Der Hüter des Zedernwaldes

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Teletobs

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Die Krieger sahen prächtig aus, wie sie durch das Tor zogen. Blumen säumten den Weg, das Volk jubelte, alte Männer befanden auf Gehstöcken gestützt die Ausrüstung für gut, ein paar Mütter weinten. Überall grölte die Menge: „Eddin! Eddin!“. Die Rüstungen funkelten im Sonnenlicht.
Ev roch den süßen Duft, der jedes Jahr die Luft erfüllte, wenn die Krieger in den Wald aufbrachen. Unten in der Menge war er bestimmt noch viel stärker als hier oben auf dem Balkon. Ihre kurzen Beine baumelten vom Schoß der Mutter. Rechts neben ihr stand ihr Vater, der König, aufrecht und verabschiedete die Krieger mit erhabenem Kopfnicken.

„Was ist Eddin, Mama?“, frage Ev. Sie nahm einen ihrer beiden Zöpfe in den Mund und kaute.
Ihre Mutter sprach, ohne Ev anzusehen.
„Jahre bevor du geboren wurdest, bekam ich einen Sohn, Eddin. Er war der Stolz des Volkes. Mit sieben Jahren geriet er in einen Streit mit deinem Vater. Dabei floh er in den Zedernwald und verschwand. Jedes Jahr schickt dein Vater Krieger in den Wald, um den Sohn zu suchen.“
„Warum hat ihn noch niemand gefunden?“, mampfte Ev.
„Das ist nicht so einfach. Humbaba bewacht den Wald und wütet unaufhörlich.“
„Humbaba?“
„Der Hüter des Zedernwaldes. Man sagt, er ist ein Ungeheuer, groß wie der Palast und Armen so dick wie Türme. Seine Haut ist schwarz wie Obsidian und sein Brüllen der Donner der Nacht.“ Der Zopf fiel Ev aus dem Mund.
„Hast du Humbaba schon mal gesehen?“ Die Mutter atmete aus. Es war seltsam. Die Mutter strahlte mit ihrem schönsten Lächeln, während sie erzählte, aber Ev sah, dass sie nur lächelte, weil das Volk zusah.
„Kein Mann kehrte je wieder zurück. Aber er hinterlässt ein Zeichen. Eine untergehende Sonne mit sieben Strahlen. Sei es ins Fleisch geschnitten, in die Asche gebrannt oder in den Fels gerissen. Die sieben Schreckensstrahlen löschen alles Leben aus.“
Ein großer Jubelschrei ertönte. Einer der Soldaten hatte eine schwarze Puppe mit einem Dolch an das Stadttor genagelt.
Ev kannte die meisten der Soldaten. Oft hatte sie im Palasthof auf einem Mäuerchen gesessen und zugesehen, wie sie trainierten. Einer der Soldaten sah zur ihr hoch, sodass Ev einen Moment lang in seine braunen Augen sehen konnte. Er lief ganz hinten und winkte ihr zu. Ev mochte ihn. Einmal, nach dem Training, hatte er ihr eine kleine, gebastelte Blume geschenkt, deren Blüten sich im Wind drehen. „Damit kannst du den Wind einfangen“, waren seine Worte.
Ev winkte zurück, der Junge lachte und verschwand hinter dem Torbogen. Sie schaute wieder zu Mutter.
„Wenn Humbaba so böse ist, warum lachen dann alle?“
„Es ist eine Ehre, für den König in den Wald zu ziehen. Jeder junge Krieger möchte derjenige sein, der Humbaba erlegt.“
„Wenn ich groß bin, werde ich Humbaba töten und meinen Bruder rächen.“ Mutter seufzte kaum merklich.
„Das wird nicht möglich sein. Damals hat dein Vater geschworen, den gesamten Wald abzubrennen, sobald du Eddins Alter erreichst. Das ist nun sieben Jahre her, am selben Tag wurdest du geboren.“
„Also ist heute die letzte Jagd auf Humbaba?“
„Wenn die Männer auch dieses Mal Eddin nicht finden, wird der Zedernwald brennen.
„Aber der Zedernwald ist der Stolz des Volkes! All die schönen Geschichten“, flehte Ev. Sie zog den wunderbaren Duft ein, der in der Luft lag.
Mit lauten Krachen fiel das Stadttor ins Schloss. Rasch verlor sich die Menge in den Straßen.
Schlagartig war das Lächeln auf Mutters Gesicht verschwunden. Sie packte Ev an den Schultern und schaute ihr tief in die Augen.
„Dein Vater hat den Schmerz nie überwunden. Niemals darfst du dich diesem Wald nähern.“
Sie sah ihren Vater an. Er starrte mit leerem Blick in die Ferne. Er nickte immer noch.
„Einst war der Zedernwald das Herz unseres Volkes, doch seit damals ist es der Tod.“
Ihre Mutter nahm den König am Arm und führte ihn in den Palast.

Ev blieb alleine auf dem Balkon. Kaum hatte sie erfahren, einen Bruder zu haben, sollte sie ihn gleich wieder verlieren. Im Palast war es langweilig, es gab nichts zu spielen und die Männer übten immer den selben Kampf. Vielleicht hatten Vater und Mutter die Hoffnung aufgegeben, aber tief in ihr drin wusste Ev, dass Eddin noch lebte. Die Männer mussten Humbaba finden und ihn töten. Dann würde Eddin zurückkommen und der Wald leben.
Ihr Blick schweifte über den roten Horizont, über die weite Ebene, wo eine Staubwolke von dem Kriegertrupp zeugte. Sie sah die Felder, Dächer, die Stadtmauer. Sie sah runter zum Tor.
Was war das? Wenige Schritte vor dem Tor im Sand lag eine kleine, gebastelte Blume, wie die, die sie von dem Soldaten bekommen hatte.
Bestimmt wollte er sie als Glücksbringer mit sich nehmen. Ich habe ihm gewunken und deshalb hat er sie verloren, dachte Ev.

Ein Wind strich ihr durch das schwarze, dichte Haar, das ihre Zöpfe kaum zu zähmen vermochten, wirbelte es auf und legte sich wieder. Überall hieß es, dass ihr Vater einst auch solch eine Mähne getragen hatte. Sie kannte ihn nur mit kahlrasiertem Kopf. Dabei liebte sie das Gefühl, wenn die Winde durch die Haare streichelten, sie in die eine oder andere Richtung zogen. Die Blüten des Windrädchens zitterten.
Einen Moment schloss Eve die Augen, dann sprang sie auf die Brüstung, balancierte auf dem Geländer, hüpfte auf einen benachbarten Mauervorsprung und lehnte Kopf und Rücken an die Wand. Unter ihr ging es einige Meter in die Tiefe. Wenn ihre Mutter nun kam, um sie in den Palast zu holen, waren ihr mehrere Ohrfeigen sicher. Aber diese Route beherrschte sie im Schlaf. Ev grinste. Das wollte sie dann lieber doch nicht ausprobieren.
Sie ging in die Hocke und sprang.
Inannas Flügel hielten sie. Sie bekam das raue Mauerrelief der Göttin zu fassen, bohrte die Füße in ihren Bauch und hielt sich fest. Über den Schoß und das faltige Gewand kletterte sie abwärts, bis sie den Boden unter sich spürte. Eigentlich mochte Ev das übergroße Relief in der Palastmauer nicht besonders, es war alt und unbeweglich. Inanna blinzelte nie, aber Mutter meinte, das sei gut so.
Nach ein paar Stufen gelangte sie am Tor an. Ein verirrter Fuß hatte das Windrädchen in den Sand gedrückt und eine Blüte abgeknickt. Ev hielt es in die Luft. Es drehte sich etwas unrund, aber es fing den Wind.
Ev wusste, was zu tun war. Der junge Soldat brauchte seinen Wind zurück, damit er Humbaba töten und Eddin nach Hause bringen konnte. Dieses Jahr musste es gelingen oder Eddin war für immer tot.
Sie sah hoch zum Palast. Aus den Gemächern ihrer Eltern drang stumpfes, gelbes Licht. Es flackerte nicht. In den Gängen des Palastes wehte kein Wind, nichts. Wenn sie sich beeilte, könnte sie ihn noch einholen, ohne dass Mutter etwas merkte. Sie waren noch nicht lange fort und an diesem Tag im Jahr blieben Mutter und der König immer bis in die Morgenstunden wach, ohne ihr Zimmer zu verlassen.
Sie blickte auf und erwischte den Torwächter wie er sie anstarrte. Ev grinste und schlenderte auf das Tor zu. Ein paar Meter davor blieb sie stehen.
Der Wächter war jung, vermutlich war heute sein erster Tag, heute war die Stelle frei geworden. Er hielt den Kopf gerade, versuchte gleichzeitig nach vorne zu schauen und Ev im Blick zu behalten und schien hektisch nachzudenken.
Keine Wache dürfe einem Mitglied der Königsfamilie den Weg versperren, das lernte man in der Kaserne, aber das kleine Mädchen? Davon hatte niemand etwas gesagt.
Ev räusperte und lief weiter.
Sofort zog der junge Soldat das Tor auf, etwas zu hektisch als angebracht. Aufrecht stand er neben dem offenen Tor, der Helm rutschte ihm ins Gesicht.
Noch einmal blieb Ev stehen, vor ihr lag das weite Land. Ein Wind zog durch die Torflügel hindurch.
Kurzentschlossen griff sie nach dem Dolch mit der Puppe, riss beide aus dem schweren Holz, machte einen Satz und ging hindurch. Hinter ihr knallte das Tor zu. Erst langsam, dann rannte sie los, immer weiter in die Richtung, in der sie die Staubwolke vermutete. Das Windrädchen drehte sich eifrig in der einen Hand, die schwarze Puppe und den Dolch hielt sie in der anderen fest.
Der alte Wächter hätte sie niemals gehen lassen.

Fortsetzung folgt...
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Hallo Teletobs!

Ich warte auf die Fortsetzung! Spannende Geschichte. Du hast es geschafft im Leser eine erwartungsvolle Stimmung zu erzeugen. Was ist dort im Wald wirklich passiert? Wer ist dieses Ungeheuer? Lebt der Junge vielleicht noch?

Schöne Grüße, von Geschichtenerzähler
 

Teletobs

Mitglied
Es geht weiter, langsam aber stetig.

Vielen Dank, es freut mich sehr, wenn ich ein paar Erwartungen schüren konnte.
Für Hinweise auf Logikfehler, unstimmige Formulierungen, etc. bin ich dankbar!
 
Hallo Teletobs!

Deine Geschichte hält bisher die Spannung. Über Logik möchte ich erst etwas sagen, wenn die komplette Erzählung steht.
Was Kommatas und solche Sachen angeht, kann ich dir nichts sagen. Da habe ich selber oft Probleme. Hier nur ein paar Vorschläge zu Wort u.
Satz. Du hast einige Füllwörter eingebaut, die vielleicht nicht nötig sind. Passiert mir auch immer.
Allerdings sind die sogenannten Füllwörter nicht ganz unnötig, oft halten sie den Text auch lebendig.
Schöne Grüße, und weiterhin viel Spaß beim Schreiben,
wünscht Geschichtenerzähler


Ein (Wort ist unnötig) Wind strich ihr durch das schwarze, dichte Haar, das ihre Zöpfe kaum zu zähmen vermochten, wirbelte es auf und legte sich wieder. Überall hieß es, dass ihr Vater Füllwort (einst) auch solch eine Mähne getragen hatte. Sie kannte ihn nur mit kahlrasiertem Kopf. Dabei liebte sie das Gefühl, wenn die Winde durch die Haare streichelten, sie in die eine oder andere Richtung zogen. Die Blüten des Windrädchens zitterten.
Einen Moment schloss Eve die Augen, dann sprang sie auf die Brüstung, balancierte auf dem Geländer, hüpfte auf einen benachbarten Mauervorsprung, Füllwort und lehnte Kopf und Rücken an die Wand. Unter ihr ging es einige Meter in die Tiefe. Wenn ihre Mutter nun kam, um sie in den Palast zu holen, waren ihr mehrere Ohrfeigen sicher. Aber diese Route beherrschte sie im Schlaf. Ev grinste. Das wollte sie dann lieber doch nicht ausprobieren.
Sie ging in die Hocke und sprang.
Inannas Flügel hielten sie. Sie (Ein Sie zu viel, besser Name!) bekam das raue Mauerrelief der Göttin zu fassen, bohrte die Füße in ihren Bauch und hielt sich fest. Über den Schoß und das faltige Gewand kletterte sie abwärts, bis sie den Boden unter sich spürte. Eigentlich mochte Ev das übergroße Relief in der Palastmauer nicht besonders, es war alt und unbeweglich. Inanna blinzelte nie, aber Mutter meinte, das sei gut so.
Nach ein paar Stufen gelangte sie am Tor an. Ein verirrter Fuß hatte das Windrädchen in den Sand gedrückt und eine Blüte abgeknickt. Ev hielt es hoch in die Luft . Es drehte sich etwas unrund, aber es fing den Wind.
Ev Sie wusste, was zu tun war. Der junge Soldat brauchte seinen Wind zurück, damit er Humbaba töten und Eddin nach Hause bringen konnte. Dieses Jahr musste es gelingen oder Eddin war für immer tot.
Sie sah hoch zum Palast. Aus den Gemächern ihrer Eltern drang stumpfes, gelbes Licht. Es flackerte nicht. In den Gängen des Palastes wehte kein Wind, nichts. Wenn sie sich beeilte, könnte sie ihn noch einholen, ohne dass Mutter etwas merkte. Sie waren noch nicht lange fort und an diesem Tag im Jahr blieben Mutter und der König immer bis in die Morgenstunden wach, ohne ihr Zimmer zu verlassen.
Sie blickte auf und erwischte den Torwächter wie er sie anstarrte. Ev grinste und schlenderte auf das Tor zu. Ein paar Meter davor blieb sie stehen.
Der Wächter war jung, vermutlich war heute sein erster Tag, heute war die Stelle frei geworden. Er hielt den Kopf gerade, versuchte gleichzeitig nach vorne zu schauen, und Ev im Blick zu behalten und schien hektisch nachzudenken.
Keine Wache dürfe darf einem Mitglied der Königsfamilie den Weg versperren, das lernte man in der Kaserne, aber das kleine Mädchen? Davon hatte niemand etwas gesagt.
Ev räusperte und lief weiter.
Sofort zog der junge Soldat das Tor auf, etwas zu hektisch als angebracht. Aufrecht stand er neben dem offenen Tor, der Helm rutschte ihm ins Gesicht.
Noch einmal blieb Ev stehen, vor ihr lag das weite Land. Ein Wind zog durch die Torflügel hindurch.
Kurzentschlossen griff sie nach dem Dolch mit der Puppe, riss beide aus dem schweren Holz, machte einen Satz und ging hindurch. Hinter ihr knallte das Tor zu. Erst langsam, dann rannte sie los, immer weiter in die Richtung, in der sie die Staubwolke vermutete. Das Windrädchen drehte sich eifrig in der einen Hand, die schwarze Puppe und den Dolch hielt sie in der anderen fest.
Der alte Wächter hätte sie niemals gehen lassen.
 

Basti50

Foren-Redakteur
Teammitglied
Teletobs schrieb:
"Der Hüter des Zedernwaldes" (Arbeitstitel) wird eine kürzere, an die sumerische Mythologie angelehnte, fantastische Erzählung, alles Work-in-Progress.
Ich freue mich über euer Feedback!
Obige Anrede an den Leser entfernt. Diese gehört, wenn überhaupt, in einen separaten Beitrag darunter.

Falls das hier wirklich als zusammenhängende Geschichte weiter verfasst werden soll, bitte noch die Regelungen für lange Texte ansehen, falls noch nicht geschehen und viel Erfolg weiterhin! Werde auch mal versuchen, ein bissl Senf dazu abzugeben, wenn ich mich mal arbeitstechnisch freischaufeln kann :)
 



 
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