Der Engel

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Der Engel
tastet in mir so
bestimmt nach etwas,
das selber doch
noch keinen Namen trägt,
als könnten seine Fingerspitzen
sehen.

Und wie mein Herz
im Takte seiner leichten
Flügel schlägt,
erschaffe ich das, was er
sucht in mir – im
bloßen
Widerstehen.

Er ringt mit mir,
mein ganzer Leib wird Schwelle,
und wie er so um uns die Flügel breitet,
mich nie verlässt und doch
mich darin gänzlich überschreitet
(ohne je mich einmal zu verlassen),
spüre ich es tief in seinem
zitternd goldenen Fassen.
Mein Gott, wie sehr er selber
diesen Kampf durchleidet!

Wer hat ihn bloß so tief
in diese schwere Welt gekleidet?
Wer könnte so sehr lieben,
so sehr hassen?

Wir ringen,
bis ich nicht mehr weiß,
ob ich ihn oder er mich hält.
Und seine Schwingen –
eine steigt, da bin ich hingeschnellt,
und eine fällt.
Und wie der Mond sein Angesicht
erhellt,
da ist es voll mit fürchterlichen
Dingen.

Seine Gewalt ist zärtlich,
königlich wie Knospen,
wenn das Leben sie zerbricht.
Und wenn aus ihrem Tode Blüten knospen,
war es alles nicht umsonst,
und das, was falsch schien,
war es nicht.

Ungeborenes ist seine Schwere,
die in mir ringt –
an der zerbreche ich,
während sein Flügelschlagen singt.
Und wie ein Wort am Unsagbaren bricht,
so ist auch mein Zerbrechen
vielleicht
notwendig.

Text Dve
Musik ki

 
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Frodomir

Mitglied
Lieber Dionysos von Enno,

ich habe dein Gedicht mit großem Interesse gelesen. Im Moment scheint deine Lyrik nach dem Sein hinter der Physis zu suchen. Dadurch eröffnet sich eine Dichotomie zwischen der phänomenalen, anfassbaren und fühlbaren Welt auf der einen Seite und andererseits einer Sphäre des Reinen und Eigentlichen. Dabei erlebt der Leser deines Gedichtes sowohl den Genuss, dieses Reine im Bilde des Engels erahnen und vielleicht nachspüren zu dürfen, aber er sieht sich auch konfrontiert mit der wohl allen Menschen betreffenden Erfahrung des Leidens am Weltlichen.

Es ist im Zuge dessen beachtenswert, dass du das Metaphysische selbst leiden lässt, während es in den meisten religiösen oder esoterischen Strömungen als unantastbar von äußerem Einfluss gilt. Aber bei dir ist es der Engel selbst, welcher beinahe gefangen im Menschen mit dieser Welt das Leiden und den Schmerz kennenlernen muss:

Mein Gott, wie sehr er selber
diesen Kampf durchleidet!
Wer hat ihn bloß so tief
in diese schwere Welt gekleidet?
Wer könnte so sehr lieben,
so sehr hassen?
Die hier zitierte Passage richtet in ihren letzten Versen unausgesprochen eine unglaublich existenzielle Frage an die Idee eines Schöpfers: Wie, um alles in der Welt, konntest du, Schöpfer, deiner eigenen Reinheit es antun, in diese als Hölle empfunde Welt geworfen zu sein? Und wie schön ist es doch andererseits, dass dieses Wunderbare auf unserer Erde, ja in unseren Seelen selbst, verankert wurde? Was für eine Literatur!

Und als würde dies nicht reichen, um mir die intensivsten Gefühle, die ein Gedicht nur irgendwie auslösen kann, zu bescheren, nimmst du in Strophe 4 auch noch Rilkes Panther und führst uns vor Augen, dass es doch wir in unserem Wesentlichen sind, die wie dieses arme Tier eingesperrt sind im Phänomenalen der Welt:

Wir ringen,
bis ich nicht mehr weiß,
ob ich ihn oder er mich hält.
Und seine Schwingen –
eine steigt, da bin ich hingeschnellt,
und eine fällt.
Und wie der Mond sein Angesicht
erhellt,
da ist es voll mit fürchterlichen
Dingen.
Im Vergleich dazu Rilke:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
In beiden Auszügen ist das entscheidende Verb halten. Damit stellt sich die existenzielle Frage nach unserem Aufgehobensein in einer als feindlich wahrgenommen Umwelt und, denkt man dies konsequent zu Ende, ist dies die Frage nach der Existenz der Wesen an sich, welche, und das schwingt für mich in deinem ganzen Gedicht entscheidend mit, ohne Liebe nicht denkbar ist.

Ich empfinde gerade eine Mischung aus Staunen vor der großen Poesie deines Werkes und dem Gefühl, weinen zu müssen, weil es mich so berührt. Es gibt in deinen Versen eigentlich noch viel mehr zu entdecken, aber ich hoffe, du verzeihst, wenn ich mich nun ob meiner Emotionen erstmal mit anerkennenden Grüßen empfehle.

Frodomir
 
Hi @Ubertas ubi: Das Bild, das Fingerspitzen Flügel werden ist eine schöner Weiterflug.. gefällt mir sehr!

@Frodomir: Das hast du für mich wunderbar auf den Punkt gebracht! Die liebe ist für mich immer schon der "Stein der Weisen" gewesen, der "Heilige Gral" und alle meine Gedichte kreisen letztlich um dieses holistische Agens und lgleichzeitige Getragensein immer auf der Suche nach einem "Dahinter" - einer einheitlicheren Welt hinter dem trennenden (und überlebensntotwendigen) Reduktionismus der Vernunft, einer "coincidentia oppositorum"

In diesem Gedicht stellst du das Verb "Halten" auch noch einmal heraus und findest Parallen, die ich selber so gar nicht gesehen habe und die mir selbst eine neue Perspektive eröffnen. Möglicherweise kreisen die Fragen rund um dieses "Halten" auch um das Aufgehen in einer größeren Einheit.

Das Gedicht schöpft aus dem prometheischen Kampf des Menschen mit seinem Schöpfer, 1. Mose 32, aber auch des Schöpfers mit seinem Geschöpft und es ist für mich auch eine weitere, kleine Meditation auf die alte und große Mediation des "horror vacui".

mes compliments

dio
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Dionysos,

vielen Dank für deine Antwort. Nun, könnte man aus deinem ersten Absatz vielleicht die Sentenz schlussfolgern: Die größten Dichter haben nie geschrieben? Manchmal glaube ich das fast. Du hast es schön ausgedrückt, wie deine Texte um dieses Unsagbare kreisen, so wie bei Rilke vielleicht: Ich kreise um Gott, um den uralten Turm...

Den Begriff horror vacui kannte ich in seiner lateinischen Variante noch gar nicht, vielen Dank für die Erweiterung meiner Bildung.

Liebe Grüße
Frodomir
 

mondnein

Mitglied
Seine Gewalt ist zärtlich,
königlich wie Knospen,
wenn das Leben sie zerbricht.
Und wenn aus ihrem Tode Blüten knospen,
Daß "seine Gewalt" "zärtlich" ist, ist einerseits eine beliebte Phrase, gehört deshalb nicht in ein gutes Gedicht, es sei denn, diese Information wäre neuartig, originell oder gegen den Rest des Gedichts gewendet, als innerer Widerspruch zum gemalten Engel.
Das Adjektiv "königlich" (abgesehen davon, daß in der lyrischen Sprache Adjektive vermieden werden sollten, aber das wäre eine abgehobene ästhetische Kriterien-Diskussion) setzt die Zärtlichkeitsphrase von der "Gewalt" mit einer Wertungs-Steigerung fort, wobei auch hier die "zärtliche Gewalt", die den Knospen in dieser märchenhafter Überhöhung zum "Königlichen" zugeschrieben wird, weder mit einer konkreteren Füllung noch mit einer sinnlicheren Metapher belegt wird.
Aber gerade diese etwas hohle, zu hoch gegriffene, unbescheidene Metapher kippt in den Bildbruch, indem diese "Knospen" vom "Leben" zerbrochen werden. Schon wieder ein zu großes Wort, das vom "Leben".
Unpoetisch.
Und last but not least die Wiederholung des Knospens, der Blüten, die aus nichts geringerem als dem armen Tod hervorknospen, weils so schön war, noch mal: sie knospen.

Wie sagt Jean Grenouille, der engelhafte Mörder bei Patrick Süskind, nachdem er "Amor und Psyche" aus einem Chaos unbekannter Egredientien hervorgezaubert hat? "Es ist aber kein gutes Parfüm."

grusz, hansz

P.S.:
Und wie ein Wort am Unsagbaren bricht,
so ist auch mein Zerbrechen
unsäglich unbescheiden
 



 
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