Der Herr und die Mohnblume

Kirtap_Rey

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Jedes Dorf, jede Gemeinde, ja selbst jedes Land hat einen solchen Herrn. Er wird aufgrund seiner Autorität und Hingabe zur Erziehung oft als Vater bezeichnet und sorgt für Ordnung und Recht, wobei die Beurteilung des Letzteren selbstverständlich ihm selbst obliegt. Auch wenn er viel wichtigere Aufgaben innehält, so erfreut ihn vor allem die Überprüfung der kleinen Dinge; denn wie könnte die große Maschinerie nur überleben, wenn das kleine Rädchen nicht läuft!?
Gern schlenderte der Herr am Feld entlang. Auf der einen Seite konnte er die Heckenhöhe und -breite überprüfen, um bei Überschreitung der vorgeschriebenen Maximalmaßen ein saftiges Bußgeld zu fordern. Auf der anderen Seite lag ein Feld zur Begutachtung, welches nur nach strengsten Vorgaben bepflanzt werden durfte und selbstverständlich nur von ihm genehmigte Samen austragen durfte.

Es war ein fröhlicher Frühlingsmorgen. Der Herr war mit seiner Runde bisweilen vollauf zufrieden und pfiff fröhlich die autorisierte Tonabfolge der Region. Er kannte sich nicht mit Musik aus, aber zumindest qualifizierte es sich somit in seinen Ohren als Lied. Als er bereits auf dem Rückweg war, fiel ihm eine ungewohnte Farbe auf, welche durch das Gold des angehenden Weizens schimmerte. Er kniff die Augen zusammen und suchte das Feld nach der Ursache dieser Störung ab. Es schien als ob sich in der Ferne inmitten des Feldes ein schüchternes Köpfchen nach unten neigt um seinen Inhalt auszuspucken. Sofort verschwand diese seltsame Einbildung hinter einem Meer aus Ähren, welche vom Wind zum Tanz aufgerufen wurden.
Er schüttelte den Kopf und richtete sich wieder auf. Nein, in seinem Feld kann so etwas unmöglich passiert sein! Der Tag war lang und die Anstrengung wie immer hoch, da musste ihm der Verstand einen Streich gespielt haben! Lieber gleich nach Haus! So bewegte er sich in eiligem Schritt über die Straße, fast in die Schlaglöcher stolpernd, nach Hause. Stimmt, die Löcher wollte er noch irgendwann stopfen.

In seinem viereckigen Kastenhaus angekommen, warf er sich sofort in sein DIN-genormtes Einzelbett und schlief auf der Stelle ein. Die Träume waren reich von schönen geradförmigen Vier- und Dreiecken, welche sich einer Messe gleich mustergenau in ein Bild völliger Geschlossenheit zusammenvereinten.
Am nächsten Morgen hatte sich der Herr bereits von dem Schock erholt – vielmehr, er hatte ihn sogar ganz und gar verdrängt! Mit seinem passgenauen Zylinder auf dem Kopf flanierte er im Armenviertel umher und verteilte kostenlose Ratschläge. Im bürgerlichen Viertel angekommen, packte er seinen Klingelbeutel aus und hielt Predigten über die armen Arbeiter, welche von den großzügigen Steuerabgaben der arbeitenden Bevölkerung am Leben erhalten würden. Im Reichenviertel gönnte er sich zur Auffrischung erst einmal einen kühlen Schampus, damit der Hals beim Verhandeln über die Zuwendungen für den Bau der neuen Müllverbrennungsanlage nicht trocken bleibt.

Er war bereits gutgelaunt auf dem Weg nach Hause, als ihm noch diese eine kleine letzte Sache einfiel. Er befahl seinem Fahrer in die Seitenstraße abzubiegen, gen Feld. Er wolle noch etwas überprüfen. Beim Feld angekommen, stieg er aus und suchte die Stelle, von welcher aus er am vorherigen Tage seine merkwürdige Entdeckung gemacht hatte.
Schon wollte er mit der Sache abschließen und wieder ins Auto steigen, als plötzlich ein Schein durch die dichte Weizendecke stach. Mir entkommst du nicht, dachte er sich, und rann näher an das Feld heran. Mit angestrengter Lunge keuchte er am Wegesrand und musterte die goldene Weizenwand erneut. Wahrhaftig! Mitten zwischen den goldenen Stielen saß eine einsame Mohnblume! Ihr grüner Körper kämpfte gegen die Nachbarn und der Kopf lag schüchtern auf ihren Schultern, so als wolle sie sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen.

Der Herr wusste nicht wie ihm geschah. Fluchtartig rannte er zum Wagen, welcher den Motor noch hatte laufen lassen. Das ist natürlich dem Normalbürger nicht gestattet, aber jede verlorene Minute des Herren wiegt nun mal weit mehr als der umweltschonende Aspekt, nach dem er diese Regel erlassen hatte.
Stopp, was gingen ihm solche Gedanken durch den Kopf, wenn er sich doch in der Stunde der Not mit viel wichtigeren Dingen zu befassen hatte? Die Mohnblume, wie sie ihn mit einer Engelsschuld zu bezirzen versucht hat, sie war ganz und gar Teil seiner Realität geworden! Er musste schnellstens etwas dagegen unternehmen, bevor es noch ausartete!
Er befahl dem Fahrer ohne Umwege direkt zu seinem Hauptsitz zu fahren, aber nicht zu schnell, denn an die Geschwindigkeitsbegrenzungen müsse man sich selbst in einer Ausnahmesituation wie dieser halten! Er möge auch bei seinem Domizil anrufen und darum bitten, die Palisaden so zügig wie möglich herunterzulassen wenn sie ihn erblicken; er habe keine Zeit für unnötiges Warten!

Im Domizil angekommen, spurtete er die genau nach DIN 16,66cm hohen Stufen zu seinem Arbeitszimmer hoch, die hallenden Schritte als dramatischer Wegbegleiter. Er muss eine Lösung finden, rasch, rasch! Mit einem Satz sprang fiel er mit der Tür in das Arbeitszimmer der Sekretärin ein. ‚Übersicht, genau! Fräulein Müller, bitte bringen Sie das Reißbrett mit der Stadtübersicht! Danke.‘ In der Zwischenzeit sortierte er die amtlichen Bleistifte der Länge nach, um sich zu beruhigen. ‚Teufelswerk, was braucht sie so lange?‘ Jetzt waren die Radiergummis an der Reihe. Als Fräulein Müller endlich das gewünschte Utensil brachte, traute sie sich gar nicht mehr, sich in dem Zimmer zu bewegen. Selbst die Gardinen hatten die Falten der anderen Seite gespiegelt.

Wie ein Feldherr versuchte der Herr, sich ein Lagebild von der Situation zu beschaffen. ‚Wir hier, aha, der Feind in Quadrant W4. Der Feind belustigt sich sogar über mich… Widerstand wir! Ich habe es mit keinem Anfänger zu tun, hier gilt es vorsichtig zu agieren! Wer weiß, vielleicht ist er der Kopf einer Zelle? Ist er ein Schläfer? Er ist voll Hohn, dieser Mohn!‘
Völlig erbittert griff er zum Telefon und rief seinen Generalstab an, um die Lage zu erklären. ‚Was man da machen könne? Wie bitte, es sei nur ein Einzelner? All Übel fängt mit dem Einzelnen an, ein Exempel müsse statuiert werden! Aha, verstehe, guter Vorschlag. In den Morgenstunden ausführen!‘ Der Hörer schlug weich auf sein angestammtes Bett. ‚So, jetzt wollen wir doch mal sehen was du dem entgegenzusetzen haben wirst.‘

Am nächsten Morgen erwachte der Herr fröhlich aus seinem Schlaf. In der Nacht hatte er von geradlinigen Linealen geträumt, welche im Lot zentimetergenau über die Wasserwage sprangen. Am Frühstückstisch verspeiste er seine mit dem Zirkelstab ausgeschnittenen Spiegeleier und den im Messbecher servierten, mit 100% aus Frucht bestehendem Orangensaft.
Er warf sich den von Falten freigebügelten Gehrock um die Schultern und begab sich in gleichmäßigen Schritten zu dem vor der Tür wartenden Wagen. Mit einem frivolen Lächeln stieg er in den Wagen, um seine morgendlichen Termine abzuklappern. Doch bevor es zu der Pflicht ging, wollt er sich den Tag mit seinem kürzlich errungenen Sieg über die Mohnblume versüßen. Also auf, nichts wie hin!

Schon von weitem konnte man sehen, dass sich die Landschaft verändert hatte. Der Frühling lag in der Vergangenheit und der Sommer brach an; das in den auslaufenden Wintertagen gestreute Saatgut gab sich all erdenkliche Mühe, gen Himmel zu sprießen um die Dörfer zu umstellen. Mitten in der Reihe dieser goldenen, aufrecht dem Herrn zum Salut stehenden Getreidefeldern war ein Loch zu erkennen, in wessen Zentrum eine einsame Figur zu erkennen war.
‚Jetzt stehst du alleine da, du Dissident! Werden doch mal sehen, ob du schon zurück unter die Erde gekrochen bist und dich versteckt hast, jetzt da du nackt und exponiert im Raume stehst!‘

Die Karre schwang gehaltvoll in den Kurven umher, während der Herr es gar nicht mehr erwarten konnte, endlich seinen Triumpf in vollem Umfang auszukosten, so groß war der Hunger nach dem Sieg. Es waren nur noch wenige Minuten, schließlich Meter, bis der Platz erreicht wurde. Die Arbeiter waren noch damit beschäftigt, die frisch geschorenen Pflanzen fachgerecht zu entsorgen, da sie schließlich als mutmaßliche Mithelfer nicht auszuschließen waren.

Beim näheren Heranfahren senkte sich jedoch die Laune des Herrn. Mit jedem Augenzwinkern versuchte er sich zurück in die Realität zu bringen, welche mit seiner Vorstellung so gar nicht überein sein wollte. Inmitten des Felds, von ausgedörrter Erde umgeben, stand die Mohnblume gar senkrechter als die von ihm bisher passierten, zum Spalier angetretenen Heerschaaren von Getreide. ‚Du wagst es! Siehst du nicht, dass du alleine bist? Niemand steht an deiner Seite! Trotz der Einsamkeit besitzt du die eitle Ignoranz und posaunst deinen Widerstand nur so heraus!? Schau um dich, nichts als verbrannte Erde findest du vor! Was denkst du, wer sich dir jetzt anschließen wird? Keiner! Also lass es lieber sein und gib ganz auf!‘

Mit einer Wut für eine ganze Nation im Bauch befahl er die sofortige Abfahrt. ‚Die Schlacht mag er gewonnen haben, aber der Krieg hat gerade erst begonnen!‘ Mit dieser Erkenntnis im Gepäck grübelte er so lange vor sich hin, dass man beinahe bei ihm eine Schlechtwettersteuer hätte eintreiben können, so verdunkelt und unheilvoll schwebten die Wolken über ihm.
Ob er das Militär nicht einschalten könnte, um ihn auszuradieren? Nein, das wäre keine gute Idee. Nicht, dass jemand seinem merkwürdigen Befehl widersprechen würde, nein, vielmehr würde solch eine Maßnahme das Gerede der Bürger auf sich ziehen. Was würde man nur von ihm denken?
Er, der Herr, stand nämlich stets für die beste aller Alternativen. Er war das Gegenstück zu all jenen Feinden, welche nur Unheil wollten! Daher musste er sich manchmal der Methoden seiner Feinde behelfen, um sie zu abzuwenden; doch was zu weit geht, geht zu weit.

Es gab zwar Wahlen, doch eine Wahl hatten sie nicht. Egal, bei welchem Kandidaten sie ihr Kreuz setzten, sie alle setzten sich für ihn ein, nannten ihn gar als den Grund für ihre Kandidatur; wie könnte er da nur einem Monster gleich die wehrlose Mohnblume köpfen, zerrupfen, gar in tausend Einzelteile zerreißen? Und für was? Auch wenn das Gesetz keine Strafe für das Anderssein in Aussicht stellte, so war es Teil des gesunden Menschenverstandes, nicht gegen das ordentliche Allgemeinbild zu verstoßen. Die Lösung musste also subtiler sein, anders ging es nicht.

Von Tag zu Tag quälte sich der Herr mehr, denn die bloße Anwesenheit der Mohnblume schrie nur so vor Spott, vor Missachtung seiner Autorität! Das Rot stach über das freigemähte Feld wie ein Stachel in die offene Wunde. Die täglichen Geschäfte bereiteten ihm genauso wenig Freude wie das einst glückselige Gefühl beim Geradebiegen zu krummer Gurken. Jede freudige Erregung wurde von dem weiten Schatten der Mohnblume überworfen, welche sich mittlerweile selbst in seinen Träumen einen Platz reserviert hatte.

Es war bereits mitten im Spätsommer, als ihm plötzlich beim Frühstückstisch eine boshaft geniale Idee überkam. Er grinste mit breitem Gesicht hinüber zu der Mohnblume, welche ihn am Tisch sitzend still von außen beobachtete. Die Augen verengten sich und warfen listige Blicke.
‚Wer allein steht, knickt nicht immer gleich ein. Doch wenn ihm der Nährboden entzogen wird, kann auch nichts mehr nachkommen. Bist wie ein Tier; also werde ich Dich wie eines behandeln. Die Planierraupe wird das letzte Insekt sein, welches du sehen wirst!‘
Nach einigen Gesprächen mit verschiedenen wichtigen Personen glühte der Hörer so stark, dass er sich die Finger daran verbrannte. Mit der einen Hand in Bandage und der anderen am Kugelschreiber, machte er sich letzte Notizen. Zu einer Pressekonferenz hatte er gerufen, es galt den Schlachtplan öffentlich zu machen. Er war genial.

Am Nachmittag war es soweit. Vor versammelter Presse setzte er den ersten Spatenstich in den ausgedörrten Boden, selbstverständlich in Sichtweite zur Mohnblume. Einen Parkplatz hatte er geplant. Dieser lief um die Blume herum, ohne sie jedoch selbst anzugreifen. Sie stand sozusagen im Mittelpunkt der Planung. Unabsichtlich, versteht sich.
Natürlich war ein öffentlicher Parkplatz ohne Gebäude sinnlos und hätte sein Anliegen nur entlarvt. Daher bekam der Parkplatz einen großen Einkaufspark dazu, frei Haus sozusagen. Das Projekt war zwar teuer und sehr zum Missfallen der Anwohner, aber es gab kein Problem, welches nicht mit Geld gelöst werden konnte.

Gegen Ende des Sommers war es endlich soweit. Der Parkplatz (und natürlich das unwichtige Einkaufszentrum) war vollendet und bedrängte die Mohnblume von allen Seiten. Das pflanzenfreie Grau schlug auf sie ein wie ein Hammer auf den Amboss. Die roten Funken warf die Blume in Form ihrer Blätter nach und nach ab. Der Kopf hing mit jedem Schlag der vom Beton reflektierten stechenden Sonne mehr und mehr nach unten und weinte ihre roten Tränen.
Im September war der Plan vollendet; die Mohnblume war geschlagen. Auf der von ihm organisierten Trauerfeier bekundete der Herr seine Anerkennung, und auf der Einweihung ihres Denkmals lobte er ihren Mut so sehr in den Himmel, dass ein Zurückkehren auf den Boden der Tatsachen schier unmöglich war.

Das Leben kehrte nach und nach zu seiner Normalität zurück; die Hecken wurden wieder abgemessen und korrigiert, die Schlaglöcher wie gewohnt ignoriert. Der einzige Unterschied war, dass der Herr einmal in der Woche bei der alten Stelle vorbeischaute, um seiner alten Feindin -die einzige, die je diesen Namen verdient hatte- in Ehren einen Besuch abzustatten. Eine gewisse Schwermut legte sich stets auf ihn, da der Kampf ohne Herausforderung schließlich keiner ist. Und der letzte wahre Gegner war geschlagen…

Eines Tages, an seinem Geburtstag um genau zu sein, kehrte der Herr von seiner täglichen Runde zurück und begab sich entgegen Gewohnheit sofort in sein Arbeitszimmer, weil er in Eile den ungerade gestreiften Nadelanzug mitgenommen hatte – und das an einem geraden Tag! Welch Schande! Er wollte schon aus dem Zimmer eilen, als Alarmglocken aus dem Augenwinkel schellten. Mit einem großen Satz sprang er ans Fenster und blickte ungläubig hinaus. Für einen Augenblick war er wie zur Salzsäule erstarrt, im nächsten fiel er horizontal zu Boden und kam mit einem großen Knall auf.

Die herbeigeschreckten Mitarbeiter stürzten sofort in das Zimmer und wunderten sich über das Ereignis. Die Stille wurde von der Sekretärin unterbrochen, die da ganz ruhig sprach: ‚Keine Sorge, das ist nur ein Anzeichen seiner Freude. Nach all seinen schönen Worten über den armen Mohn hat er es sich wohl nicht vorstellen können, je wieder einen zu erblicken! Zum Glück hat er uns gute Mitarbeiter, welche ihm zum Geburtstag das schönste aller Geschenke gemacht haben und die ganze Wiese mit Mohn bepflanzt haben. Das hat ihn so ergriffen, dass er vor Begeisterung einfach umgefallen ist!‘
 



 
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