Der Fluch der Postmoderne

Rene Bote

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Besorgt schaute Ansgar auf die Monitore. Die Spannung fiel ab, ungewöhnlich rapide und ungewöhnlich langanhaltend. Natürlich gab es ständig Schwankungen, dafür überwachten Ansgar und seine Kollegen rund um die Uhr alles. Doch dass die Spannung so lange so schnell abfiel, hatte Ansgar noch nie erlebt. Warum wurde das nicht abgefangen? Eigentlich hätten längst automatisch schnell verfügbare Erzeuger zugeschaltet werden müssen!

Doch die Kurve zeigte steil nach unten, war längst im Warnbereich. Wenn es so weiterging, würde bald die Stabilität des Stromnetzes nicht mehr gewährleistet sein.

Weil die automatischen Routinen überfordert schienen, rief Ansgar die Details ab, um manuell gegenzusteuern. Verflixt, was war das? Der Verbrauch bewegte sich im üblichen Bereich, aber die Einspeisung sank massiv. Nicht nur ein Erzeuger, nein, alles, was an die zentrale Steuerung angeschlossen war, ging kontinuierlich nach unten. Wie konnte das sein?

Dazu stand das Stromnetz der Stadt nicht für sich allein, es war vielfach verknüpft mit den benachbarten Netzen. Hätte nicht längst ein Ausgleich stattfinden müssen? Schließlich bedrohte der Vorfall den gesamten Verbund, im schlimmsten Fall würde es eine Kettenreaktion geben und beizeiten das halbe Land im Dunklen sitzen.

Ansgar griff zum Telefon. Was hier passierte, war eine Nummer zu groß für ihn, die Entscheidungen, die es brauchte, musste sein Vorgesetzter treffen. Ehe er wählen konnte, klingelte der Apparat, und sein Chef ließ ihm keine Zeit, sich dienstlich korrekt zu melden. „Wir haben ein Problem!“, unterbrach er. In der Stimme lag ernste Besorgnis. „Und nicht nur wir. Rundrum auch.“

Das erklärte, warum nicht gegengesteuert wurde: Wenn die umliegenden Netze dasselbe Problem hatten, konnten sie natürlich nichts abgeben, um die Spannung auszugleichen.

„Wir sind wohl gehackt worden“, sagte der Chef, gerade als Ansgar durch den Kopf ging, dass so etwas mutwillig herbeigeführt worden sein musste. „Überall werden alle Erzeuger abgeregelt.“

Das hätte Ansgar eigentlich auf dem Monitor sehen müssen, doch die Verantwortlichen, wenn es wirklich welche gab, hatten es geschafft, so im Hintergrund zu wirken, dass die Vorgänge nicht angezeigt wurden.

„IT-Spezialisten sind schon dran, das wieder unter Kontrolle zu kriegen“, berichtete sein Chef. „Aber wir haben nur eine Stunde, höchstens.“ Das war nach Ansgars Dafürhalten schon die denkbar optimistischste Annahme. Wenn man irgendwie ein paar Erzeuger an der Steuerung vorbei ins Netz brachte, um Zeit zu gewinnen … Aber das konnten nur ältere, kleine Anlagen sein, die modernen waren zu fest in die Steuerungsmechanismen eingebunden. Wenn dann mit Einbruch der Dunkelheit auch noch die vielen kleinen Solaranlagen wegfielen, war der Ofen aus.

Plötzlich hatte Ansgar eine Idee. Alte Anlagen – klar doch! „Schicken Sie jemanden her, der hier übernimmt!“, forderte er seinen Chef auf. „Aber …“, wandte der ein, doch Ansgar hatte es nun viel zu eilig. „Dauert zu lange, das alles zu erzählen“, unterbrach er. „Und wenn’s schiefgeht, wissen Sie besser von nichts.“

Damit legte er auf, griff in eine Schublade, die er selten öffnete, und rannte aus dem Überwachungsraum. Raus auf den Parkplatz, Sekunden später jagte er auf quietschenden Reifen durch die Stadt. Eine Viertelstunde, in halsbrecherischem Tempo, aber alles ging gut.

Schlitternd kam der Wagen auf einem Hügel über der Stadt vor einem alten Maschendrahttor zum Stehen. Ansgar schloss auf und lief bis zu einem kleinen Maschinenhaus. Hier war schon ewig niemand mehr gewesen, und er konnte nur hoffen, dass die veraltete Technik noch funktionierte.

Er bediente einige Regler und legte dann die Hand auf einen wuchtigen Hebel. Durfte er …? Wenn das schiefging … Aber es war die einzige Chance. Entschlossen drückte er den Hebel nach unten und ließ das alte Pumpspeicherkraftwerk anlaufen, das vor 20 Jahren außer Dienst gestellt worden war und nun hoffentlich den Blackout lange genug verhindern würde.
 



 
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