Der große Strandklau

Pieter van der Meulen hätte zu keiner Zeit vermutet, in eine Midlife Crisis zu geraten, die auf sein Leben in einem typisch holländischen Idyll zurückzuführen wäre. Antriebsschwäche, morgendliche Verstimmungen und ganz allgemein Zweifel am Sinn des Lebens, darunter leidet er aktuell in seiner Lebensmitte. Es ist für ihn bislang undenkbar gewesen, in einer anderen als in der holländischen Landschaft zu leben, dieses beschauliche flache Land täglich um sich zu haben. Aber gerade diese Bilderbuchlandschaft, von vielen Gräben durchzogene, mit schmucken Häusern und gepflegten Vorgärten gesäumte, aufgeräumte Welt, geht ihm eines Tages fürchterlich auf die Nerven. So verlässt Pieter seine Heimat. Seine kinderlose Ehe ist ohnehin am Ende, sein Arbeitgeber wird seine Position wieder adäquat besetzen können. Ein Leben in einem der europäischen Nachbarländer kommt für Pieter nicht in Frage, zu gering der Abstand zur Heimat. Er beschließt, nach Indien zu reisen - viel mehr kulturelle und geopolitische Distanz zu den Niederlanden geht nicht. Mit seinem Ersparten ist der Lebensunterhalt in Indien vermutlich für längere Zeit gesichert.

Allein schon das Eintauchen in diese exotische Welt, gleich nach der Ankunft in Delhi. Es fühlt sich wie der Anfang einer inneren Runderneuerung an. Unglaubliche Menschenmengen veranstalten ein chaotischen Durch- und Miteinander in diesem Moloch von einer Stadt. Die Kakophonie ihrer Geräuschkulisse, dazu die verstaubte, rauchgeschwängerte Luft, die fremdartigen, betörenden Gerüche, das alles verunsichert ihn anfänglich, zieht ihn aber später in seinen Bann und lässt ihn seine Heimat bald vergessen. Nach nur wenigen Wochen der Eingewöhnung reist Pieter weiter. Es zieht ihn in die Berge, ins Vor-Himalaya. Solch ein überwältigendes Landschaftspanorama kennt er bislang nur aus Filmen oder von Bildern. Er reist zunächst nach Kashmir, in das Tal von Srinagar und von dort aus in die benachbarte, höher gelegene Region Ladakh, direkt am Fuße des Himalaya. Dieses Leben in einer betörenden Umgebung lässt ihn zu einem anderen Menschen werden, der seinen inneren Kompass hier neu justieren kann. Falls es einen Ort wie das Shangri-La geben sollte, hier könnte es sein. Westeuropäische Lebenskrise? Er ist nie weiter davon entfernt gewesen als hier und jetzt. Als ein in seinem Inneren runderneuerter Mensch sucht er nach Erweiterung seines Horizonts. Er ist der Faszination Indiens erlegen, er will mehr davon kennenlernen, und so reist Pieter südwärts durch den Sub-Kontinent. Er durchquert das tropische Süd-Indien und findet einen traumhaft schönen Ort für einen längeren Aufenthalt, den malerischen Küstenort Burudeshwar im Bundesstaat Karnataka, in einiger Entfernung zu dem turbulenten Hot-Spot Goa. Pieter hatte in seiner alten Heimat nie weit entfernt vom Wasser gelebt, was in den Niederlanden auch kaum möglich ist. Aber dieses hier, das ist eine andere Kategorie. Vom mit Kokospalmen bestandenen Strand auf das blaue Wasser des Arabischen Meers zu blicken, hier seine innere Ruhe zu finden, das erfüllt ihn täglich aufs Neue.

Doch dann erhält diese tropische Idylle einen Riss. Zunächst sind es nur laute Geräusche einzelner schwerer Schiffsdiesel, bald baut sich jedoch dieser Lärm zu einer unerträglichen Geräuschkulisse auf, eine ganze Armada riesiger Dickschiffe durchpflügt dröhnend das Meer in Strandnähe. Pieter ist fassungslos. Abends in seinem Stammlokal erfährt er dann von Einheimischen, dass diese lärmenden Kolosse riesige Mengen von Sand absaugen. Dieser wird unter anderem für den Bau künstlicher Inseln in den arabischen Golfstaaten und für die Errichtung anderer Prestigebauten in aller Welt verwendet. Als ob es davon nicht genug davon in ihren Wüsten gäbe. Und solch eine brachiale Schädigung der Umwelt muss ausgerechnet einer ertragen, der früher Bürger eines Landes war, in dem dem Meer Land abgerungen wird, wo Küsten verbreitert und nicht weggebaggert werden. Für Pieter erhält diese Unternehmung eine ganz spezielle Bedeutung, als er erfährt, dass diese Ungeheuerlichkeit durch ein holländisches Unternehmen ausgeführt wird, er kann es kaum glauben. Das, was ihm die Einheimischen hier vor Ort berichten, wird durch die Aussagen dreier junger Australier erhärtet. Diese lernt er auf einer Umweltveranstaltung zum Erhalt tropischer Strände im nahen Manguluru kennen. Die jungen Leute haben bereits erfolgreich verhindert, dass in ihrer australischen Heimat lange Strandabschnitte durch solch einen Strandklau großräumig abgesaugt und verschifft werden. Der Bau einer künstlichen Insel im Stadtstaat Singapur wird durch ihre aufsehenerregende Aktion gerade noch verhindert. Die Bauherren ziehen daraufhin weiter und beschaffen sich den Sand durch besagte holländische Firma in der Inselwelt Malaysias. Es muss für ihre Zwecke zwingend der Sand aus Flussmündungen oder dem Meer sein; Wüstensand ist für die Herstellung von Zement, und somit zum Bauen, ungeeignet.

Pieter wird durch den Einfluss der jungen Australier zum überzeugten Aktivisten gegen den weltweiten Sanddiebstahl, der ganze Küstenlinien verschwinden lässt. Zusammen mit seinen Mitstreitern werden spektakuläre Aktionen gegen den großen Strandklau geplant und, leider nur zu selten, erfolgreich durchgeführt. In einem Fall gelingt es der Gruppe, durch ihre engagierte Maßnahme Sandstrände in Indonesien zu schützen. Die Demonstranten besetzen mehrere kleine Inseln und Atolle und ketten sich vor Beginn der Sandverholung an Bäume, die dort die Strände säumen. Das hält die Naturfrevler zunächst ab. Dann ziehen sie zum Sandklau weiter an andere Strände; korrupte Regionalpolitiker vor Ort machen dies möglich. Für die Strandbewahrer ist es jedoch unmöglich, sämtliche der mehr als fünfzehntausend Inseln der Region zu schützen. Trotz breit angelegter Protestaktionen wird dort eine riesige Menge Sand gestohlen und für Bauzwecke verschifft. Experten berichten, dass dadurch ganze Inseln komplett verschwinden. Und in einigen Fällen werden passend dazu vorgelagerte Korallenbänke geschreddert, zermahlen und gleich mitgeklaut - das ergibt besonders guten Kalk für die Zementherstellung. Was Pieter zusätzlich erzürnt: Der Hauptakteur dieser unsäglichen Aktion ist auch hier ein niederländisches Unternehmen aus Rotterdam.

An diesem Punkt ist die Zeit des plakativen Aktionismus für ihn beendet. Pieter macht einen gewaltigen Schritt nach vorn, er verklagt die Firma vor einem internationalen Gericht und bekommt mit seiner Klage erstinstanzlich recht. Doch dieses finanzstarke Unternehmen ist davon wenig beeindruckt und geht den gerichtlichen Weg durch weitere Instanzen. In diesem Justizmarathon bleibt Pieter van der Meulen letztendlich finanziell auf der Strecke. Die enormen Kosten für die Prozessführung übertreffen seine Möglichkeiten, seine Ressourcen sind irgendwann aufgebraucht, selbst die zahlreich geflossenen Spenden reichen für einen langen Prozessweg nicht aus. Pieter ist wirtschaftlich ruiniert. Was bleibt, ist eine öffentliche Fokussierung auf einen bislang international kaum beachteten Umweltfrevel enormen Ausmaßes. Die banale Floskel “........., davon gibt es wie Sand am Meer“, hat einen bitteren Beigeschmack bekommen.
 
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