Kapitel 1 – Erstes Ende
Als Debby an diesem Morgen erwachte und sich die ersten Gedanken langsam in ihrem Kopf entfalteten und Gestalt annahmen, durchströmte sie ein Gefühl der Erleichterung und tiefer Zufriedenheit. Die gestrige Lesung ihres Erstlingswerks hatte sich trotz ihrer anfänglichen Skepsis und Aufregung zu einem euphorischen und erfolgreichen Triumphzug entwickelt. Sie begann sich wieder daran zu erinnern, an den Moment, an dem sie die Lesung einiger Auszüge aus ihrem Buch, mit dem in gewisser Hinsicht verwirrend anmutenden Titel „Der Garten“, mit den Schlusssätzen beendete. Nach einer kurzen, fast nicht wahrnehmbaren Stille, brandete tosender Beifall auf, so als wollten die begeisterten Zuhörer nicht akzeptieren, dass dieser Abend schon vorbei sei. Einige Zuschauer erhoben sich von ihren Plätzen und immer mehr folgten bis ihr schlussendlich der gesamte Saal applaudierend gegenüberstand. Über hundert, vom sichtlich zufriedenen Verleger, geladene Gäste, wichtige Gäste, die ihrer Begeisterung und ihren Gefühlen freien Lauf ließen. Sie vernahm wie hinter einer Nebelwand vereinzelte „Bravo“-Rufe und entdeckte in vielen Gesichtern Tränen, ein sichtbares Zeichen der tiefen Wirkung ihrer Lesung aber vor allem dem Inhalt ihres druckfrischen Werks. Es dauerte eine Minute, bis sie den Weg aus dem Unterbewusstsein wieder in die Realität zurückfand, sich erhob und den Gästen ebenfalls Beifall zollte, als wolle sie sich für die offensichtliche Zuneigung, die das Publikum ihr und ihrem Werk entgegenbrachte, auf ihre Art und Weise bedanken. Der Verleger trat zu ihr, überreichte ihr einen wunderschönen Blumenstrauß und flüsterte ihr nur ein Wort ins Ohr, das noch heute, am Tag danach, in ihren Ohren nachklang und sie gestern wie heute zu einem strahlenden Lächeln verleitete. „Überwältigend“, hatte ihr Verleger gesagt. Ein Wort, das angesichts der stürmischen Reaktion des Publikums und der erkennbaren Begeisterung des Verlegers, mehr als angemessen erschien, um den Abend in einem Wort zusammen zu fassen.
Den Rest des Abends hatte Debby wie in Trance erlebt. Das durchwegs positive Lob und die tiefe Anerkennung ihrer schriftstellerischen Leistungen trugen sie auf einer samtweichen Wolke durch den Abend. Ihre Wangen glühten vor Freude und Aufregung zugleich und sie erfüllte alle Wünsche nach Autogrammen, persönlichen Widmungen in ihrem Buch und zahlreichen Gesprächen und Interviews in beschwingter und launiger Weise. Ihr Verleger schlug ihr noch am selben Abend weitere Lesungen zu den ohnehin schon geplanten vor und meinte gleich vorbeugend, dass es möglicherweise noch mehr werden könnten und er sich gleich morgen um einige Auftritte in Talkshows kümmern werde. Erst drei Stunden nach dem geplanten Ende verließ sie den Ort des Geschehens, erschöpft aber überglücklich.
„Überwältigend“, flüsterte Debby lächelnd noch einmal vor sich hin, bevor sie aufstand, um sich für den Tag vorzubereiten. Auf dem Gang ins Badezimmer spielte sie die angenehmen Erinnerungen an den gestrigen Abend wie einen Film immer wieder ab und eine tiefe Glückseligkeit ergriff sie. Sie hielt einen Moment inne, und obwohl es nur ein kurzer Moment war, war es dennoch für sie ein sehr ergreifender. In diesem Moment wurde ihr die Tragweite dieser Ereignisse zum ersten Mal wirklich bewusst. Es war als würde sich die Nebelwand, durch die sie den Abend erlebt hatte, nach und nach auflösen und die Sicht auf die nachhaltigen Konsequenzen freigeben. Plötzlich wurde ihr gewahr, dass all die Mühen und Entbehrungen der letzten Jahre gestern ihr Ende gefunden hatten. Sie war aus dem Tal der Verzweiflung aufgestiegen und der Abgrund, vor dem stehend sie sich die ganze Zeit gesehen hatte, verwandelte sich in eine wunderschöne. blühende Landschaft. Sie hatte die deprimierende Wüste der Bedeutungslosigkeit mit diesem Abend weit hinter sich gelassen und neben einer Zukunft mit den besten Aussichten, etwas gewonnen, was sie sich immer, seit sie denken konnte, gewünscht hatte. Bedeutung. Sowohl ihre Person als auch ihr Roman hatten Bedeutung erlangt. Sie zitterte ein wenig als sie ihren Weg ins Badezimmer fortsetzte. Nicht vor Kälte oder Schwäche, nein die Intensität und Wucht dieser Erkenntnis waren es, die sie zittern machten.
Voller Energie und Ausgelassenheit, voll tiefer Freude und Zufriedenheit setzte sie ihren Weg ins Badezimmer fort. Nichts hielt sie mehr im Hotelzimmer, sie wollte hinaus, die ihr fremde Stadt erkunden, sämtliche Zeitungen kaufen, um vielleicht in einem Kulturteil eine Notiz über die Lesung zu erhaschen. Sie wollte sich zur Feier des Tages ein Geschenk machen, irgendetwas, das sie an diesen Tag erinnern würde. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken an Dinge, die sie tun wollte. Und schlussendlich fiel ihr ein, dass sie nicht vergessen durfte, unbedingt mit ihrer besten Freundin Christine ausgiebig zu telefonieren doch zuerst mit ihrem Freund Frank. Ja, dass wäre es, vielleicht konnte sie ihn sogar dazu bewegen, sich mit ihr spontan zu treffen. Vielleicht könnte er einen Tag frei nehmen und zu ihr fahren. Es war eine knappe Stunde, die er brauchte, um zu ihr zu fahren. Und an einem solchen Tag musste er einfach in ihrer Nähe sein. Schlimm genug, dass er gestern nicht dabei sein konnte, weil er ihm wichtigere Dinge im Büro zu erledigen gehabt hatte. Und Christine hatte leider auch nicht mitfahren können, denn sie war hochschwanger und das Risiko wäre einfach viel zu groß gewesen.
Sie unterbrach sofort ihre morgendliche Prozedur im Badezimmer, schnappte sich ihr Handy, setzte sich aufs Bett und wählte seine Nummer. Es dauerte nicht lange und er hob ab. „Hallo mein Herz, ich bin’s, deine kometenhaft aufgestiegene Meisterin des Worts“, sprudelte es übermütig aus ihr heraus. „Was gibt’s mein Schatz?“, kam es etwas zurückhaltender von der anderen Seite zurück. „Du musst unbedingt sofort alles stehen und liegen lassen und sofort hier her zu mir kommen“, sagte Debby, noch immer beschwingt, „Ich will mit dir diesen wunderschönen Tag verbringen und ganz viele schöne Dinge machen.“ Nach einer kurzen Pause meldete sich Frank wieder und sprach: “Schatz, du weißt doch, dass ich gerade unheimlich viel zu tun habe. Ich kann hier nicht weg. Fahr doch zurück, dann können wir uns hier bei mir in der Mittagspause treffen.“ „Ich will aber nicht zurückfahren. Und ich will dich auch nicht nur kurz in der Mittagspause treffen, in der du ohnehin nur über deine Arbeit redest“, konterte Debby mit ernster Stimme. Wieder vergingen ein paar Sekunden, bis sich Frank meldete. „Warum kannst du nicht verstehen, dass dieser Job sehr wichtig für mich ist?“ „Falsch. Die Frage müsste wohl eher lauten, warum ich nicht verstehen kann, dir so unwichtig zu sein. Gerade an diesem Tag. Was müsste geschehen, dass ich wenigstens einmal wichtiger bin als dein blöder Job?“ kam es postwendend von Debby zurück und sie war überrascht über ihre Schlagfertigkeit, hatte sie doch sonst bei solchen Gelegenheiten nichts erwidert und sich seinem Wunsch gebeugt. Und in ihrer Stimme war nichts beschwingtes mehr. Sie war enttäuscht, zutiefst enttäuscht. Mit dieser Reaktion hatte sie an diesem Tag sicher nicht gerechnet. Frank war noch immer still. „Bist du noch da?“, fragte sie provokant. „Ja, ich bin noch da. OK, ich werde schauen, was sich machen lässt. Ich ruf dich wieder an.“ „Und wenn möglich nicht erst heute Abend, denn dann ist es zu spät“, waren die letzten Worte von Debby, bevor sie ohne Gruß auflegte. Sie war geladen, zornig. Nichts hätte ihren Tag perfekter machen können, als ihn mit Frank zu verbringen. Sie liebte ihn. Schließlich war er es gewesen, der sie aus einer tiefen Krise geholt hatte, ihr es ermöglichte aus dieser tiefen Verzweiflung wieder heraus zu kommen. Aber seine Arbeitsbesessenheit ließ sie immer wieder daran zweifeln, ob er wirklich der Richtige war. Früher hatte er sie noch umsorgt, sich liebevoll um sie gekümmert, war Tag und Nacht für sie da gewesen. Dafür war sie ihm unendlich dankbar. Aber in solchen Momenten wie diesem hier stieg in ihr immer wieder die Frage hoch, ob ihre Liebe nicht im Wesentlichen auf genau dieser Dankbarkeit begründet war. Unter anderen Umständen hätte sie sicherlich wieder sehr viel Zeit damit verbracht, Argumente für und wider dieser These in sich zu finden. Aber heute wollte sie das nicht. Sie wollte sich nicht den Tag verderben lassen. Den Tag, den sie sich so schön ausgemalt hatte und der gerade in Gefahr war, in Trostlosigkeit und Bitterkeit zu versinken.
Das beste Gegenmittel in solchen Situationen war ein ausführliches Gespräch mit ihrer besten Freundin Christine, mit der sie schon immer all ihre Sorgen, aber auch ihre Freuden geteilt hatte. Sie war wie ein Teil von ihr, die beiden verstanden sich, wie eine Person in zwei Körpern. Christine würde sich bestimmt mit ihr freuen. Sie würde sich Zeit nehmen, ganz egal, was sie auch gerade tat. Und so wählte sie, schon wieder etwas besser gestimmt, ungeduldig die Nummer ihrer besten Freundin. Und die meldete sich sofort. Debby erzählte ihrer Freundin noch einmal bis ins kleinste Detail die Ereignisse des gestrigen Abends, ihres Abends. Und auch wenn Christine das meiste davon schon wusste, weil sie natürlich auch schon am Vorabend, wenn auch kürzer als gewöhnlich miteinander gesprochen hatten, lauschte sie doch geduldig und glücklich lächelnd Debby’s Worten. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften dieser innigen Freundschaft war die besonders ausgeprägte Art, sich über Erfolge und das Glück des anderen uneingeschränkt und mit ehrlicher, tiefer Anteilnahme freuen zu können, ohne dass auch nur ein Hauch von Missgunst aufkam. Und so entwickelte sich das Gespräch ganz nach dem Geschmack von Debby. Ihr gerade noch dominierender Ärger über die Ignoranz von Frank verschwand in Windeseile und das Gefühl dieser unglaublich starken Zufriedenheit und Erfülltheit stellte sich schnell wieder ein. Als sie gerade versuchte ihrer Freundin den Verlauf eines Interviews mit einem bekannten Kunstmäzen möglichst wortgetreu und mit entsprechender Stimmlage wieder zu geben, kündigte sich auf der zweiten Leitung ihres Handys, Frank zum Gespräch an. „Christine, ich muss aufhören. Frank ruft an, wir treffen uns vielleicht heute noch. Ich ruf dich später noch mal an.“ sagte Debby hastig und einem ungewissen Gefühl über den Ausgang des nun folgenden Telefonats. „Schon gut, du aufgekratztes Huhn“, erwiderte Christine lachend, „ich wünsch dir viel Spaß. Mach’s gut, meine Kleine. Bis später.“ „Ciao Ciao , Liebes. Hab dich lieb“ erwiderte Debby, bevor sie rasch den Anruf von Frank entgegen nahm. Zu Debbys großer Freude erzählte ihr Frank, dass er sich frei genommen hatte und sich jetzt auf den Weg zu ihr machen würde. Debby fühlte sich, als ob ihr plötzlich Flügel wachsen würden. Sie war überglücklich und als sie das Gespräch beendet hatten, warf sie sich aufs Bett, trommelte mit ihren Fäusten auf die Matratze ein und freute sich unbändig. Es war ihr, als ob sich alle Engel, Feen und die ganze Welt zusammen getan hätten, um für sie den glücklichsten Tag ihres Lebens besonders schön zu gestalten.
Dann hüpfte sie von einem Fuß auf den anderen ins Bad. Sie summte und trällerte vor sich hin, strahlte vor Freude und war weitaus schneller fertig als gewöhnlich. Sie rannte, nein stürmte die Treppen zur Rezeption hinunter, da sie kaum in der Lage gewesen wäre, ein paar Sekunden im Aufzug ruhig stehend zu verbringen. Man hätte meinen können, Frank wäre schon längst da, um sie abzuholen und sie wolle keine Sekunde zu spät kommen. Aber Frank war gerade eben erst losgefahren, was Debby in ihrer unbändigen Freude aber erst realisierte, als sie vor dem freundlich lächelnden Herrn an der Rezeption stand, der sie mit fragenden und leicht verwirrten Augen anschaute, um ihr wenn möglich, ihren Wunsch von den Augen abzulesen. Was verständlicherweise nicht möglich war, da Debby so liebevoll und freudestrahlend zurücklächelte, als wolle sie ihn jeden Augenblick umarmen oder gar küssen. Er trat sicherheitshalber einen kleinen Schritt zurück und fragte sie mit zuvorkommender Stimme nach ihrem Begehr. „Was kann ich für Sie tun, wertes Fräulein?“ Wertes Fräulein – noch nie zuvor hatte sie jemand ein „Wertes Fräulein“ genannt. Zu anderer Gelegenheit hätte sie ihn wahrscheinlich verwundert angeschaut, aber heute war ihr Tag. Ganz allein. Und in ihrem unermesslichen Glück erwiderte sie, mit einem spitzbübischen Lächeln im Gesicht, stattdessen. „Das werte Fräulein möchte gerne ein kräftigendes Frühstück und alle Zeitungen mit einem Lokalteil, die sie auftreiben können.“ „Nun, der Frühstücksraum befindet sich gleich hier vorne rechts, in dem sie ein reichhaltiges Büffet erwartet. Und Zeitungen mit einem Lokalteil besitzen wir leider nur eine“, erwiderte er ihr in stoischer Ruhe, als habe er ihre kleine Anspielung zu seiner Anrede überhört, und überreichte ihr die Tageszeitung. Debby schnappte sie im aus der Hand und begann noch am Ort des Geschehens die Zeitung nach einem, und sei es noch so kleinen, Beweis für die gestrigen Geschehnisse zu durchsuchen. So als müsse sie sich selbst noch einmal versichern, dass dieser unglaubliche Abend nicht nur ein Produkt ihrer Phantasie gewesen sei. Und sie musste nicht lange suchen. Halbseitig, mit einer großen Überschrift, die von einem glanzvollen Abend im Lesesaal verkündete. Das übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Sie fasste sich ans Herz, als befürchte sie, es könne jeden Moment stehen bleiben. Es raste vor Aufregung und sie überflog den Artikel in Windeseile. Und da stand es, neben einem Bild von ihr, einem sehr vorteilhaften wie sie sofort befand. Da stand es, schwarz auf weiß. Der Verfasser, ein gewisser Markus Kohn, lobte sie und ihr Buch in den höchsten Tönen, sprach von einem bedeutenden Roman. Sie verharrte und las diese Worte, immer und immer wieder. Bedeutend. Wieder kam dieses Gefühl der Erkenntnis dieses Abends in ihr hoch. Was sie sich Jahre lang so sehnlichst herbei gewünscht hatte, ihr immer und immer wieder so zugesetzt hatte, wie ein Fluch auf ihr zu liegen schien, das alles löste sich in Wohlgefallen auf. Sie war bedeutend, denn sie hatte dieses Buch geschrieben. Sie, die immer mit dem Schicksal gehadert hatte, sie hatte endlich eine Bedeutung. Was auch immer geschehen würde, hier stand es, auf immer und ewig, noch in hundert Jahren, in den Archiven nachzulesen. Sie war bedeutend. Sie hatte keine bahnbrechende Erfindung gemacht, sie hatte auch kein neues Medikament gegen welche Krankheit auch immer erzeugt, keinen neuen Planeten am Himmel entdeckt. Sie hatte es zustande gebracht, mit ihren eigenen Worten, ihrem Gefühl, ihrem Herzen und ihrer Seele, zusammengefasst in einem Buch, andere Menschen zu berühren, zu bewegen, zu begeistern. Und das war für Debby etwas zutiefst Bedeutsames. Sie spürte, wie sich Tränen der Freude, der Erleichterung, der Erlösung von ihren größten Ängsten immer stärker in ihren Augenwinkeln bildeten und an ihren Wangen herunterliefen. Dies war der mit Abstand schönste Moment in ihrem bisherigen Leben, das von so vielen Enttäuschungen, Zweifeln und Ängsten begleitet worden war. Sie genoss ihn still, fast andächtig, ganz tief in ihrem Innersten. Und selbst das Taschentuch, das ihr der immer mehr verwirrte Herr an der Rezeption reichte, konnte sie nicht aus ihrer stillen, tiefen Freude reißen. Dies war kein Moment der großen Jubelschreie, des aufgeregten Hin und Herzappelns. Nein, dies war ein Moment der stillen Einkehr in die Tiefen ihrer Seele, der Heilung der vielen Narben, die das Leben auf dieser Seele hinterlassen hatte. Ihre Augen glänzten wie die Sonne, deren Strahlen sich im Morgentau brechen, in den schönsten und schillerndsten Farben. Erst die sorgenvolle Stimme des Portiers riss sie aus diesen Gedanken. „Geht es Ihnen gut, mein Fräulein?“ fragte er. Debby nahm das Taschentuch, wischte sich die Freudentränen aus dem Gesicht, schaute ihn lächelnd an und sagte: “Ja ja , es ist alles in Ordnung. Ich musste nur gerade an etwas sehr schönes denken.“ Der Portier schien erleichtert zu sein und widmete sich anderen Gästen, die an der Rezeption standen.
Debby blätterte übermütig weiter in der Zeitung, auch wenn es ihr selbst unwahrscheinlich erschien, noch einen Artikel über ihre erste Lesung zu finden. Es war mehr eine klitzekleine Hoffnung, die sie auch die restlichen Teile der Zeitung durchforsten ließ. Es wäre wohl besser gewesen, es nicht zu tun, denn auf einmal, völlig unvermittelt, veränderte sich ihr strahlendes Lächeln in ein bleiches, im Schreck erstarrtes Gesicht. Sie hatte ihn sofort erkannt, auch wenn es nun inzwischen schon über zehn Jahre her war, als sie zum letzten Mal das Gesicht sah, welches nun in der Zeitung abgebildet war. Eingerahmt von einem Artikel, der von einem Mann berichtete, der sich im Urlaub in Mexiko offensichtlich völlig unerklärlich von den Todesklippen in Acapulco gestürzt hatte. In dem Bericht hieß es, der Mann müsse nach den Ergebnissen der Autopsie völlig betrunken gewesen sein und die Polizei ginge von einem Selbstmord aus, da sie am Tatort kurz vor den Klippen, mit Blut auf einen Stein gemalt, die Botschaft „Ich warte auf dich“ gefunden habe. Weitere Umstände seien nicht bekannt und die Polizei bitte um entsprechende Hinweise. Debby bemerkte noch kurz, wie sich der Raum um sie herum plötzlich zu drehen begann bevor sie in Ohnmacht fiel und vor den erschrockenen Augen des Portiers und der neben ihr stehenden Gäste zu Boden glitt.
Als sie wieder zu sich kam und sich erst einmal orientierte und erleichtert feststellte, dass sie auf ihrem Zimmer im Bett lag, erkannte sie den Portier und einen ihr unbekannten Mann, der ihren Puls fühlte. „Wie fühlen Sie sich?“, fragte der Unbekannte. Debby reagierte nicht auf die Frage, sondern fragte ihrerseits: „Wer sind sie? Was machen sie hier?“ „Ich bin Dr.Steiner. Ich bin Arzt und stand gerade zufällig an der Rezeption, als sie ohnmächtig wurden“, antwortete der Unbekannte in ruhigem Ton. „Ich bin ohnmächtig geworden ?“ fragte Debby ungläubig. „Allerdings. Sie sind plötzlich in sich zusammen gefallen. Sie hatten Glück, sich nicht all zu sehr an der Empfangstheke gestoßen zu haben. Der Portier und ich haben sie auf ihr Zimmer gebracht. Das war vor ein paar Minuten.“, erwiderte Dr. Steiner. „Oh, das tut mir leid, Ihnen solche Umstände gemacht zu haben. Ich fühle mich schon wieder besser. Ich möchte nur noch ein wenig hier liegen und allein sein.“, meinte Debby. Der Portier blickte fragend zu Dr. Steiner. Er fühlte sich außerstande eine Entscheidung zu treffen. Ihm stand der Schreck noch immer ins Gesicht geschrieben. Die Ereignisse seit dem Erscheinen von Debby am Empfang bis zu ihrem Zusammenbruch hatten bei ihm ein befremdliches Gefühl hinterlassen. Er konnte sich nicht erinnern, in seinen dreißig Dienstjahren jemals so etwas erlebt zu haben. Und er wollte unter keinen Umständen irgendeine Verantwortung übernehmen. Doch Dr. Steiner nahm sie ihm just in diesem Moment ab. „Wenn Sie mir versprechen, in der nächsten halben Stunde hier ruhig liegen zu bleiben und sich auszuruhen, gehen wir jetzt. Wenn Sie wollen, schaue ich nachher gerne noch einmal vorbei.“, sagte er, zu Debby gerichtet. „Nein, danke. Mein Freund kommt gleich. Ich fühle mich schon wieder besser und möchte einfach noch ein wenig allein sein. Ich danke ihnen vielmals für ihre Hilfe.“
Es lag nicht so sehr an der baldigen Rückkehr ihres Freundes, warum Debby die beiden unbedingt schnell los haben wollte, sondern viel mehr an der Erinnerung an den Anblick des Fotos des Mannes, der ihren Weg vor rund zehn Jahren gekreuzt hatte. Mit diesem Anblick kamen immer weitere Details der damaligen Zeit in ihr hoch, dass sie befürchtete, jeden Augenblick einen Weinkrampf zu bekommen und sie wollte unbedingt vermeiden, dass die beiden vielleicht noch mehr Fragen stellen würden.
Als die beiden endlich das Zimmer verlassen hatten, lag Debby bereits wie in Trance auf ihrem Bett und ihr Verstand und all ihre Sinne waren längst schon gefangen von der Übermacht der Gefühle, die mit den Erinnerungen entstanden. Es erschien ihr, als ob mit diesem Anblick die Tür einer geheimen Kammer in der dunkelsten Ecke ihrer Seele wieder geöffnet worden sei. Alle schweren Schlösser, mit denen sie die diese Tür verriegelt hatte, alle Barrikaden, die sie vor dieser Tür aufgebaut hatte, waren vollständig verschwunden, so als wären sie nie da gewesen. Heraus strömte eine unaufhörliche Menge Gedanken, Erinnerungen, Bilder und Gefühle und überfluteten sie mit einer unbeschreiblichen Wucht und Intensität. Hätte ein Fremder sie in diesem Moment gesehen, er hätte geglaubt, sie wäre bereits tot. So flach ging ihr Atem, so erstarrt lag sie da. Und mit jeder Sekunde tauchte sie mehr und mehr in diese scheinbar längst vergessene und verdrängte Zeit ein. Auf allen Ebenen ihrer Wahrnehmung hatte die Vergangenheit die Kontrolle übernommen, und der schon leicht vermoderte Film dieser Zeit begann sich abzuspulen. Meter für Meter. Sie begann sich zu erinnern.