Der Garten der Gedanken

Einst fand sich ein kleiner Gnom in einem Garten wieder. Er wusste weder, wie er dorthin gelangt war, noch konnte er sich daran erinnern, wo er herkam oder wie er aufgewachsen war. Alles, was er kannte, war sein Name, und das, was er vor sich sah: Ein kleiner, runder Garten mit frisch geschnittenem Gras. Der Garten wurde nicht von einem Zaun oder einer Mauer umgeben. Dort, wo der Garten endete, wuchs einfach kein Gras mehr und so weit der kleine Gnom blicken konnte, sah er nur flaches Ödland bis zum Horizont. Sein Name lautete Mortimer, das immerhin wusste er noch. Aber wie lange er auch darüber nachdachte, mehr wollte ihm nicht einfallen. Also akzeptierte er schließlich, dass dieser Garten wohl sein Zuhause war.
Mortimer blickte sich im Garten um. Außer Gras gab es hier tatsächlich absolut nichts. Und doch spürte er insgeheim, dass er mehr aus diesem Garten machen konnte, wenn er nur die notwendige Willenskraft aufzubringen vermochte. Minute um Minute und Stunde um Stunde verging, bevor es ihm schließlich gelang. Er ging an den Rand des Gartens, kniete sich auf den Boden und steckte beide Hände in die weiche Erde. Es dauerte nicht lang, bis er herausfand, wie er die Erde formen konnte, und so begann er, ein Häuschen zu bauen. Es war ein kleines Häuschen mit nur einem Raum, aber es war genug, um darin zu leben. Und so lebte Mortimer tagein, tagaus in seinem kleinen Häuschen dort in diesem kleinen, runden Garten, der weit und breit nur von unfruchtbarem, flachem Land umgeben war.
Um sich die Zeit zu vertreiben, begann Mortimer alsbald, ein Blumenbeet und einen Gemüsegarten anzulegen. Es bereitete ihm außerordentliche Freude, diese zu pflegen, und so kümmerte er sich jeden Tag um seine kleinen Schätze. Eines Tages, als er gerade wieder am Rande seines kleinen Gartens zu Werke gehen wollte, bemerkte er am Horizont eine ferne Silhouette. Er beobachtete sie eine ganze Weile, bis er feststellte, dass diese Silhouette sich tatsächlich seinem Garten näherte. Es dauerte lange, bis sie nah genug war und nach und nach wurde ihm klar, dass es sich bei dieser Silhouette um einen anderen Gnom handeln musste. Der fremde Gnom ging in gleichbleibender Geschwindigkeit, langsam und gelassen, auf Mortimers Garten zu, blieb unmittelbar davor stehen und sah Mortimer einfach nur an. Mehrere Minuten lang fand Mortimer nicht den Mut, den Fremden anzusprechen, doch schließlich lächelte er und sagte einfach nur: „Hallo!“
Der fremde Gnom lächelte nun ebenfalls und es entwickelte sich ein freundliches Gespräch zwischen den beiden. Doch als Mortimer den Fremden in seinen Garten einlud, verschwand dessen Lächeln, er drehte sich wortlos um und ging davon. Mortimer war so überrascht von dieser Reaktion, dass er noch nicht einmal daran dachte, dem Fremden hinterherzurufen und ihn nach seinem Namen zu fragen. Und ehe er sich versah, war seine neue Bekanntschaft verschwunden und zurück blieb nichts außer dem weiten Ödland.
In der nächsten Zeit geschah es immer öfter, dass fremde Gnome am Rand des Gartens erschienen. Sie alle waren freundlich und bereit, sich zu unterhalten, doch wann immer Mortimer sie in seinen Garten einlud, ergriffen sie die Flucht. Und so bezeichnete er sie schließlich als das, was sie in seinen Augen waren: Reisende. Mortimer unterhielt sich mit vielen Reisenden, bald schon tauchten jeden Tag mehrere von ihnen auf und verschwanden so schnell wie sie gekommen waren. Mortimer gewöhnte sich an die alltäglichen Gespräche und ihm fiel auf, dass manche Reisende immer wieder kamen. Er begann sogar, einige von ihnen als Freunde zu betrachten. Doch so gut er sich auch mit den Reisenden verstand, niemals wollte jemand seinen Garten betreten. Mortimer beschloss daher, sie nicht mehr einzuladen. Dieser kleine, runde Garten war offenbar sein persönlicher Bereich und die Reisenden schienen dies unbedingt respektieren zu wollen. Vielleicht, so dachte er, hatte sogar jeder dieser Reisenden selbst irgendwo einen kleinen, runden Garten, in dem er lebte. Und eines Tages würde Mortimer sie dort besuchen kommen. Doch gegenwärtig war er dazu nicht imstande, denn aus einem Grund, den er sich nicht erklären konnte, vermochte er nicht, seinen Garten zu verlassen. Er hatte es bereits mehrmals versucht, doch irgendeine unbekannte Macht hielt ihn immer davon ab. Es war keine physische Kraft, die ihn zurückhielt, mehr seine eigenen Zweifel und Ängste, die ihm immer in den Sinn kamen, sobald er den Rand seines Gartens erreichte und im Begriff war, zum nächsten Schritt anzusetzen.
Tage und Wochen vergingen und Mortimer hatte bereits einige Freunde unter den Reisenden gefunden, während er auch weiterhin jeden Tag neue Bekanntschaften machte. Manche Reisenden betrachteten seinen Garten wortlos und waren nicht bereit, eine Unterhaltung zu führen. Mortimer störte sich nicht daran, hatte er doch genug andere Gesprächspartner. Und obwohl er sich oft fragte, wo die Reisenden herkamen und wohin sie gingen oder was sich hinter dem Horizont befand, war er doch insgeheim glücklich in seinem kleinen, runden Garten mit seinem kleinen Häuschen, seinem Blumenbeet und seinem Gemüsegarten.

Eines Tages erschien ein Reisender am Rande des Gartens, der anders war. Mortimer konnte zunächst nicht sagen, worin er sich unterschied, doch es wurde ihm schlagartig klar, als der Reisende stehen blieb: Er war nicht freundlich, dieser Reisende war bösartig. Kaum hatte er den Garten erreicht, holte er einen faustgroßen Stein hinter seinem Rücken hervor und warf ihn auf Mortimers Blumenbeet. Mehrere Blumen wurden von dem Stein plattgedrückt. Mortimer war wie erstarrt. Dieser Anblick versetzte seinem Herzen einen Stich, liebte er diese Blumen doch mehr als sonst etwas. Er drehte sich zu dem Reisenden um, doch dieser hatte bereits kehrt gemacht und zog von dannen. Mortimer wollte ihm hinterher, wollte ihn aufhalten und fragen, warum er das getan hatte, doch wie so oft musste er feststellen, dass er seinen Garten nicht verlassen konnte. Verzweifelt sah er sich um, flehte die anderen Reisenden an, den Angreifer aufzuhalten, doch niemand schien ihn zu verstehen. Es war, als hätte niemand den Angriff bemerkt. Die anderen Reisenden lächelten ihn genauso an, wie sie es immer taten. Und jeder von ihnen verschwand nach einiger Zeit wieder, so wie an jedem anderen Tag. Mortimer verstand überhaupt nichts. Wie konnten all diese Reisenden, die ihm immer so freundlich vorgekommen waren, ihn einfach im Stich lassen? Waren sie am Ende gar keine Freunde? Dabei hatte er sich mit ihnen allen immer so gut verstanden. Stundenlang dachte Mortimer über die Geschehnisse dieses Tages nach, bevor er beschloss, sein Blumenbeet wieder schön herzurichten und den nächsten Tag abzuwarten. Den Stein warf er aus seinem Garten, wo er sofort zu Staub zerfiel und von dem harten, ausgetrockneten Boden nicht mehr zu unterscheiden war.
Als der kleine Gnom an diesem Abend in seinem Bett lag, kam ihm der Gedanke, seinem Häuschen einen zweiten Raum hinzuzufügen. Er wollte nicht mehr im gleichen Raum essen, in dem er schlief. Und so entschied er, sich gleich am nächsten Morgen ans Werk zu machen. Er nahm etwas weiche, feuchte Erde und formte daraus ein kleines Zimmerchen, in dem er fortan schlafen wollte. Als er sein Haus verließ, um sein Werk zu betrachten, staunte er nicht schlecht, dass sich der Anblick von außen überhaupt nicht verändert hatte. Im Inneren hatte sich der Wohnraum verdoppelt, doch davon verriet die äußere Fassade nichts.
Die nächsten Tage verliefen ereignislos. Alle Reisenden waren so freundlich wie immer, auch wenn Mortimer nach wie vor nicht verstand, warum sie alle diesen fiesen Angriff auf seinen geliebten Garten ignoriert hatten. Doch da sie selbst ihm nichts getan hatten und der bösartige Reisende nicht wieder aufgetaucht war, ließ er die Sache auf sich beruhen. Tief im Inneren wusste er nun jedoch, dass nicht jeder Reisende freundlich war.

Eines Morgens verließ Mortimer gerade sein Häuschen, als er eine fürchterliche Entdeckung machte: Sein gesamter Gemüsegarten war völlig zerstört worden. Alles war umgegraben worden und die Gemüsepflanzen lagen überall verteilt. Als Mortimer aufsah, erkannte er den Übeltäter sofort wieder: Am Rand seines Gartens stand derselbe Reisende, der vor einigen Wochen den Stein in sein Blumenbeet geworfen hatte. Nur war er dieses Mal nicht allein, sondern umringt von einer Gruppe fies grinsender Reisender, ein jeder von ihnen mit einer Harke in der Hand. Mortimer war vor Schreck wie erstarrt: Sein geliebter Gemüsegarten, an dem er jeden Tag stundenlang arbeitete, war vollkommen verunstaltet worden und die Verantwortlichen standen einfach nur da und grinsten ihn an. Doch bevor Mortimer seine Fassung wieder fand, waren sie bereits auf dem Weg zum Horizont.
Während der nächsten Tage und Wochen wurde der Garten immer häufiger angegriffen und Mortimer konnte nichts tun außer ihn immer wieder neu herzurichten. Der kleine Gnom kam sich plötzlich so machtlos vor. Mit einem Mal erkannte er, dass alle Reisenden, die ihn besuchten, seinen Garten angreifen konnten, wann immer ihnen danach war und Mortimer war außer Stande, sie daran zu hindern. Diese Erkenntnis war äußerst ernüchternd und so verzichtete er schließlich darauf, neues Gemüse und neue Blumen anzupflanzen. Doch dieser Verlust schmerzte Mortimer sehr. Sein Garten war der Boshaftigkeit der Reisenden schutzlos ausgeliefert und er war verdammt, zuzusehen, wie ihm sein Glück genommen wurde. In seinem Kummer erschuf er immer wieder neue Räume in seinem Haus, in denen er sich verstecken konnte. Wann immer ihm ein Raum zu beengt, zu erdrückend, zu groß oder einfach zu unbequem vorkam, erbaute er einen neuen. Schon bald war sein Häuschen, dessen äußerer Schein sich niemals verändert hatte, im Inneren so groß, dass er sich manchmal kaum zurecht fand. Die Reisenden hatte er schon lange nicht mehr beachtet. Eines Tages erkannte er, dass es so nicht weitergehen konnte und er verließ sein Häuschen, um nach seinem Garten zu sehen.
Mortimer riss die Augen auf und sein Herz schien einen Augenblick lang auszusetzen. Was er vor sich sah, traf ihn wie ein Schlag: Sein gesamter Garten war verwüstet, nicht nur das Gemüse und die Blumen. Es wuchs kaum noch Gras in seinem Garten, die Erde schien bereits auszutrocknen. Wenn er nicht schnell handelte, wäre sein Garten schon bald nicht mehr von dem ihn umgebenden Ödland zu unterscheiden. Sogleich machte er sich ans Werk und arbeitete den ganzen Tag bis spät in die Nacht, um seine kleine Welt zu retten. Als er am nächsten Morgen sein Häuschen verließ, blickte er voller Stolz auf den Garten, der nun wieder in seiner ganzen Pracht erstrahlte. Mit neu gewonnenem Mut kehrte er in sein Häuschen zurück und begann, die zahlreichen Räume wieder einzureißen, die er überhaupt nicht benötigte. Er ließ nur einige von ihnen zurück, damit sein Häuschen geräumig blieb. Und während er nach den Wänden der Räume griff und sie wieder zu feuchter Erde zerdrückte, kam ihm ein Gedanke: Wenn er ein Haus aus feuchter Erde bauen konnte, warum dann nicht auch …? Er sprang auf und rannte nach draußen, zum Rand seines Gartens. Und voller Tatendrang begann er, eine Umzäunung zu errichten. Und er stellte fest, dass er offenbar wirklich alles aus feuchter Erde formen konnte. Blumen, Gemüse, ein Haus, einen Zaun, was immer er sich vorstellte, konnte er aus der Erde formen, deren Bestand im Boden sich dabei gar nicht zu verringern schien. Die einzige Voraussetzung war, dass er seinen Garten nicht vernachlässigen durfte. Solange er die Erde nutzte, blieb sie feucht. Und so ging das Leben für den kleinen Gnom weiter. Reisende kamen und gingen, manchmal attackierten sie seinen Garten und er reparierte ihn, manchmal hielt der Zaun sie davon ab, doch blind vertrauen wollte er niemandem mehr. Dennoch bot sich ihm von Zeit zu Zeit ein freundliches Gespräch, dem er nicht abgeneigt war.

Die Jahre vergingen und der kleine Gnom lebte weiterhin in seinem kleinen Garten, der mal prächtig, mal verkommen aussah. Manchmal verkroch er sich tage- und wochenlang in seinem Häuschen, manchmal arbeitete er voller Freude in seinem Garten. Die Räume in seinem Häuschen vermehrten sich, wann immer es ihm schlecht erging, und war er glücklich, verringerte er ihre Zahl wieder. Doch niemals mehr bestand sein Häuschen nur aus einem einzigen Raum. Mortimer wollte stets einen Raum in Reserve haben, um sich zu verkriechen, wann immer ihm danach war.
Es waren über die Jahre zahlreiche Reisende an seinem Garten aufgetaucht, auch mehr und mehr bösartige. Je mehr sie seinem Garten geschadet hatten, desto mehr hatte er die Umzäunung verstärkt, doch er musste feststellen, dass sich sein Garten mit jedem Mal schwerer erholen konnte. Nach sechs Jahren fand der kleine Gnom es unheimlich schwer, seinen Garten am Leben zu halten. Die Erde war zwar immer feucht geblieben, doch wollte das Gras an zahlreichen Stellen nicht mehr so recht wachsen und so vernachlässigte Mortimer diese Stellen in seinem Garten, weil er allmählich keine Kraft mehr fand und ihm die Gartenarbeit aussichtslos erschien.
Eines Tages erschien wieder einmal ein Reisender an seiner Umzäunung, der sich von allen anderen unterschied. Schnell fand Mortimer heraus, dass dieser Reisende sich offenbar besonders gut mit Gartenarbeit auszukennen schien und es dauerte nicht lange, bis er den kleinen Gnom davon überzeugt hatte, sich helfen zu lassen. Doch der Gärtner dachte gar nicht daran, ihn vom Gartenrand aus zu beraten, stattdessen kletterte er ungefragt über den Zaun und betrat Mortimers kleine Welt. Dieser war zunächst fassungslos, da noch nie zuvor jemand seinen Garten betreten hatte. Er entschied sich jedoch, den Fremden vorerst gewähren zu lassen, ein schwerer Fehler, wie sich noch herausstellen sollte. Denn anstatt ihm Ratschläge zu geben, wie der Garten wiederhergestellt werden könne, fing der Reisende an, Mortimer zu verspotten. Er amüsierte sich über dessen offenkundige Unfähigkeit. Und der kleine Gnom flüchtete sich in sein Häuschen. Stets den Spott im Ohr, verkroch er sich in verschiedenen Räumen und suchte nach einem Zimmerchen, in dem er den fiesen Gärtner nicht mehr hören konnte. Doch ein solcher Raum war unauffindbar, denn die Stimme des Eindringlings schien allgegenwärtig. Über Wochen hinweg traute Mortimer sich nicht mehr hinaus, bis er schließlich in einem der Räume eine zweite Ausgangstür einbaute. Durch diese verließ er sein Häuschen und fand den Garten noch verkommener vor. Die äußere Fassade des Häuschens zeigte jedoch nur die Eingangstür, die von Beginn an dort gewesen war. Er wandte sich dem spöttischen Reisenden zu. Doch anders als zuvor stellte er sich diesem nun entgegen, setzte ein gespieltes Lächeln auf und sprach: „Vielen Dank, mein Herr. Sie waren eine große Hilfe. Nun weiß ich, was zu tun ist.“
Der Gärtner durchschaute diese Finte nicht, sondern labte sich augenblicklich an dem Lob, das ihm entgegengebracht wurde. Selbstgefällig grinste er Mortimer an und antwortete: „Es war mir ein außerordentliches Vergnügen!“ Danach verschwand er in Richtung des Horizonts.

Fortan verließ Mortimer sein Häuschen immer wieder durch die zweite Tür und stellte fest, dass er auf diese Weise tatsächlich selbstbewusster erschien. Wenn bösartige Reisende vorbei kamen, fand er stets die richtigen Worte, um sie wohlwollend zu stimmen. So kam es schließlich nur noch selten vor, dass jemand seinen Garten attackierte. Allerdings nahm dieses falsche Spiel so viel Zeit in Anspruch, dass er sich kaum noch der Botanik widmen konnte. Dennoch fühlte er sich dazu verpflichtet und war alsbald äußerst überfordert. Und je stärker er überfordert war, desto mehr erzürnte ihn die bloße Existenz mancher Blumen und Gräser. Er fühlte sich von ihnen verhöhnt, hatte er doch den Spott des Gärtners nicht vergessen, und schließlich begann er, sie nach und nach aus der Erde zu reißen und zu vernichten. Zog er sie anfangs noch mit der bloßen Hand aus dem Boden, so verwendete er schon bald eine Harke, um seinen gesamten Garten zu verwüsten. Er war so sehr darauf fixiert, dass er völlig vergaß, welchen Wert der Garten einmal für ihn besessen hatte. So vergingen weitere Jahre, in denen der kleine Gnom immer wieder seinen Garten umgrub, Gras und Blumen, Gemüse und Getreide aus dem Boden riss und alles zertrat. Doch es hörte nicht auf zu wachsen. Obwohl Mortimer nun stets bemüht war, alles zu zerstören, da es ihn rasend vor Wut machte, fand er doch an jedem neuen Morgen wieder frisches Gras und weitere Blumen vor.
Es dauerte fünf Jahre, in denen er sogar mehrfach versucht hatte, den gesamten Garten niederzubrennen, auch wenn er selbst dabei von den Flammen verschlungen worden wäre, bevor er es endlich aufgab, ihn zu bekämpfen. Und so saß Mortimer an einem neuen Morgen inmitten von Asche, Erde und Pflanzenresten und kam sich plötzlich unheimlich verloren vor. All die Reisenden, die ihn über die Jahre besucht hatten, hatte er überhaupt nicht mehr bemerkt und auch jetzt, da sein Garten umringt war von Reisenden, waren sie ihm vollkommen gleichgültig. Und wieder einmal zog er sich in sein Häuschen zurück, erschuf zahlreiche neue Räume und verließ es nicht für Monate. Doch die Reisenden wurden allmählich aufdringlicher. Zwar hatte nie wieder jemand seinen Garten betreten, doch da er nun nicht mehr in seinem Wahn versuchte, alles zu vernichten, was ihm einmal etwas bedeutet hatte, wurde es zunehmend schwieriger, sie zu ignorieren. Doch nie wieder wollte er sich einem Reisenden zeigen, zu sehr fürchtete er sich vor deren Verdorbenheit.

Eines Tages verspürte der kleine Gnom wieder den Drang, nach seinem Garten zu sehen. Er war auf das Schlimmste gefasst, denn er hatte inzwischen gelernt, dass der Garten ein Eigenleben zu besitzen schien, das nur dazu diente, ihm das Leben zu erschweren. Doch aufgrund der zahlreichen Reisenden wollte er Vorsicht walten lassen und so begann er, in jedem Raum seines Häuschens eine zusätzliche Tür einzubauen, die nach draußen führte. Wenn eine zweite Tür ihn selbstbewusster machte, welche Wirkung hätten dann wohl weitere Türen?
Mortimer verließ nach wochenlanger Arbeit sein Häuschen durch einen der vielen Seitenausgänge und stellte sich der Masse an Besuchern. Zu seinem Schrecken musste er jedoch feststellen, dass der Zaun die Menge kaum noch zurückhalten konnte. Hier musste dringend eine Lösung her, sonst würden sie alle seinen Garten überrennen. Er verstärkte die Umzäunung wieder und wieder, doch immer wenn er sie an einer Stelle neu aufgebaut hatte, drohte sie an anderer Stelle wieder einzubrechen. So blieb ihm schließlich keine andere Möglichkeit mehr, als eine Mauer zu bauen, eine massive, undurchdringliche und vor allem undurchsichtige Mauer. Er errichtete zunächst nur eine hüfthohe Mauer, da er immer noch in der Lage sein wollte, mit den Reisenden zu interagieren. Und es wirkte, die Mauer hielt stand. Jedoch reagierten einige Reisende äußerst merkwürdig auf ihn, selbst solche, die er noch als freundliche Besucher aus früheren Jahren in Erinnerung hatte. Er verstand nicht gleich, wo das Problem lag, doch allmählich dämmerte es ihm: Er hatte sein Häuschen durch eine andere Tür verlassen und wirkte somit offenbar wie eine andere Person. Er ging zurück in sein Häuschen, begab sich in den Eingangsbereich und verließ es durch die erste Tür wieder. Nun erkannten ihn die Reisenden, die er früher einmal für seine Freunde gehalten hatte, wieder. Doch andere waren eher schlecht auf ihn zu sprechen, reagierten geradezu feindselig. Das war nichts Neues für den kleinen Gnom, der schon längst all die Schattenseiten der Reisenden zu kennen glaubte. Doch auch die Feindseligen wollte er wieder auf seine Seite ziehen. Die zahlreichen Türen in seinem Häuschen würden ihm sicher dabei helfen.
Mortimer verließ nun sein Häuschen immer wieder durch andere Türen. Bald schon war jedem Reisenden eine eigene Tür zugeordnet. Und da sein Garten stets weiter angegriffen wurde, erhöhte er auch die Mauer Stück für Stück, bis er letztlich die Reisenden nicht mehr sehen konnte. Doch er wollte nicht auf die alltäglichen Gespräche verzichten, zu sehr hatte er sich an sein Schauspiel gewöhnt. So erschuf er schließlich aus der feuchten Erde etwas ganz Besonderes in seinem Häuschen: einen Apparat, der es ihm erlaubte, durch die Mauer zu blicken. Mehr noch, er war sogar in der Lage, von seinem Häuschen aus mit den Reisenden zu sprechen. Doch waren es die Räume und nicht die Türen, die seine Persönlichkeit definierten, daher dauerte es nicht lange, bis in jedem Raum seines Häuschens ein solcher Apparat bereit stand. Nun konnte er sich endlich wieder in Frieden um seinen Garten kümmern und wenn er in seinem Kopf eine Stimme hörte, ein Zeichen dafür, dass ein Reisender vor der Mauer stand, konnte er sich sicher in sein Häuschen zurückziehen und von dort aus mit der Außenwelt kommunizieren. Je länger er sich vom Ödland abgrenzte, desto höher wurde die Mauer, da er stets fürchtete, die Reisenden würden wieder einen Weg hinein finden. Und ehe es Mortimer bewusst war, war das obere Ende der Mauer bereits nicht mehr zu sehen. Doch er hatte ja seine Apparate zur Kommunikation, was sollte schon passieren?

Der kleine Gnom lebte Tag um Tag, Jahr um Jahr in seinem kleinen Häuschen in seinem kleinen, runden Garten umgeben von einer Mauer, die in den Himmel ragte. Von der Sicherheit seines Häuschens aus führte er Gespräche und interagierte mit zahlreichen Reisenden, einem jeden ein eigener Raum zugeordnet. Und er hatte ein gutes Leben, ein friedliches Leben. Beinahe hätte er gar nicht bemerkt, wie er langsam die Orientierung in seinem Häuschen verlor. Nach weiteren sechs Jahren wusste er längst nicht mehr, welcher Raum der erste gewesen war. Für ihn spielte es keine Rolle, solange jeder Reisende ihn so akzeptierte, wie er sich ihm zeigte. Doch ihm fiel eine andere Veränderung auf, die ihn doch mehr und mehr zu stören begann. Zwischen all seinen Blumen und dem Gemüse, dem Gras und dem Getreide, Obst- und Nussbäumen und was er sonst noch über die Jahre in seinem Garten gepflanzt hatte, entdeckte er hin und wieder Pflanzen, die nicht echt waren. Künstliche Blumen und Blätter und künstliches Gras zierten seinen Garten, zuerst in geringer Menge, doch mit der Zeit nahm diese Entwicklung Überhand und er konnte kaum noch etwas anbauen, da überall diese Kunstpflanzen aus der Erde ragten. Wo immer er eine von ihnen entfernte, erschienen bis zum nächsten Morgen zwei neue. Und eines Morgens, als kaum noch etwas Echtes in seinem Garten wuchs, kam er sich wieder einmal ziemlich verloren vor. Er hatte vergessen, welcher Raum in seinem Häuschen der erste gewesen war. Diese falschen Blumen und Blätter hatten es ihm überdeutlich gezeigt: Mortimer hatte keine Ahnung mehr, wer er war. Seit Jahren war jeder Kontakt nach außen nur gespielt gewesen, so hatte er sich selbst verloren. Stundenlang saß er missmutig in seinem Garten und wusste nichts mit sich anzufangen, als er in seinem Kopf eine fremde Stimme hörte. Er kannte dieses Phänomen bereits: Ein neuer Reisender stand vor der Mauer, der noch nie zuvor da gewesen war. Mortimer stand langsam auf und trottete in sein Häuschen. Er musste einen neuen Raum bauen, um mit diesem Reisenden zu sprechen. Er griff sich etwas Erde, formte ein Zimmerchen und einen Apparat und blickte durch diesen nach draußen. Und vor ihm stand in der Tat eine Reisende, eine Frau, die er noch nie gesehen hatte. Wie immer sprach er sie zunächst neutral an, um dann herauszufinden, wie er diesen Raum formen musste, damit sie ihn mochte. Doch ihre Antwort warf ihn völlig aus der Bahn. Anstelle von Worten reagierte sie mit Taten: Sie begann, gegen seine Mauer zu hämmern und plötzlich bebte die Erde. Ehe der kleine Gnom sich versah, begannen die Räume in seinem Haus einzustürzen, auch die Mauer bröckelte, alles fiel auseinander. Und die Fremde schlug weiterhin mit ihren Fäusten unaufhörlich gegen die Mauer. Sein Schutzwall, den er über Jahre hinweg aufgebaut hatte, zerfiel völlig zu Staub, sein Häuschen verschwand im Erdboden, all die falschen Blumen, Gräser, Bäume, alles verschwand innerhalb von Minuten, bis Mortimer letztendlich wieder allein in seinem Garten saß wie an dem Tag, als er hier zum ersten Mal erwacht war. Nur wuchs dieses Mal kein frisch geschnittenes Gras, sondern vertrocknetes Stroh. Und am Rand seines Gartens stand eine einzelne Reisende mit einem Lächeln im Gesicht und blickte ihn an. Der kleine Gnom fühlte sich mit einem Mal vollkommen hilflos und rührte sich nicht. Doch die Fremde betrat nun seinen Garten, beugte sich zu ihm hinunter, streckte ihm ihre Hand entgegen und sagte: „Komm, ich helfe dir, ein neues Häuschen zu bauen.“ Und gemeinsam errichteten sie ein kleines Häuschen mit nur einem Raum und nur einer Tür. Die fremde Reisende wurde allmählich zu einer Freundin und Mortimer war alsbald sehr glücklich, wann immer sie ihn in seinem Garten besuchte. Er versuchte nicht, sie abzuhalten, ganz im Gegenteil lud er sie gern in seinen Garten ein und sie half ihm Tag für Tag, wieder einen echten und fruchtbaren Garten anzulegen. Mortimer hatte zwar die vergangenen Jahre niemals vergessen, doch tief in seinem Inneren spürte er, dass dieser eine Raum in seinem neuen Häuschen der echte war. Und wann immer er unsicher war, wie er seinen Garten zu pflegen hatte, war seine neue Freundin sofort zur Stelle und zeigte es ihm.
Eines Tages erschien wieder eine Reisende am Rand seines Gartens, die der kleine Gnom, obgleich er sie nie zuvor gesehen hatte, sofort als Gärtnerin erkannte. Und er begann, sich zu fürchten. Alle Erinnerungen waren wieder da, als wären sie erst einen Tag zuvor passiert. Doch dieses Mal floh er nicht in sein Häuschen, denn seine Freundin stellte sich neben ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte in sein Ohr: „Lass sie herein. Sie ist anders.“ Mortimer vertraute diesen Worten und ließ die Gärtnerin herein kommen. Für einige Zeit traute er sich nicht, mit ihr zu sprechen, doch als er es schließlich tat, lehrte sie ihn alles, was sie über Botanik wusste. Und Mortimer wurde ein besserer Gärtner als er es je zuvor gewesen war. Die fremde Gärtnerin verschwand, sobald sie ihm nichts mehr beibringen konnte, doch seine Freundin blieb für immer. Und allmählich lernte der kleine Gnom, seinen Garten zu beschützen und seine Freundin half ihm dabei.
 



 
Oben Unten