Der Held

Markus Veith

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Ich habe Flohmärkte immer geliebt. Damit meine ich jene großen Märkte, wo alte Bücher nach alten Büchern riechen und echte Silberservices nach Gewicht verkauft werden.
Mein Vater war Antiquitätenhändler und auf seinen Beutezügen durch halb Europa nahm er mich des öfteren mit. Er besuchte immer dieselben Trödelmärkte in den großen Metropolen des Kontinents. Und immer an den selben Wochentagen. Wir hatten einen richtigen Zeitplan, wo wir wann sein mußten. Schon früh morgens, so gegen fünf, wenn ein Trödelmarkt eröffnete, waren wir bereits dort und warteten darauf, daß sich die ersten weißen Laken oder Folien der Stände lüfteten. Zu dieser Stunde konnte mein Vater noch hoffen, einige Schnäppchen zu entdecken und zu erwerben, bevor der langschlafende Touristenstrom den Markt überflutete.
Meist war es dann so, daß mein Vater mir zwanzig Mark in der jeweiligen Währung überließ und ich so meine eigenen ersten Geschäfte machen konnte. Später gestand er mir, daß er so stets die Vater-Schmach meiner Anwesenheit hatte verhindern wollen, für den Fall, daß ihn mal ausgekochte Händler über den antiquaren Tisch gezogen hätte.
Ein Markt in London hatte es meinem Vater und mir besonders angetan. Er war ziemlich groß und füllte sämtliche benachbarten Gassen aus. Hier konnte ich stundenlang herumlaufen. Die Zeit wurde nie langweilig. Überall gucken, ausprobieren, anprobieren, anfassen und begutachten. So tief die stöbernden Sinne reichten.
Oft feilschte ich auch, doch nur um des Feilschens willen und weniger, um etwas für mich zu erwerben. Manchmal gelang es mir sogar, das Geld gewinnbringend zu gebrauchen, indem ich hier etwas billig herunterhandelte und erwarb, um es dort hochgefeilscht zu verkaufen. Aber meist lief ich einfach nur herum und genoß die Auslagen. - Überquellenden Tische mit bemalten Pozellan und Geschirr und Besteck. Blankpolierte Zinngefäße mit schnulzigen Motiven. Stände, die sich gänzlich auf Lampen und Kerzenleuchter spezialisiert hatten. Tiffanys, etliche Lampenschirme ohne Leuchten und Leuchten ohne Lampenschirme, Lampen, die man sich selbst zusammensetzen konnte, verschnörkelte Lampen, einfache Lampen, ehemals teure Lampen und ehemals schöne Lampen.
An anderen Ständen gab es noch (oder auch wieder) eingeschweißte WC-Garnituren oder Küchengeräte, welche noch in der Originalverpackung angeboten wurden. Diese verblichenen Schachteln mußten doch jahrzehntelang von ihren Käufern aufbewahrt worden sein.
Es gab Dinge, die so dermaßen häßlich waren, daß sie nie jemand kreiert haben konnte. Bilder, so kitschig, daß keiner sie hätte vollenden können. Und doch wurden sie gekauft. Solche Dinge kann man nur hungrig sammeln oder aus ganzem Herzen genießen.
Da gab es reine Technikstände. Aus Wohnzimmerschränken herausmontierte Lautsprecher. Schreibmaschinen, mit fehlenden Tasten. Alte Fernseher, die in ihrem elektrischen Leben nie in den Genuß von Kabelprogrammen gelangen würden. Fotoapparate, deren Bedienungsanleitungen noch in Altdeutsch verfaßt worden sein mußten. Möbelartige Radios, von Telefunken und Imperial und anderen Marken, die es gar nicht mehr gab, da die Herstellerfirmen Bankrott gemacht hatten, weil ihre Produkte zu robust gewesen waren. Ich habe gesehen, wie sie zu antiken Rundfunkmäuerchen übereinandergestapelt waren.
Gleich daneben konnte eingepacktes Autozubehör liegen. Oder auch Badezimmeramaturen aus Chrom. Oder eine Garnison Trinkgläser und Karaffen. Oder abgegriffener Kupfer- und Messing-Zierrat.
Hier und da schlich ein Schwall leicht muffigen Geruches durch den Schweiß der Menschen. Sei es der Mottenkugel-Odem der kunterbunt behangenen Kleiderständer, oder der Duft von Tausenden von Bücher, welche halbzerflückt und wundgelesen, in Pappkartons auf ihren Verkauf warteten.
Andere Stände hatten schubladenweise Armbanduhren und Schmuck anzubieten. Woher sie sie hatten, fragte niemand. Armeemützen und Uniformen, die längst nicht mehr vermißt wurden und aus längst vergessen gewollten Zeiten stammten.
Wieder andere Stände hatten sich auf Spielzeug spezialisiert. Puppen, die mal "Mama" gesagt haben mochten. Plüschtiere, deren Kirmesherkunft man an der Reisfüllung und den aufgeklebten Plastikaugen erkennen konnte. Kistenweise Comics, die von fiebrigen Freaks mit hektischen Fingern durchforstet wurden.
Ü-Eier gab es damals schon. Doch fand man die heute unbezahlbaren Dotterfüllungen noch in Krimskramkisten; als Lockmittel für kleine Kinder, die sich "da mal was raussuchen durften", damit Papa und Mama ihre Blicke auf die Auslagen werfen konnten.
All das wurde überschallt von energischem Feilschen und von der Musik der vielen Schallplatten-Stände. Aus allen Ecken tönten Komm-mal-her's und Schau-doch-mal's und Wieviel?'s in jeder Tonart und Lautstärke.
Wenn es einen Ort gibt, an dem alle Gegenstände, die irgendwann einmal verloren worden sind, wieder auftauchen, so ist es dieser Markt.
Sagte ich schon, daß ich diesen Trödelplaneten liebte? Kann sein. Ich werde es immer wieder sagen. Denn, und das war ein Pflichtbesuch bei jedem Londoner Streifzug: Ich mußte meinen Helden sehen.
Mino, der stärkste Mann der Welt. Ach, was sage ich - des Universums. Mino brauchte man nie suchen. Man fand ihn. Mino war stets da, wo Applaus zu hören war und die Menschen in einer weiten Traube die Straße versperrten. Ich mußte mich immer erst durch die hohen Masten der Leute hindurchwinden, um ganz nach vorne zu kommen.
Ich sehe ihn heute noch vor mir. Er war nicht besonders groß, aber um so kräftiger. Er trug immer einfache, weite Stoffhosen und ein einfaches, weißes, geripptes Trägerhemd. darunter ballten sich Minos phantastische Muskeln und er zeigte sie freizügig der ganzen Welt. Dichte, schwarze Haare hatte er und eine lange Narbe, die sich wie eine Ackerfurche tief und rot links an seiner Nase entlangzog. Und seine Augen. Seine dunklen Augen, in denen es blitzte, wie bei einer elektrischen Entladung.
Einige der Leute sagten, er sei Zigeuner, aber andere Leute brachten das Gerücht auf, Mino hieße in Wirklichkeit Edward und sei gebürtiger Engländer aus Sussex. Die Haare sollte er sich angeblich nur schwarz gefärbt haben. Diesen Unsinn glaubte ich natürlich nicht. Das konnte ich gar nicht glauben und eigentlich war es mir ein Rätsel, wie die Leute, die in Minos Augen sahen, dieser Lüge auch nur ansatzweise Glauben schenken konnten.
Niemand konnte stärker sein als Mino. Keiner war den Wahnsinnsgewichten, die mein Held bei sich hatte, gewachsen, außer er selbst. Es waren Gewichte aus Stahl oder Eisen, ich wußte es nicht genau, aber sie waren so schwer, daß die Männer aus dem Publikum sie nur mit Mühe und Not anheben konnten. Und er, Mino, hob zwei. An jedem Arm einen. Bestimmt einen Meter hoch.
Dann befestigte er diese beiden Gewichte und noch zwei weitere aneinander, machte daran eine Kette mit einem Lederriemen fest und legte sich den Riemen um den Nacken. Daraufhin ging er tief in die Hocke und verharrte so eine Weile. Die Menschenmenge um ihn herum hielt gebannt den Atem an. Und dann - mit einem zornigen Schrei, der mich jedesmal aufs neue erschaudern ließ, hob er unter dem tosenden Applaus das doppelte Gewicht hoch.
Und das war noch längst nicht alles.
Er machte sich einen Spaß daraus, Männer aus dem Publikum zum Tauziehen herauszufordern. Zwei Kerle gegen ihn alleine. Ich kann mich nicht erinnern, daß Mino hierbei mal nicht gewonnen hätte. Und wie er dann jedesmal die Männer ins Lächerliche zog. Er feuerte die zwei als Schlappschwänze an und die Menge quittierte ihm seine oft bösartig beleidigenden Späße mit begeistertem Klatschen. Dann funkelte es in seinen dunklen Augen besonders feurig.
Zum Schluß ließ sich Mino immer von den Männern mit Eisenketten fesseln und forderte sie mit seiner mächtigen Stimme auf, fester zu ziehen. Kräftig! Dabei fluchte er wie ein Rohrspatz und beschimpfte und verspottete die beiden Kerle, sie seien Waschlappen und kleine Mädchen. Die wurden dann oft wirklich ungehalten und zerrten die Ketten so fest sie konnten um Minos breiten Körper.
Und dann, als wieder Ruhe eingekehrt war und alle Augen voller Unruhe auf den Geketteten gerichtet waren, da spannte mein Held seine Muskeln an. Jeden Muskel und jede einzelne Sehne konnte man sehen. Kraftgeballt zeichneten sie sich unter seiner Haut ab. Sein dunkles Gesicht mit der langen Narbe lief rot an, die Adern an den Schläfen und am Hals wölbten sich gefährlich, schienen sich prall aufzupumpen. Mino ging zitternd in die Knie. Er biß die Zähne so fest aufeinander, daß sie sicherlich bei jedem anderen Menschen zerplatzt wären. Man wollte schon glauben: "Gleich ist es aus mit ihm.", da konnte man beobachten, wie sich die einzelnen Kettenglieder langsam auseinanderbogen. Einen Augenblick später klirrte es und die Kette sprengte entzwei und rasselte schlaff auf den Asphalt. Einmal fiel mir ein zersprungenes Kettenglied direkt vor die Füße.
Und da stand er dann wieder - die Muskelarme siegreich emporgerissen: Mino, der Stärkste! Mino, der Held! Die Leute jubelten und klatschten und als er seine Tweed-Mütze nahm, da brauchte er gar nichts weiter zu tun, als dazustehen. Die Leute kamen zu ihm und das Gewicht vieler Münzen beulte die Mütze unten aus.
Ich gab ihm immer etwas und jedes Mal gab er mir dann einen Klaps gegen die Schulter und zwinkerte mir freundlich zu.
Ja. Mino war mein Held. - Die zersprungene Kette habe ich aufbewahrt und trage das Stück als meinen ständigen Begleiter in meiner Jackentasche. Bis heute.
Ich bin nun dreiunddreißig Jahre alt.
Seit etlichen Jahren bin ich nicht mehr auf dem Markt gewesen. Ehrlich gesat, ich scheue mich, zu gestehen, daß fast zwei Jahrzehnte vergangen sind, seit ich das letzte Mal in London war. Denn mitten in der Pupertät war es mir irgendwann zu doof geworden, meinen Vater auf seinen Trödeltrips zu begleiten. Ich hing viel lieber in Diskotheken herum, um mich im Knutschen zu versuchen und mich von der gerade aufwallenden, neuen Welle umspülen zu lassen. Ich zappelte durch meine stürmischen Jugendtage und stieß mir die Hörner rund, um wieder ruhiger zu werden. In der Arbeit der folgenden Jahre vergaß ich die Zeit und lebte mein stinknormales Leben.
Aber das Leben ist doch zufälliger, als man meinen mag. Vor einigen Tagen überredete mich ein Freund zu einem Spontantrip nach England und so komme ich nach Jahren mal wieder auf die Insel.
Es ist Winter, aber das macht nichts. Ich freue mich an den alten Anblicken der Großstadt, ob sie nun kalt sind oder nicht. Und während mein Freund sich in Museen aufwärmt, kann ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, meinen alten Markt zu besuchen, um die Farben in meiner Erinnerung wieder aufzufrischen.
Seine Straßen erscheinen mir in ihrem alten, rauhbeinigen Glanz, obwohl ich glaube, daß einige der Häuser wohl renoviert worden sind. Doch ist es möglich, daß ich mir dies nur einbilde. Ich hoffte auch zuerst, daß der Stand, an dem es German Bratwurst gibt, Einbildung ist, doch leider ist dem nicht so.
Lächelnd strolche ich an den Ständen und Auslagen vorbei. Im Grunde hat sich nicht viel geändert. Mir fällt nur auf, daß hier heute einige der Dinge liegen und verkauft werden, die bei meinem letzten Besuch in London der letzte Schrei waren.
Da sehe ich plötzlich eine von diesen kleinen Nippesgebilden auf einem Auslagetisch stehen und muß unterdrückt lachen, da ich glaube, diese Figur zu kennen. Es ist eine zierliche Porzellan-Szene aus 'Alice im Wunderland', mit Humptidumpti auf der Mauer. Meine Phantasie läßt nur zwei Möglichkeiten zu: Entweder muß ich sie irgendwann mal hier gekauft und dann wohl später verloren haben und sie ist automatisch hierher zurückgekehrt, oder aber sie hat diesen Verkaufstisch seit fast zwanzig Jahren nicht verlassen und ich habe sie schon damals hier stehen sehen.
Dieser Gedanke gefällt mir. Ich notiere ihn mir, wie es meine Gewohnheit ist, sofort in meinem Notizbüchlein, welches ich stets bei mir trage. Notizbücher haben die praktische Angewohnheit, daß sie klein sind und ohne zu drücken in alle möglichen Jackentaschen passen. Sie haben aber auch die schlechte Angewohnheit, daß sie eben klein sind und es furchtbar umständlich ist, in ihnen zu schreiben, wenn nichts in der Nähe ist, wo man sie drauflegen kann. - Daher hocke ich mich hin und benutze meinen Oberschenkel als Unterlage.
Wie ich in dieser Stellung meine Gedanken aufschreibe und die Beine der englischen Bevölkerung an mir vorüberstolpern lasse, bemerke ich ein paar ausgelatschte Turnschuhe, die mein Blickfeld durchqueren. Das Kunstleder und das Plastik an ihnen ist brüchig und an den Seiten heruntergetreten. Ihre Spur verläuft unregelmäßig. Sie weicht aus und läßt nicht ausweichen.
Gewiß ist kein Nobelviertel, aber solcherart Beine fallen immer auf und sei es nur für einen nasegerümpften Blick. Ich erhebe mich, um mir den Menschen und Inhaber dieser Schuhe genauer anzusehen.
Der alte Mann schleppt sich und seine Sporttasche durch die Menge. Das er ein wenig wankt, liegt nicht etwa an einem überschwappenden Alkoholspiegel, sondern schlicht am Alter des Mannes.
Er trägt eine graue Stoffhose und einen löchrigen hellblauen Pullover. Seine Haltung ist gebeugt und seine Bewegungen so sperrig, als bemühe er sich krampfhaft, gerade zu laufen. Auf der blassen Kopfhaut kann man verkrustete Schürfstellen unter den grauen, spärlich dünnen Haaren entdecken. Sein Gesicht schaut aus, als sei es mit der Zeit nach unten gesackt und baumle nur noch in seiner alten Verankerung. Die Narbe neben der Nase ist nur noch eine etwas tiefere Falte.
Ich gehe ihm nach. Ich spüre eine plötzliche Benommenheit aufkommen, die meinen Füße in Bewegung setzt und ganz automatisch laufe ich hinter ihm her. Einfach, weil ich es immer getan habe, wenn ich ihn in diesen Straßen gesehen habe.
Ich warte auf den Applaus. Den hat es oft gegeben, wenn Mino durch die Straße ging. Aber diesmal gibt es keinen Applaus.
Mino tapst an den Leuten vorüber. Ihre Blicke folgen ihm zwar, doch ist weder Bewunderung, noch Ehrfurcht in ihren Gesichtern zu lesen. Ich muß mir eingestehen, daß ich Mitleid mit diesem alten Mann habe. Daß auch ich Mitleid mit diesem alten Mann habe. Daß auch ich viel lieber weggucken würde.
An der Ecke zur nächsten Straße bleibt der alte Mann stehen, blickt ausdruckslos um sich und stellt seine Tasche ab. Ich bleibe in einiger Entfernung, um mich eine Weile an der Hauswand festzuhalten. Mir ist schwindelig. Mir ist, als bröckele in mir etwas langsam auseinander. Mein Atem wölkt sich grau in den Februar. Minos auch. Trotzdem zieht sich der Alte nun den durchlöcherten Pullover aus und bückt sich nach seiner Tasche. Ich erschrecke so, daß ich mir beide Hände vor den Mund halten muß, damit sich mein hilfloses Ächzen ungehört in meine Handschuhe murmeln kann.
Mino trägt auch diesmal ein geripptes Unterhemd ohne Ärmel. Doch ist es mehr fleckig als weiß und wohl lange nicht gewechselt worden. Schweißränder aus alten Tagen zieren den Rücken. Die Muskeln hängen ihm lappig am dürren, verwelkten Körper.
In der Tür eines Ramsch- und Souvenirladens lehnt ein dicker Mann. Er ist wohl auch der Besitzer der Verkaufsstände, die den Bürgersteig vor dem Laden einnehmen. Mißbilligend runzelt er die Stirn.
"Hey, Eddi!" ruft er. "Mach's kurz, ja!"
Der alte Mann schaut kurz auf und nickt schweigend in die Richtung des Souvenirladens. Sein Narbengesicht verzieht sich dabei bitter, so als habe er sich beim Schweigen auf die Zunge gebissen.
Das Rufen des Dicken hat die Leute aufmerksam werden lassen. Einige sind stehengeblieben und schauen dem alten Mann, den der Dicke "Eddi" genannt hat, befremdet und belustigt zu, wie dieser in seine Sporttasche greift und eine Kette herausholt. Auch ich komme näher heran, um genauer sehen zu können. Heute sind mir keine Säulenbeine mehr im Weg. Da sind keine Gewichte in der Tasche. Nur eine Kette. Und die ist weder besonders dick, noch sonderlich lang.
Ohne ein Wort zu sagen geht der alte Mann in der Runde herum, drückt den Leuten die Kette in die Hand und fordert sie mit heftigen Gesten auf, an der Kette zu reißen und sie auf Festigkeit zu prüfen. Die Haut an seinen Armen baumelt dabei. Einige Leute lachen. Das kenne ich von früher. Nur haben sie da mit Mino gelacht und nicht über einen alten Mann.
Der Alte hat noch immer kein Wort gesprochen. Kein feistes Lachen wie früher, nichtmal ein Lächeln ist auf dem angespannten Gesicht zu sehen. Um uns herum hat sich eine Menschentraube angesammelt und neugierig beobachten die Leute das Geschehen. Doch sind auch ihre Blicke nicht wie die Blicke von früher. In den Augen damals war kein Belächeln und Grinsen zu sehen gewesen.
Beschämt schaue ich auf meine Schuhe.
Da steht er plötzlich vor mir, greift mich beim Handgelenk und zieht mich in die Mitte des Kreises. Ich bin so erschrocken, daß ich zusammenzucke. Er drückt mir das eine Ende der Kette in die Hand. Das andere Ende schlingt er sich um seinen mageren Leib und hält es sich vor der Brust zusammen.
Zu keiner Bewegung fähig, verharre ich und starre in sein altes Gesicht, auf den offenen, kalt atmenden Mund, auf die laufende Nase. Dann auf die Kette, die zwischen ihm und mir hängt, wie eine groteske Nabelschnur. Ich weiß, was ich zu tun habe. Vor zwanzig Jahren hätte ich viel darum gegeben, es einmal tun zu dürfen. Aber heute will ich es nicht tun.
Der Alte starrt mich an und nickt mir immer wieder auffordernd zu. Er wird ungeduldig. 'Gleich verhöhnt er mich.' schwirrt mir durch den Kopf. ' Gleich macht er sich über mich lustig und alle lachen mich aus. Doch da spricht Mino endlich: "Los, mach schon! Fessel mich endlich mit der Scheißkette!"
Das hat Mino früher auch immer gebrüllt. - Nur viel kraftvoller.
Der Alte hat kaum noch Zähne. Rostig aussehende Stumpen halten sich in seinen schäbigen Felgen fest und seine Stimme klingt wie ein fistelndes Reibeisen. Wieder lachen und kichern die Leute um uns herum.
Dann ziehe ich doch an der Kette. Humpelnd dreht sich der Alte um die eigene Achse, so daß sich der dünne Eisenstrang um ihn herumwickelt. Dabei zerrt und zieht er sich keuchend von mir weg, damit der Zug strammer wird. Ich umfasse die Kette stärker, ziehe sie in meine Richtung. Jede dieser Bewegungen gibt mir einen Stich, tut mir im Innersten weh. Trotzdem ziehe ich mit aller Kraft. Ich glaube, wenn ich noch fester zerre, könnte ich den Alten problemlos wie eine kleine, kläffende Töle über den markt führen, so kraftlos sind seine Zappeleien, mit denen er sich dreht.
Vor meinen Augen zerrieselt mein Held. Wie eine Bleifigur an Sylvester zerschmilzt der frühere Mino in meinen Händen zu einer Pfütze qualmenden Etwas, das keinen Namen mehr hat. Es dreht sich windend und krümmend und keuchend vor mir im Kreis, wobei sich der Kettenstrang auf dem schmuddeligen Hemd eindrücken. Die weiche, schlaffe Haut der Oberarme quetscht sich durch die Eisenglieder.
"Fester!" kräht der gefesselte Greis und ein Tropfen fällt ihm aus der Nase.
Ich will das alles nicht. Ich kann kaum atmen vor Unwillen, aber ich bewege mich so mechanisch, daß ich den Zug meiner Hände gar nicht mehr spüre.
Dann ist keine Kette mehr da. So lang ist sie gar nicht gewesen. Nicht so lang wie früher - und auch dünner. Die Kette hat ihn nur dreimal umwunden. Doch das Zappeln, mit dem der Alte die Spannung erhöhen wollte, hat das Fesseln in die Länge gezogen. Die Hände hat er die ganze Zeit krampfhaft gefaltet mit dem einen Ende der Kette vor der Brust gehalten. Nun öffnet er sie und reckt mir ein kleines, geöffnetes Zylinderschloß entgegen. Es ist eines jener Sorte, die man nur noch zudrücken muß. Er hat es dort die ganze Zeit über festgehalten. Ich nehme es benommen aus den zitternden, gebundenen Händen. Feucht und warm fühlt es sich an. "Mach zu! - Aber feste!"
Ich greife nach dem losen Ende der Kette. Eine Erinnerung schiebt sich mir in die Gedanken. Ich habe diesen Vorgang des Schloßanlegens damals oft beobachtet und immer habe ich innerlich gebangt: Er kann sich vielleicht nicht befreien. Vielleicht klappt es diesmal nicht. Diesmal ist es vielleicht zu fest.
Doch dann ist mir immer eingefallen, daß es ja Mino ist, mein Held, und ich habe mir keine Sorgen mehr gemacht.
Doch was ist jetzt? Ich beobachte nun nicht mehr. Ich lege das Schloß selbst an. Die Kette ist kürzer und dünner. Mino hat auch keine Gewichte gehoben. Er ist also noch ausgeruht. - Vor zwanzig Jahren wäre Mino noch ausgeruht gewesen. Mein Held Mino hätte sich mit so etwas erst gar nicht abgegeben. Gelacht hätte er darüber.
Der alte Mann vor mir lacht nicht.
Ich habe das Schloß angelegt. Einen Augenblick weiß ich nicht, was ich tun soll. Dann trete ich in den Menschenkreis zurück. Es kommt mir wie eine Flucht vor. Die Scham kriecht mir aus dem Nacken. Meine Hand greift in meine Jackentasche und umklammert das alte Kettenstück, das sich dort befindet. Ich drücke so fest zu, daß mir die Handinnenseite weh tut. Ich spüre, wie meine Beine zittern. Ich will nicht hinschauen, aber ich muß es schließlich tun. Irgendwie muß ich das alles doch tun, oder?
Es dauert nur einen kurzen Augenblick, dann ist es schon vorbei. Es ist längst nicht so dramatisch, wie in meiner Erinnerung. Aus dem Stumpenmund des Mannes quoll ein lautes Ächzen. Der lichte, dünngraue Kopf lief rot an. Ein Ruck, ein Rasseln und die Kette rutschte über die Schultern um den faltigen Hals. Das war's.
Keine zersprungenen Kettenglieder klirren auf die Straße. Kein triumphales Lachen. Keine jubelnde Menge. Doch das macht mir nichts mehr. Meine Erinnerung ist so zusammengeschrumpft worden, daß mir nichts mehr fehlt.
Müdes, höfliches Klatschen tröpfelt durch den Kreis. Der Alte humpelt schnell zu seiner Sporttasche und holt eine gammelige Tweed-Mütze hervor. Dann muß er sich beeilen, denn die Menschentraube pflückt sich schon auseinander. Ein paar mitleidige Münzen kann er noch sammeln.
Ich fühle mich immer noch wie benommen. Wie am Asphalt festgewurzelt, die Hände in den Jackentaschen versteckt, stehe ich noch da, als er schließlich zu mir kommt. Einen Augenblick lang schaut er mich nur an. Und ich schaue ihn an. Er lächelt nicht und ich bin sicher, wenn ich nun nicht die Hand aus der Jackentasche geholt hätte, wäre er im nächsten Moment einfach weitergegangen, weil er sich in den letzten Jahren an solche Reaktionen gewöhnt hat. Ohne jegliche Mienenregung hält er die Mütze in meine Richtung. Ich lege ihm fünf Pfund, die ich noch in der Tasche habe und das alte geborstene Kettenglied auf die kleinen Münzen.
Die alten Augen des Mannes verengen sich verwirrt und ein irritierter, fragender Blick hebt sich aus dem Innern der Mütze zu mir empor.
"Das haben sie verloren." sage ich nur zu ihm.
Der Alte starrt mich an. Dann blickt er wieder in die Mütze auf den gebrochenen Eisenring, der um einiges größer ist, als die Glieder der Kette in seiner Tasche. Bestimmt eine Minute steht er so da und auch ich rühre mich nicht. Schließlich schaut er wieder zu mir auf und ich sehe, wie sein Blick aus seinen Augen schwimmt. Da verzieht er den Mund zu einem Lächeln und mit einer trägen Bewegung gibt er mir einen Klaps gegen die Schulter. Als er zwinkert, löst sich ein Tropfen aus seinem linken Auge und rinnt durch die Narbe an seinem Gesicht herab.
Dann dreht sich mein Held Mino um, räumt seine Sachen in die zerschlissene Sporttasche und verschwindet wenig später in der Dichte des Trödelmarktes.
 
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So schön! Aber findest Du nicht, dass Deine Texte viel zu gut für die Leselupe sind? Die könnte man unendlich lesen, lesen ...
 

maskeso

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Wirklich wunderbar. Die erzählhaltung, die Sprache (wenn auch unspektakulär), der Inhalt.
Zu gut für die Leselupe? Was soll denn der Unfug?
 
G

Guest

Gast
Mit dem "Zu gut für die Leselupe" habe ich gemeint: Wer so wunderschön schreibt, hebt sich deutlich von dem allgem. Niveau ab und seine Geschichten gehören in ein Buch, wo nur seine Geschichten sein konnen.

Marina
 
G

Guest

Gast
Jawohl! Druckreif für ein Buch, wo nur seine Geschichten gedrückt werden können. Ohne Nachbarn, O.K.?
 

maskeso

Mitglied
ok

Eine gute Geschichte macht noch kein gutes Buch. Zum Glück lassen sich aber genug finden, dass er es sicher auch 'ohne Nachbarn' voll bekommt. OK.
 

Markus Veith

Mitglied
Pax, Leute! Pax! ;-)

Um auch mal endlich selbst wieder etwas in diesem Forum zu sagen: Vielen, herzlichen und ehrlichen Dank für eure Beiträge und Kritiken. Ihr glaubt gar nicht, wie ungemein gut es tut, nach vielen "Niederschlägen" von Seiten der Verlage (Mein neuer Roman ging 30 mal raus und kam 30 mal wieder zurück. Jetzt mach ich's selbst.) hier jeden Morgen neue und auch noch so gute und konstruktive Kritiken zu bekommen. Von daher, liebe Marina, ist es mir sogar eine Ehre, hier veröffentlichen zu können.
Doch a propos Buch. Ich spiele mit dem Gedanken, nachdem ich meine letzten Prosa-Babys gleich noch unter die Erzählungen und Kurzgeschichten setze, bald mal meinen ersten Roman ("Der Silber") in Fortsetzungen hier den Kritiken auszusetzen. Bin gespannt, wie das ankommt.
PS-Frage an Maskeso als alteingesessenen Leselupen-Lektor: Ist es eigentlich möglich, hier auch Buch-Werbung zu machen? (Ich frage lieber, bevor ich mich in die Nesseln setze.) Schließlich sind fast alle Geschichten bereits in nunmehr bald 7 Büchern, die ich alle selbst produziere, verkaufe und natürlich auch loswerden möchte.
Außerdem hatte ich die Idee, ob man nicht mal ein Treffen mit den Leselupen-Klickern organisieren könnte. Zwar würde dann die Anonymität des Internets flöten gehen, doch interessant wäre es sicherlich. Was haltet ihr davon?
Mit literarischem Gruß
Markus Veith
 
G

Guest

Gast
Hallo Markus!

Dich habe ich ganz zufällig hier entdeckt. Habe einfach angefangen eine Erzählung von Dir zu lesen. Viele von Deinen Geschichten sind so schön und gelassen erzählt, dass ich war überrascht Dich hier kennenzulernen. Der erste Gedanke war: "Warum habe ich von diesem Autor bis jetzt nichts gehört? Warum ist er plötzlich in der Leselupe?"
Das, was Du mit Verlagen meinst, kann ich gur verstehen. Heute spielt noch Vitamin "B" eine grosse Rolle. Ich habe selber kurze Zeit in einer Redaktion mitgearbeitet, der Ablauf fast überall ist gleich: es wird Anfang delesen, wenn die Voraussätzungen (je nach Verlag)erfüllt sind, dann wird es aufgenommen, aber auch hier muss man damit rechnen, dass sehr vieles abgeändert werden muss, etc., etc. Wenn es einen Lektor gibt, der von Deinen Geschichten begeistert ist, dann ist es geschafft. Und Name, Name, Name. das ist das Wichtigste heute. Je mehr über einen geredet wird (egal, ob positiv oder negativ), der wird eher einen Erfolg haben. Bloss weil er sich bemerkbar gemacht hat. Erst dann geht es richtig los. Dann wird man auf die Probe gestellt.
Gerne werde ich mehr von Dir lesen. Zu den Geschichten, die mich beeindrückt haben, schreibe ich immer einen Kommentar.

Grüss
 

maskeso

Mitglied
Hi Markus: Das mit dem Reallifetreffen - da gibt es gerade einen Thread im Forum "Allgemeine Diskussionen", wo genau dies diskutiert wird.
Buchwerbung - so lange man es nicht übertreibt. Wie stellst du es dir denn vor? Wenn du anfängst mitten im Kurzgeschichtenforum Werbung zu posten, machst du dir damit sicher keine Freunde. Alles eine Frage des Maßes..

Ich freue mich schon auf das Buch!
 



 
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