Der Geschmack des Lebens

Woran erkenne ich, dass ich am Leben bin? Was macht mich lebendig? Mein Herzschlag, mein Stoffwechsel? Mein Verstand mit meiner nicht wissenschaftlich nachweisbaren Seele? Die Definition des Dudens ist recht dürftig: Man sei am Leben, wenn man existiere und nicht tot sei. Den Menschen jedoch in seinem Sein nur als biologisches Objekt zu betrachten, wäre nicht nur viel zu einfach, es wäre schlicht falsch.

Mich hält die Lebendigkeit, die ich in mir fühle. Doch lebendig macht mich nicht meine biologisch belegbare Lebendigkeit, sondern meine menschlichen Empfindungen. Aber welche Empfindungen lassen mich diese Lebensliebe verspüren, die es braucht, um des Lebens nicht überdrüssig zu werden? Den Liebesrausch, weil ich mich nicht nur in eine einzige mögliche Beziehungspartnerin verliebe, sondern noch in viele weitere Menschen, in ihr Lachen, in ihre Empathie, ihren akribischen Verstand. Ich erkenne die Schönheit im Menschen trotz dass ich familiäre Gewalt und Ausgrenzung durch die Gesellschaft erlebt habe. Ich zweifelte nie an der Schönheit im Menschen, schließlich garantiert sie keine Widerspruchsfreiheit und Vollkommenheit. Womöglich ist sie im schwarz-weißen Gewissen der Menschen versteckt – im schwarzen Teil, denn dieser Bereich ist nicht nur schuldig, sondern auch verfault und entzündet, so sehr, dass es vor Verkümmerung schreit. Diese Fäulnis kann jedoch nur eintreten, wenn die Schuld anerkannt und bereut wird. Demnach ist dieses Bruchstück zwar ein Beweis des Bösen in uns, unserer tiefen Schuld, aber auch ein Zeichen für unser intaktes Gewissen, das uns schön macht, da es unsere Widerwilligkeit gegenüber dem Bösen aufzeigt. Das Gewissen hält mich, weil es mir die Hoffnung schenkt, dass Schönheit selbst in uns Teufelsmenschen steckt.

Idealisten mögen meinen, dass die Erfüllung eines Ideals die Lebendigkeit in uns weckt, doch ich als realitätsnaher Idealist bin davon überzeugt, dass das Schwelgen in der Sehnsucht nach dem Ideal ebenso erfüllend sein kann. Vielleicht ist mein Herz auch einfach besonders sentimental, weil ich mich nicht davor scheue, in Gefühlen heiß und kalt gleichermaßen zu baden. Deswegen könnte mein Herz vor Freude fast zerspringen, wenn mich jemand anlächelt, mich versteht oder mir sagt, dass er stolz auf mich ist.

Ich möchte das Leben nicht glorifizieren, weil ich den Abgrund kenne: Mich begleiten seit vielen Jahren extreme Selbstzweifel, die mich glauben lassen, dass ich dumm und unfähig bin, die mich vergiften, mich der Scham aussetzen, mich von der Welt abgrenzen, weil mich niemand versteht und mich jeden Tag aufs Neue herausfordern, weil ich mich meiner nicht schwindenden Angst ausliefern muss. Ich will das aber auch, weil ich weiß, wie der Geschmack der Überwindung und des Lebens schmeckt – bittersüß, verbrennend, stärkend. Meine Angst macht nicht weniger liebenswert, sondern empathisch und gerade deswegen wertvoll. Spätestens ab dieser Erkenntnis konnte ich nicht mehr daran zweifeln, dass das Leben lebenswert ist. Aber das wirklich so anzuerkennen, fällt mir schwer, denn manchmal vergesse ich meinen Wert, weil ich ihn zu lange nicht sah.

Die Selbstzweifel, die mich so unverfroren manipulieren; die sich von der Stille und dem Scheitern ernähren, spielen gern den Strippenzieher. Ich bin ihre fühlende Marionette, die lange versuchte, sich gegen das Ziehen zu wehren. Es ist mir misslungen. Sich gegen sie aufzulehnen, sie zu ächten, sie als Fehler anzusehen, entfachte einen inneren Kampf, der die Strippen fast unwiderruflich verknotete. Weshalb ich diesen Kampf weder verlieren noch gewinnen konnte, wurde mir erst später bewusst. Die Selbstzweifel, die sich mir aufbegehrt haben, waren nie Fremdeindringlinge, sondern immer mein eigenes Ich. Das ist eine harte Selbsterkenntnis, denn es tut weh zu erkennen, dass ich mein eigener Antagonist bin und dass dieses feindliche Fragment meines Ichs mir so sehr entfremdet ist, dass ich es nicht mehr mit meinem Verstand vereinen kann. Allerdings hilft mir diese Erkenntnis auch beim Versuch, die Selbstzweifel zu besänftigen. Einen Kampf, den ich weder verlieren noch gewinnen kann, ist ein Kampf ohne Ende, der lediglich die eigene Selbstzerstörung antreibt. Der Schlüsselpunkt liegt daher in der Wertschätzung. Dass meine Angst kein Parasit ist, sondern mich wertvoll macht, mir die Stärke der Empathie und der Reflexion verleiht, darf ich nicht vergessen. Der Gedanke, dass die Angst ein Fremdeindringling ist, der mich parasitiert hat, ist so irrtümlich. Ein Parasit ist ein Organismus, der mich als Wirt bräuchte, um zu überleben. Diese Definition widerstrebt der Beziehung zwischen Mensch und Angst. Nicht die Angst braucht den Menschen, um zu überleben, sondern der Mensch die Angst. Dieses ausgeprägte Reflexionsvermögen hält mich, denn es erinnert mich in meiner tiefsten Angst an die Wahrheit. Dennoch zittere ich, ringe nach Atmen, sehne mich so sehr nach einem Menschen, der mein zu schnell schlagendes Herz in die Hand nimmt, es nicht loslässt, bis es wieder gemächlich vor sich hinschlägt.

Ebenso bindet mich meine Leidenschaftlichkeit ans Leben. Ich bin so vernarrt in Sprache, in Literatur und Poesie, in die Verwundbarkeit des Menschen, die uns menschlich macht, in den Schmerz, der nie milder wird, weil die Liebe wahrlich das Stärkste ist, aber auch in unsere Unzulänglichkeiten, denn wenn wir dennoch „Ja“ zum Leben sagen, ist das Ja- Wort so viel lebensbejahender, da man trotz eines nagenden Zweifels „Ja“ zum Leben sagt; bereit, ein Opfer zu bringen. Wie kann man in Schmerz vernarrt sein, fragt man sich, aber ich frage mich viel eher, wie man von der Liebe als stärkstes Gefühl reden kann, wenn es keinen Schmerz gäbe. Liebe ist nicht rein, sie ist ambivalent und wandelbar, denn sie beschreibt einen Seiltanz zwischen Schmerz und Erfüllung.

Oft habe ich mir die Zunge am Leben verbrannt, aber sie verheilte immer verlässlich; manchmal mit Narben. Diese bunten Narben sind weder auffällig, hässlich noch besonders. Sie sind unsichtbar durch ihre Natürlichkeit, verbunden mit dem Wunsch nach Sichtbarkeit, weil wir uns unermesslich geliebt fühlen wollen, auch von denen, die die Narben verursachen, weil wir selbst welche anderen zufügen. Ich will dort geliebt werden, wo ich bunt und ruiniert bin; wo ich Mensch bin. Wir Menschen sind wie Phönixe, weil wir immer wieder die Kraft haben, uns selbst aus der verbrannten Asche neu zu erschaffen. Phönixe lieben das Sterben, um zu überleben und um noch schöner zurückzukehren. Wir müssen am Leid nicht zugrunde gehen. Deswegen ist es so schmerzlich gut, dass ich Schwächen habe.
 
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