Der Fisch, der klettern wollte

Harle Kin

Mitglied
Der Fisch, der klettern wollte


Ich war nie zufrieden mit dem Wasser.
Es war zu flach – selbst in der Tiefe.
Zu warm oder zu kalt.
Zu dicht.
Zu trüb.

Während andere Fische mit dem Strom schwammen oder ihre Reviere verteidigten, dachte ich über Dinge nach, die uns angeblich nichts angingen.
„Ein Fisch denkt nicht. Ein Fisch schwimmt“, sagte mein Vater.
Aber ich war kein gewöhnlicher Fisch.
Ich stellte Fragen.

Warum leben wir im Wasser?
Warum sehen wir nie, was über der Oberfläche liegt?
Und vor allem: Warum sollte ich ein Fisch bleiben?
Ich begann, heimlich an Land zu schauen. Wenn die Wasseroberfläche ruhig war, spiegelte sie einen anderen Himmel.
Manchmal sah ich Vögel fliegen – Wesen, die scheinbar nichts von der nassen Gebundenheit wussten.
Sie stiegen einfach auf – federleicht,
voller Sinn.
Einmal fragte ich den alten Aal, was jenseits des Flusses liege.
Er blinzelte müde und sagte:
„Weniger, als du hoffst.
Mehr, als du brauchst.“
Aber ich verstand solche Antworten nie.
Ich suchte keine Rätsel
– ich suchte die Wahrheit.
Und die, da war ich mir sicher,
lag jenseits unserer schleimigen Welt.
Dann sah ich ihn:
Den Baum.
Sein Stamm ragte aus dem Erdreich wie die Wirbelsäule des Universums,
seine Äste breiteten sich aus wie Bewusstsein.
Ich wusste:
Wenn ich ihn erklimme, werde ich erkennen, wer ich bin.
Nicht länger ein Fisch.
Etwas Höheres.
Etwas Wahres.

Die anderen lachten, als ich davon sprach.
Sie nannten mich „Luftschnapper“ und warnten mich:
„Ein Fisch ist kein Kletterer. Du wirst sterben.“ Doch ich war entschlossen.
In einer nebligen Morgendämmerung verließ ich das Wasser.
Das erste Mal fühlte ich den Schlamm unter meinem Bauch.
Kalt.
Fest.
Beängstigend real.
Nichts glitt mehr.
Alles haftete.
Vielleicht musste es so beginnen.
Ich spürte, wie meine Kiemen schrien
– nach Wasser, nach Heimat.
Doch ich sagte mir:
„Schmerz ist der Beweis für Transformation.“
Ich kämpfte.
Ich kroch.
Ich glitt über Steine,
schleppte meinen zappelnden Körper bis zum Fuß des Baumes.
Dort lag ich,
starrte in den Himmel.
Die Welt war groß.
Schrecklich.
Hell.
Trocken.
Mit letzter Kraft bäumte ich mich auf.
Ich schob mich gegen die Rinde.
Meine Flossen fanden keinen Halt.
Meine Haut trocknete.
Meine Gedanken auch.

…. ich liege am Fuß des Baumes.
Kein Licht.
Kein Klang.
Nur der Druck in meiner Brust.
Langsam.
Wellenlos.
Meine Flossen zucken noch.
Automatisch.
Nutzlos.
Wie ein Lied, das niemand mehr hören will.
War das Wasser mein Zuhause?
Oder nur das, was war?
Ich verließ es, weil ich glaubte, mehr sein zu müssen.
Etwas Höheres.
Wahreres.
Etwas, das nicht existierte.
Jetzt weiß ich nicht mal mehr,
was ich war.
Nur, dass ich es nicht mehr bin.

Der Stamm ist kalt.
Er schweigt.
Wie alles hier.
Wie ich selbst.
War es ein Fehler?
Ich glaube nicht, dass es noch eine Rolle spielt. Aber es lässt sich nicht mehr ändern.
Der Rückweg – wenn es ihn je gab
– ist fort.
Ich denke an das Schweben.
Das sanfte Umkreisen von Strömungen,
das Blubbern der Tiefe,
das leise Flirren der anderen Körper im Wasser.
War das Freiheit?
Oder nur ein stilles Gefängnis,
das ich nicht erkannte?

Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur:

Hier ist es schwer.

Vielleicht bin ich nicht gescheitert.
Nur zu weit gegangen.

Oder einfach fehlgeleitet von einer Idee,
die nie mir gehörte.
Und doch alles von mir forderte.


Ein Schatten huscht über mich.
Ein Vogel.
Oder ein letzter Gedanke.
Dann –
Stille.
Ich schließe die Augen, obwohl ich sie nie geöffnet hatte.

Und das,
was blieb,
war kein Licht

– sondern nur Vergessen.


„Die einzige Verantwortung des Menschen ist es, seine Existenz zu ertragen“
- Hans Jonas​
 



 
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