zu entziehen. Aber er wusste, dass es nicht genug war, um alle Stellen zu verdecken, und dass er damit ihren Willen Stück für Stück zerbrach, viel mehr, als hätte er sie gezwungen, nackt zu sein. Mit jedem Augenblick, in dem er jene Stellen musterte, die sie nicht verdecken konnte, bröckelte ihre Selbstachtung wie ein Rinnsal von feinstem Sand von ihrer Fassade ab. Und zurück blieb nur die nackte, um ihrer Selbst willen existierende Kreatur. Und bald würde sie bereit sein, alles zu tun, nur damit sie weiterlebte. Nichts weiter als das. Keine Kompromisse. Nur leben.
Dann würde sie bereit sein.
„Ich wusste, dass ihr eines Tages hier auftauchen würdet.“
Die alte Frau, die in dem Korbstuhl saß, ließ ihren Worten eine sehr lange Pause folgen, dass Judd Randall unsicher auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Dan Dan hatte mit einem Strohhalm das Eis in einem großen Glas mit Eistee klimpern lassen und hielt plötzlich inne, über den Rand der Sonnenbrille aufblickend.
Die alte Frau sah sie nacheinander eindringlich an und legte den Kopf schief.
„Aber irgendetwas stimmt nicht mit euch Jungs“, sagte sie nachdenklich. Sie presste die Lippen aufeinander, als suchte sie nach den richtigen Worten.
„Ihr seid nicht ganz“, sagte sie schließlich stockend.
„Ihr seid nicht vollständig“, sagte sie laut und klopfte mit dem Knöchel des Mittelfingers auf den wurmstichigen Verandatisch. „Wie beschnittene Schwänze, verdammt!“
Herman Wall wurde rot, und die Alte winkte ab. Ihr Blick folgte dem von Judd Randall, der hin zu dem schwarzen Kasten gezuckt war, den er auf dem Boden abgestellt hatte.
Für einen Augenblick schien die Alte nachzudenken.
„Das ist der Grund, warum ihr hier seid, nicht wahr?“
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und knarkste über die Veranda zu dem Kasten und beäugte ihn.
„Ich wusste, dass ihr nicht die Gabe habt“, sagte sie und beugte sich vor. Mit der Muffe des Gehstocks kam sie auf Millimeter an den Kasten heran, ohne ihn zu berühren.
„Er hat sie“, sagte sie scharf.
„Das, was da drin ist, hat sie.“
Der Gehstock zitterte in ihrer Hand, und sie schien mit dem Gedanken zu spielen, den schwarzen Kasten zu berühren, der sie magisch in den Bann zog. Dann aber richtete sie sich auf, setzte den Gehstock auf den Boden und ließ den Blick weit über das Tal schweifen.
„Es gab einmal eine Zeit, in der Männer Steine zum Leben erwecken konnten und Bäume, die ihnen nachwanderten, wie treue Hunde. Es waren Männer mit überdurchschnittlich großen Herzen. Wenn sie liebten, waren sie in der Lage, allein durch den Klang ihrer Stimme, den unbeseelten Dingen Leben einzuhauchen. Ein Wort aus ihrem Mund“, flüsterte sie, „und das Meer drängte als Flut auf das Land.“
Die Alte schnaubte und nickte.
„Als die Bienen von mir gingen, wusste ich, dass einer kommen würde, der diese Gabe besitzt.“
Sie schaute die drei Männer an, einen nach dem anderen.
„Jetzt sind drei gekommen“, sagte sie,
„die diesen einen mit sich tragen.“