Der fliegende Junge

tobiasb

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Ein Junge von vielleicht sechs Jahren schritt bei eisigem Novemberwind allein über einen Feldweg. Leichter Regen legte sich wie ein durchsichtiger Schleier über die Welt. Rechts von ihm rauschte der Bach, der sich unermüdlich durch die Landschaft schlängelte. Sein durch einen kleinen Erdwall gedämpftes Tosen wurde nur selten vom Kreischen der Raben übertönt, die träge in der Luft hingen. Zur Linken erstreckten sich die kargen Maisfelder, für den Buben endlos scheinend. Nur die Stümpfe der einst hoch aufragenden Pflanzen ragten noch aus der Erde, durchzogen von den gleichmäßigen Spuren der Erntemaschinen. Einzelne Eschen säumten den Weg. Sie hatten bereits seit Längerem ihr Blätterkleid abgelegt und warteten nun kahl auf den Frühling, um erneut wie jedes Jahr ein wenig größer auszutreiben.

Und inmitten dieser Szenerie: der kleine Junge, gekleidet in einen gelben Regenmantel und rote Gummistiefel. Auf dem Rücken trug er seine Schultasche, in der linken Hand einen großen Regenschirm mit dem Logo einer lokalen Firma. Diesen Schirm trug der Bube seit Langem stets bei sich – nicht etwa, weil er Angst vor dem Nasswerden hatte, sondern aufgrund seiner Aerodynamik. Der Junge wollte nämlich damit fliegen.

Das Fliegen war immer schon sein großer Traum gewesen, nur wusste er, dass er für einen Piloten noch zu jung war und aus Erfahrung, dass es ohne Hilfsmittel nicht ging. Sein Vater hatte ihm jedoch aus dem Struwwelpeter die Geschichte vom fliegenden Robert vorgelesen, und so wollte auch er mit seinem Schirm fliegen. Dass es ging, wusste er schon vor Mary Poppins; nun aber wusste er, dass es auch ganz ohne Zauberkräfte möglich war – und dass selbst ein kleiner Junge es konnte, wenn die Bedingungen stimmten. Sein Vater hatte ihm das Buch vor einigen Wochen zum Geburtstag geschenkt und seither jeden Abend daraus vorgelesen. Der Junge mochte zwar auch die anderen Geschichten daraus, aber ihn faszinierte Robert mit seinem Schirm am meisten.

Seine Eltern konnten ihm nicht erklären, wie der Jüngling im Buch es geschafft hatte. Sie hatten stets nur geantwortet, es sei ja nur eine Geschichte. Doch das kannte er schon von den Erwachsenen: Sie hatten einfach keinen Sinn für das Fantastische, das Außergewöhnliche. Also nahm er es selbst in die Hand und begann mit den unterschiedlichsten Techniken, Schirmen und Wetterbedingungen zu experimentieren – naturgemäß jedoch ohne wirklichen Erfolg. Als am besten stellten sich dennoch der große, graue Schirm und Bedingungen wie im Buch beschrieben heraus: Regen und starker Wind.

Letzthin auf dem Nachhauseweg hatte er mit einem seiner Freunde über seine Ambitionen gesprochen. Dieser teilte ihm mit, dass seine Mutter gesagt habe, alle Geschichten im Struwwelpeter endeten böse. Das glaubte ihm der kleine Junge aber nicht – vermutlich kannte er die Geschichte vom fliegenden Robert nicht. „Was soll denn tragisch am Fliegen sein?“, fragte er den anderen Jungen. Der wusste es auch nicht. Obwohl ihn das geärgert hatte, gab der Freund ihm dennoch einen guten Tipp: Er solle es doch mit Springen versuchen. So würden es die Vogelküken im Fernsehen auch machen.

Also begann der Junge zu springen. Er sprang von Steinen, von Baumstämmen und allen anderen Erhebungen, die er fand. Er konnte beobachten, dass er mit Schirm zumindest langsamer fiel als ohne – ein Schritt in die richtige Richtung. Was war Fliegen denn anderes als Fallen mit kontrolliertem Wiederaufkommen? Ebenfalls erkannte er, dass sich die Wirkung bei größerer Höhe steigerte.

Er hatte die Dokumentation mit den Vögeln von seinem Freund ausgeliehen und angesehen. Darin sprangen die Vögel von Klippen hinunter. Dass viele von ihnen es nicht schafften und an den Klippen zerschellten, kümmerte ihn nicht. Die hatten schließlich keinen Schirm – und auch nicht so viel Erfahrung wie er. Leider gab es dort, wo er wohnte, keine Klippen, aber einen Ort, der ausreichende Ähnlichkeit für sein tollkühnes Unterfangen aufwies: Auf dem Nachhauseweg querte er stets eine alte Fußgängerbrücke mit hohen Bögen zu beiden Seiten. Diese befanden sich an den höchsten Stellen mindestens zehn Meter über den reißenden Fluten.

Heute war es soweit. Die Bedingungen waren perfekt. Es wehte starker Wind und der Regen hatte zugenommen – jetzt war es wie im Buch. Auf den letzten Metern zur Brücke flogen die Raben über seinen Kopf, und wie immer beneidete er sie. Dieses Mal aber war er voller Vorfreude auf eine baldige Flugstunde mit ihnen. Der Wind pfiff ein monotones hohes C, der Bach lieferte das Hintergrundrauschen, und die Vögel gaben den Rhythmus zu einem Novemberlied.

An der Brücke angekommen, blickte er nochmals hinauf und bekam es mit der Angst zu tun. Viel zu hoch erschienen ihm nun die Brücke und das Wagnis. Er wäre fast umgekehrt, doch sein innerer Entdeckergeist trieb ihn doch die steile Parabel hinauf. Am höchsten Punkt überblickte er den gesamten Weg von der Schule hierher. Er sah die Eschen nun fast auf Augenhöhe neben sich, und die Vögel erschienen nicht mehr so weit weg – ein gutes Zeichen.

Der Wind blies hier oben noch stärker und peitschte ihm die Tropfen vom Himmel wie kleine Nadelstiche ins Gesicht. Er öffnete seinen Schirm und prüfte ihn auf Schäden. Nachdem er den Test bestanden hatte, fasste er seinen ganzen Mut zusammen und machte sich zum Sprung bereit. Er ging tief in die Hocke, um wie die Vögel abzuheben. So sprang er – unter großer Überwindung –, um sein neues Leben in den Höhen zu beginnen. Sein eigener fliegender Robert zu sein.

So überantwortete er sich der Gnade Gottes – als Kind, als Träumer, als unbewusster Phantast.
 

Shallow

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Hallo @tobiasb,

eine nette, kleine Geschichte, die Idee ist nicht schlecht. Bei der erzählerischen Umsetzung holpert es aus meiner Sicht allerdings ganz schön. Im dritten Satz beschreibt der Erzähler einen rauschenden Bach, der sich unermüdlich durch die Landschaft schlängelte. (Warum eigentlich unermüdlich?) Im Satz darauf wird er als "tosend" bezeichnet:

Sein durch einen kleinen Erdwall gedämpftes Tosen wurde nur selten vom Kreischen der Raben übertönt, die träge in der Luft hingen.

Die Veränderung von Rauschen zu Tosen passt nicht so richtig, der Wind bläst zwar eisig, aber unverändert und das Kreischen der Raben könnte man vielleicht besser als Krächzen beschreiben. Und hängen die Vögel träge in der Luft? Ich vermute, das wolltest du so nicht sagen.

Sie hatten bereits seit Längerem ihr Blätterkleid abgelegt und warteten nun kahl auf den Frühling, um erneut wie jedes Jahr ein wenig größer auszutreiben.

Wenn die Eschen ihr Blätterkleid abgelegt haben, sind sie kahl, das ist eine Redundanz, Überhaupt ist der Satz sehr sperrig.

Und inmitten dieser Szenerie: der kleine Junge, gekleidet in einen gelben Regenmantel und rote Gummistiefel

Ich weiß nicht, ob man so erzählen sollte: Der Leser weiß doch, dass der Junge inmitten dieser Szenerie ist, das muss nicht nochmal erwähnt werden. Außerdem ist der Satz grammatikalisch nicht korrekt.

Der Wind blies hier oben noch stärker und peitschte ihm die Tropfen vom Himmel wie kleine Nadelstiche ins Gesicht.

Die Tropfen kommen vom Himmel, ja, aber "vom Himmel" würde ich streichen. Bleibt zu hoffen, dass dem Jungen nix passiert ist, alles andere kann man überarbeiten und verbessern.

Schönen Gruß

Shallow
 



 
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