Der Engel mit der Maske

Ebl

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Sie ging allein zum Jahrmarkt. Nicht, weil es ihr an möglicher Begleitung gefehlt hätte, nein, davon war reichlich da. Aber sie hätte all die falschen Gesichter, die ihre Welt bisher ausgemacht hatten, nicht ertragen, auch wenn sie selbst ein solches trug. Nun gab es diese zwar auch hier, doch sahen die sie nicht an, wenigstens nicht lange und nicht so, als wüssten sie Alles.
Am Tag zuvor war sie auch hier gewesen, mit ein paar Freunden. Sie hatten sich die „Freakshow“ angesehen und der „Sohn von Teufel und Sirene“ hatte sie tief berührt. Etwas in ihr, das sie vorher nicht gekannt hatte, das aber schon immer da gewesen zu sein schien, war erwacht und hatte sich in der Nacht völlig in ihr ausgebreitet. An diesem Morgen hatte es sie dann noch einmal hierher gezogen.
Am Kartenhäuschen angekommen kaufte sie eine Karte für das Riesenrad. Anders als sonst trug sie heute keine Tasche bei sich, sie hatte nur ein paar Münzen in der Hand mit sich herumgetragen, die sie jetzt dem Mann hinter der Kasse gab, der sie mit diesem widerlich falschen Lächeln anstrahlte. Eilig flüchtete sie in eine Gondel, die sie ganz für sich allein hatte.
Anders als sonst trug sie ihr Haar heute offen, so dass der Wind es ihr ins Gesicht wehte, als das fröhlich blinkende Rad sie in die Höhe hob. Die wirren Strähnen verdeckten ihr Lächeln, das erste echte Lächeln, das dieses Gesicht je geziert hatte und fingen ihre Tränen auf. Die Musik, die auf dem Jahrmarkt allgegenwärtig war, drang verzerrt und als völlig neue Melodie an ihre Ohren und die bunten Lichter unter ihr verschwammen vor ihren Augen zu einem einzigen Lichtermeer, in das sie sich stürzte, als die Gondel den höchsten Punkt erreichte.
Anders als sonst trug sie heute keine Jeans und kein dunkles Shirt, sondern ein weißes Kleid. Ein kleiner Junge mit einem grünen Luftballon in der Hand sah ihr zu, wie sie in die Tiefe rauschte.
„Schau mal, Mama, ein Engel!“
 



 
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