GeorgZauchenbach
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»Der König ist ein Tyrann« – so sagen die Bauern auf dem Land, und auch die Kaufleute und die Händler in der Stadt halten nicht viel von ihrem Herrscher. Und es stimmt, der König hat keinen guten Charakter. Geizig ist er, und selbstsüchtig – so sagen die einen. Gierig und hochnäsig ist er, sagen die anderen. Die Frau ist ihm längst davon, keiner weiß wohin, und so lebt der König allein in seiner Burg mit einer Schar Diener, denen er einen Hungerlohn zahlt – und das, obwohl seine Schatzkammer am Platzen ist, weil er die Steuern ständig erhöht. Die Klageschreie, die Wutreden der Untertanen hört er schon lange nicht mehr, die Bauernaufstände lässt der König brutal niederschlagen.
Ganz allein lebt der König nicht in seiner Burg. Er hat einen Sohn, Prinz Valis. Der ist noch jung, neun Jahre alt. Der kleine Prinz ist der Augenstern des Königs, sein Ein und Alles. Valis wächst sehr behütet auf - um nicht zu sagen: isoliert von der Außenwelt. Weil viele Bürger des Königreichs - auf den Straßen und in den Dörfern - dem König nicht wohl gesonnen sind, hat er Angst, jemand könnte den kleinen Prinzen entführen und ihn dann erpressen, oder Schlimmeres. Womöglich eine berechtigte Sorge – so lässt er den Jungen stets gut bewachen.
Valis, der kleine Prinz, ist sehr gewitzt und er findet Gelegenheiten, aus der zwanghaften Fürsorge seines Vaters auszubrechen. Einmal gelingt es dem jungen Thronfolger, seine Bewacher beim Spielen draußen hinter sich zu lassen. Unbemerkt verschwindet er im Wald, dort streift er umher. Immer weiter hinein ins Unterholz, so weit wie er noch nie weg gewesen ist von der Burg. Valis weiß, dass er Ärger kriegen wird. Doch die Männer, die auf ihn aufpassen sollten, werden noch größeren Ärger kriegen. Das weiß er, und das nützt ihm. Wenn die Männer ihn nämlich finden und zurückbringen, wird keiner dem König was sagen vom Ausflug des jungen Prinzen, aus Angst.
Im Wald trifft Valis auf einen anderen Jungen. Zumindest von Weitem schaut er so aus; von nah ist Valis sich nicht mehr sicher, dass es ein Junge ist wie er, der da vor ihm steht. Seine Hände sind viel klobiger als Valis´ zarte Prinzen-Händchen, überhaupt ist alles bei dem fremden Jungen kräftiger ausgeprägt als bei ihm selbst. Das muss ein Bauernbub sein, denkt der Prinz. Von denen hat er gehört. Die arbeiten hart auf dem Feld den ganzen Tag, da bekommt man Muskeln. Nein, er sei kein Bauernbub, sagt der Junge. Ein Tachar ist er. Das hat der Prinz noch nie gehört. »Mein Dorf ist nicht weit von hier. Komm doch mit in den Sumpf.«
Valis kriegt eine Gänsehaut. Sein Vater hat ihm tausendmal gesagt, dass er niemals je in den Sumpf gehen darf. Das sei der gefährlichste Ort im ganzen Reich. Auch die stärksten Ritter meiden den Sumpf. Ob es dort gefährlich ist, fragt Valis den Tachar. »Nein, gar nicht. Ich wohne ja dort mit meiner Familie. Warum soll es also gefährlich sein?«
Ein bisschen mulmig ist Valis schon zumute, aber schließlich ist die Neugier größer, und er geht mit dem Jungen.
»Ich heiße Ilias.«
»Mein Name ist Valis.« Dass er der Königssohn ist, sagt er nicht.
Eine Weile marschieren die beiden Jungen durch den Wald.
»Wie weit ist es noch?«, fragt Valis.
»Wir sind gleich da.«
Der Wald ist von schmalen Wasserläufen durchzogen, die Erde ist schwarz. Sie folgen einem Pfad, auf beiden Seiten davon ist trübes Wasser.
»Bleib dicht bei mir«, sagt Ilias, »Da drin gibt´s Alligatoren.«
In einer Senke, da liegt das Dorf der Tacharen. Einfache Hütten aus Holz und Lehm. Die Bewohner sind allesamt Riesen, so kommt es Valis vor. Und ihre Gesichter sehen eigenartig aus. Gedrungen und grob, mit Nasen ähnlich einer Tierschnauze und Augen wie die von Raubkatzen, und spitzen Ohren.
»Das ist mein Papa« – Ilias zeigt auf einen Tachar mit langen Haaren. Valis staunt. Gegen den Hünen wirkt der stämmigste, muskelbepackteste Kämpfer in der königlichen Garde wie ein schmächtiger Waschlappen.
Die Tacharen betrachten den Neuankömmling neugierig. Die weiße Haut des Jungen, und die feinen Kleider. Geputzt und geschniegelt, das Haar gescheitelt und akkurat gestutzt, die Schuhe poliert. Die Tacharen tragen keine Schuhe. Sie sind in schmutzige Felle gehüllt. Ihre Haut ist dunkel von der Sonne, und von Staub und Dreck.
In dem Dorf ist ein Fest im Gange. Über einem Feuer brät ein Wildschwein. Das duftet so herrlich, dass Valis noch bleibt. Die Tacharen geben ihrem Gast zu essen und zu trinken, und Valis lässt es sich schmecken. Bis zum Abend tollt er mit Ilias herum.
Die Sonne steht tief, als Valis sich verabschiedet. »Das nächste Mal zeigst du mir dein Zuhause«, sagt Ilias. Valis nickt. Bis zum Rand des Sumpfes begleitet ihn der junge Tachar, den Rest geht Valis allein. Die Sonne versinkt hinter den Baumkronen, als der Prinz die Burg erreicht.
Der König ist außer sich vor Sorge und Zorn.
»Wo bist du gewesen, um Himmels willen?«
Prinz Valis schweigt.
»Diese hirnlose Bande, ich habe sie allesamt in den Kerker geschmissen. Ich weiß noch nicht, was ich mit ihnen mache. Im Grunde gute Soldaten. Aber nicht einmal auf ein Kind aufpassen können - das geht nicht. Nein, das geht nicht. Ich werde sie hinrichten lassen.«
»Nein! Vater. Sie können nichts dafür. Es war meine Schuld.«
»Ha! Wie kann es deine Schuld sein, wenn diese Idioten nicht fähig sind, den einfachsten Auftrag auszuführen?«
Der König schickt den Jungen ins Bett. Ohne Abendessen. Aber der Prinz hat ohnehin keinen Hunger.
Valis fühlt sich furchtbar. Wegen ihm würden diese Männer sterben. Er kann nicht schlafen. Es wird Mitternacht, der Mond scheint grell in sein Zimmer. Der kleine Prinz ist hellwach. Er geht in den feuchten Keller, zum Verlies. Versteckt sich vor dem Wärter, der da im Fackelschein steht. Vor der schweren Eisentür, hinter der die Soldaten lungern in der nassen Kälte. Eine Weile hockt Valis hinter einem Fass, da wird er von dem Wachmann entdeckt.
»Prinz Valis. Was tut Ihr hier? Geht zurück in Euer Schlafgemach.«
»Vater hat befohlen, die Soldaten frei zu lassen.«
»Und da hat er Euch geschickt, um mir das zu sagen? Mitten in der Nacht?«
Valis sagt: »Du kannst gehen. Wirklich. Wachablöse.«
»Geht ins Bett, mein Prinz.«
»Ich kann nicht schlafen, solange diese Männer eingesperrt sind.«
Der Wachmann will den Prinzen zu seinem Gemach bringen, aber dann bliebe der Kerker unbewacht. Er kann auch niemanden rufen, denn alles schläft, und die Ablöse kommt erst am Morgen.
Valis sitzt auf dem Fass, in eine Decke gehüllt, die ihm der Wachmann gegeben hat.
Als der König am Morgen das Bett des Prinzen leer findet, kriegt er den nächsten Schreck. Im Keller findet er Valis, rußig und durchgefroren, da lässt er auch den Wärter in den Kerker werfen.
»Er kann doch nichts dafür!«, sagt der Junge. Der König packt ihn am Arm, zerrt Valis hinauf in die königlichen Räume. Dort brüllt und tobt er – »Was ist in dich gefahren? Willst du, dass mir das Herz stehenbleibt? Ich werde dich einsperren, du gehst nirgendwo mehr hin. Das wäre doch gelacht!«
Im Zorn sagt der Junge: »Ich hasse dich! Und ich hasse diese Burg. Ich gehe in den Sumpf. Zu den Tacharen.«
Da stockt dem König der Atem. Er ist fassungslos. Vor Wut stammelt er, ringt nach Worten. Mit großen Augen sieht er den Sohn an. »Die Tacharen!«, schreit er. »Was weißt du von den Tacharen?«
»Ich bin bei ihnen gewesen. Gestern. Im Sumpf.«
Erst jetzt bemerkt der Vater, wie verdreckt Valis´ Kleider sind. Er schüttelt den Jungen - »Was haben diese Wilden mit dir gemacht?«
»Sie haben mir zu essen gegeben. In ihrem Dorf. Es war ganz nett dort.«
»Ganz nett? Nein. Nein!« Der König ruft die Wache, die Männer sollen Valis in sein Zimmer sperren und sich vor der Tür postieren.
So muss der kleine Prinz in seinem Gemach verharren. Die Tage vergehen quälend langsam. Den Bediensteten am Hof wird jeder Kontakt mit dem Prinzen strengstens untersagt. Die Tür zu seinem Zimmer muss verschlossen bleiben, unter allen Umständen. Das heißt: Die Wachen dürfen weder auf das Jammern und das Betteln und das Klagen, noch auf das Bitten und Reden des Prinzen reagieren. Wenn Valis sich also durch die Tür mit den Wachen zu unterhalten versucht, dann haben diese absolut stumm zu bleiben. Am einzigen Fenster im Zimmer des Prinzen wird ein eisernes Gitter angebracht. Verpflegung bekommt Valis vom Küchenknecht. Der klettert auf die große Buche im Park, von wo er einen Sack, gefüllt mit Essen, an einem langen Stock durch das Fenster befördert.
Trotz seines Arrests bekommt der kleine Prinz viel mit von der Stimmung am Königshof. Durch die verschlossene Tür und das vergitterte Fenster lauscht er – und er hört Schreie, Brüllen, Schläge, Scheppern und Gepolter, wie Porzellan an Wänden zerschellt und Möbelstücke an Schwertklingen zerbersten. Valis kennt die Launen seines Vaters nur zu gut - Wutanfälle, Zorn, rasender Wahnsinn. Draußen marschieren Soldaten auf, klirren Schwerter, blasen Trompeten zum Appell, zur Formation, zu den Waffen. Warum das alles?, fragt sich der junge Prinz. Der Tumult, der Aufruhr. Valis versteht es nicht.
Valis denkt an Ilias, an das Dorf der Tacharen im Sumpf. Der Junge grübelt, wie er aus seinem Gefängnis fliehen kann. Er bricht ein Stück Holz vom Bett ab und schlägt damit gegen die Tür. Da gibt nichts nach. Aber: Wenn er lange genug Radau macht, öffnen sie die Tür - denkt sich der Junge. Valis entdeckt einen Steinbrocken in der Mauer, der ein bisschen lose sitzt. Wenn er den herausbricht, kann er die Tür damit zertrümmern.
Nach zwei Tagen hat Valis den Stein fast aus der Mauer geschlagen. Nur noch hier und da ein paar kräftige Hiebe, und – hinter ihm, da geht die Tür auf. Ganz ohne Gewalt. Der Kämmerer kommt herein.
»Mein Prinz. Der König, Euer Vater – er ist krank. Er will Euch sehen.«
Valis folgt dem Kämmerer zum Schlafgemach seines Vaters. In dem abgedunkelten Zimmer liegt der König in seinem Bett.
»Valis. Sohn«, krächzt er. Den Kämmerer schickt er hinaus.
»Ich hoffe, es ist dir nicht allzu schlecht ergangen. Es war zu deinem Besten.«
»Natürlich.«
Sein Vater schlägt die Decke zur Seite, und Valis erschrickt. Der Fuß ist dunkelblau, mit roten Flecken, an manchen Stellen fast schwarz.
»Bitte, mein Sohn, ich brauche dich jetzt. Hass mich nicht.«
»Was ist passiert?«
»Ich bin gebissen worden. Eine Schlange, oder eine Spinne. Starkes Gift«, presst er hervor.
Die schlimmsten Flüche hat Valis seinem Vater gewünscht, als er eingesperrt in seinem Zimmer hockte. Doch wie der Junge ihn so bleich und schwach da liegen sieht, schwindet sein Zorn.
»Was geht am Hof vor?«, fragt der Prinz. »Mein kluger Sohn. Dir entgeht nichts. Die Garde. Truppen. Nach Süden, in die Sümpfe. Wir vertreiben diese Barbaren ein für allemal.«
»Die Tacharen? Aber warum, was haben sie getan?«
»Es war vor deiner Geburt - 20 Jahre vor deiner Geburt, Sohn. Da haben diese dreckigen Schlammwühler ihre schmutzigen Hütten gehabt, in einem Waldstück, das heute zur Burg gehört. Zu den königlichen Ländereien. Ich war damals selbst noch ein junger Bursche. Mein Vater, der diese Krone trug, die eines Tages du tragen wirst – er hat Ansprüche auf das Land erhoben. Zu Recht. Fruchtbares Land für unsere Bauern, und für die Siedler. Zu schade, als dass diese primitiven Geschöpfe darauf hausen. Es kam zu Auseinandersetzungen. Mein Vater hat sie - im Namen der Krone und des Wohles unserer rechtschaffenen Bürger - zurückgeschlagen.«
Valis´ Vater atmet schwer, hustet, das Reden strengt ihn an.
»Zu dieser Zeit also sind alle übereingekommen. Alle waren sich einig, dass die Tacharen in den Feuchtgebieten weiter im Süden, in den Sümpfen leben können. Wo nie ein Mensch einen Fuß hineinsetzt. Weil es dort wimmelt von giftigen Schlangen und Spinnen und noch gröberem Getier.«
Heftiger Schmerz verzerrt das Gesicht des Königs.
»Du warst also dort, in den Sümpfen«, sagt der Prinz. »Daher die Vergiftung.«
»Um die Krone zu verteidigen. Unser Königreich.«
»Verteidigen, gegen wen?«
»Muss ich dir das noch erklären? Schau sie dir an. Dumme Wilde! Können nicht bis drei zählen. Gefährliche Bestien, die die unschuldigen Untertanen bedrohen. Nicht, solange ich König bin! Ich werde dagegen vorgehen. Mit aller Härte.«
Valis seufzt – »Und die Männer, die du ins Verlies geschmissen hast..?«
»Es wäre unverantwortlich gewesen, sie einfach davonkommen zu lassen. Das musst du verstehen.«
»Das tue ich nicht.«
»Valis. Geh nicht weg. Da kommt der Leibarzt. Ein kluger Mann. Kennt alle Kräuter, und überhaupt sehr bewandert. Er hat mein Blut untersucht, weißt du. Valis. Bitte, bleib. Hör zu, was er sagt, der gescheite Doktor.«
Ins Zimmer kommt ein feister Mann mit dickem Wanst und fettigem Gesicht. »Nun«, sagt er. »Ich mache es kurz: Ihr habt nicht viel Zeit.«
»Was? Wie kannst du es wagen, verfluchter Scharlatan!«
»Das Gift breitet sich schnell aus, es befällt Euren ganzen Körper. Aber: es gibt ein Mittel, einen Wirkstoff, der es aufhalten kann.«
»Ah! Gut!«
»Dieser Wirkstoff findet sich in einer Blume, die nur am Ufer des Moab wächst. Hauptsächlich ernährt sich die Sumpfkröte von den Blättern. Es heiß, dass schon vor hundert Jahren ...«
»Schweig! Bist du dir auch sicher? Kannst du diese Pflanze beschreiben, aufzeichnen? Wie sieht sie aus?«
Der Leibarzt nickt und zeigt ein Stück Pergament vor. Darauf ist die Zeichnung einer roten Blume, mit kurzem Stängel und fleischigen Blättern. »Ich brauche die ganze Pflanze, von der Blüte bis zu den Wurzeln. Das ist wichtig, wenn ich sie aufkoche.«
»Erzähl das nicht mir«, so der König, »Sag den Männern Bescheid. Was stehst du noch hier herum? Wir haben keine Zeit! Reite hin, wo meine Truppen lagern. Sie dürfen keine Zeit verlieren. Wer dieses Kraut heranschafft, wird fürstlich belohnt.«
»Und äh, was ist mit meinem Honorar..?«
»Mach mich gesund, und wir reden darüber. Und jetzt raus!«
Der König schickt also Männer los, um die Heilpflanze zu holen. Die wackersten und stärksten Männer wagen sich in die Sümpfe. Soldaten aus der königlichen Garde, erfahren und kampferprobt. Scharenweise marschieren sie in die Wälder, nach Süden zu den Ufern des großen Flusses Moab.
Kein einziger ist zurückgekehrt. Weder mit der Blume, noch ohne sie. Umgekommen, auf die ein oder andere Weise - im Treibsand versunken, erstickt im Schlamm, von Schlangen totgebissen oder von blutrünstigen Raubtieren wie dem schwarzen Panther verschlungen. Oder von einer der baumdicken Würgeschlangen erdrückt, dass ihnen die Augen aus dem Schädel platzten. Berichten kann darüber freilich keiner. Aber man spekuliert, deutet die grausigen Funde, die menschlichen Überreste der Verunglückten.
Keiner traut sich mehr. Und der Feldzug gegen die Tacharen ist auf unbestimmte Zeit aufgeschoben. In dem Lager der Gardisten vor den Sümpfen wird Karten gespielt und gesoffen.
»Nein, nein nein!«, keucht der König. »Unfähige Bande, Schwächlinge! Mir bleibt nicht mehr viel Zeit!« Er ist nur mehr ein Schatten seiner selbst. Eingefallenes Gesicht, weiß wie Kreide, abgemagert. Der königliche Fuß ist schwarz wie Kohlen. Der Leibarzt legt schon die Säge bereit zum Amputieren. Neben dem Bett sitzt der Prinz. Er kann den Anblick des sich vor Schmerzen windenden Vaters nicht mehr ertragen. Valis denkt laut nach: »Eine lebensfeindliche Umgebung, diese Sümpfe. Niemand scheint den todbringenden Kreaturen gewachsen zu sein. Kein Mensch. Aber die Tacharen«, sagt der Junge, und der Vater schlägt die blutunterlaufenen Augen auf, »die Tacharen leben im Sumpf. Sie sind so zäh und robust, dass ihnen all das giftige und gefräßige Getier dort nichts anhaben kann. Sie könnten die Blume holen.«
Der König macht die Augen zu, presst den Mund zusammen, zittert.
»Es ist die einzige Möglichkeit. Sonst wirst du nicht nur dein Bein verlieren ...«
Der König weigert sich, die Tacharen um Hilfe zu bitten. Den Feind. Immerhin sei er gegen sie zu Felde gezogen. »Und jetzt soll ich vor ihnen kriechen? Meine Schwäche eingestehen?«
»Es gibt keine andere Chance«, sagt der Prinz.
Aber der Vater bleibt stur.
Valis wartet, bis dieser eingeschlafen ist, dann macht er sich auf den Weg. Durch den Schlosswald geht er, immer weiter hinein, bis an den Rand des Sumpfes. Er kommt an den Pfad, der durch das Wasser mit den Alligatoren führt. Ganz vorsichtig setzt Valis Schritt für Schritt, um nur ja keinen Mucks zu machen. Kein knackender Zweig, nicht das kleinste Rascheln. Fast hat er es geschafft, das Ende des Pfades ist nah, da sieht Valis vor sich ein Tier. Eine Art Hund, schwarz wie die Erde. Er kaut an einem Knochen. Dem Jungen bleibt nichts anderes übrig, er geht weiter auf den schwarzen Hund zu. Der steht auf, fängt an zu knurren, fletscht die Zähne.
Valis erstarrt. Da bewegt sich was im Wasser. Der schuppige Schwanz eines Alligators hebt sich aus der braunen Brühe. Im nächsten Moment ist der Kopf der gewaltigen Echse zu sehen, das Maul mit tausend Zähnen.
Der Junge rennt los. Rutscht aus, hastet weiter, hinter ihm ein lautes Platschen. Valis stolpert, liegt im Matsch. Eine schwarze Schlange gleitet durchs Schilf. Hände packen den Jungen, ziehen ihn aus dem Schlamm.
Ilias, der Tacharenjunge - neben sich der schwarze Hund. Ilias schmeißt ihm einen Knochen hin mit etwas Fleisch dran, und ein Stück Fleisch wirft er in den Tümpel. Eine Wasserfontäne schießt empor, der Alligator schnappt nach dem blutigen Fetzen.
»Valis! Was machst du hier?«
Valis ringt vor Schreck nach Luft - »Danke.«
Ilias krault den Hund hinter dem Ohr. »Kannst dich bei Filou bedanken. Er hat angeschlagen.«
»Mein Vater wurde gebissen. Sein Fuß ist – es geht ihm schlecht. Sehr schlecht.«
Valis zeigt seinem Freund die Zeichnung von der Sumpfblume. Im Tacharendorf wartet Ilias´ Vater. Als er Valis sieht, verdüstert sich sein Blick.
»Ilias. Was schleppst du da an? – den Feind ...«
»Valis ist mein Freund.«
»Sein Vater will uns vertreiben.«
»Was?«
»Der König. Valis ist sein Sohn, der Prinz.«
Grimmig schauen die Tacharen um Valis drein. »Ist das wahr?«, fragt Ilias.
»Ich verstehe nicht, warum mein Vater das tut.«
»Bring ihn zurück dahin, wo du ihn gefunden hast«, sagt Ilias´ Vater zu seinem Sohn.
Valis kämpft mit den Tränen - »Bitte. Ihr müsst mir helfen. Mein Vater wird sterben, wenn ich nicht für ihn diese Sumpfblume hole.«
»Erst hetzt er seine Soldaten auf uns, und dann will er unsere Hilfe?« – die Tacharen lachen. Sie schreien durcheinander, rücken näher und greifen nach Valis, der versteckt sich hinter Ilias.
»Ruhe jetzt!« – Ilias´ Vater drängt die Meute zurück. »Du hast Mut, Kleiner. Das bewundere ich. Aber wir haben keinen Grund, dem König zu helfen. Für ihn sind wir Abschaum.«
»Er bietet euch Frieden«, sagt Valis. »Und Land. Um das damals gekämpft wurde. Ihr bekommt es.«
»Das soll ich dir glauben?«
»Du hast mein Wort.«
»Ich will das Wort es Königs.«
»Ich bin der Prinz. Der zukünftige König.«
Ilias´ Vater überlegt und berät sich mit seinen Stammesgenossen. Schließlich stimmen sie dem Pakt zu. Für die Tacharen ist es kein großer Aufwand, zum Fluss zu gehen und ein Büschel Sumpfblumen zu holen. Ein Spaziergang geradezu.
Prinz Valis gibt dem Tacharenhäuptling die Hand und er nimmt die Blumen mit. Ilias begleitet ihn bis zur Schneise, die die Soldaten in den Wald geschlagen haben, um den Sumpf trocken zu legen. Im Lager achtet keiner auf den Prinzen, so betrunken sind die Soldaten.
Valis reitet zur Burg und bringt dem Leibarzt das Wundermittel. Der kocht die Blumen in einem Kessel auf, wirft noch ein paar Zutaten hinein und füllt eine Feldflasche mit dem Trank.
Der König trinkt die Flasche leer.
Und tatsächlich, innerhalb von ein paar Stunden geht die Schwellung am Fuß zurück, und schon am nächsten Tag kommt das Gefühl zurück, und er kann sogar die Zehen bewegen. Der König kommt wieder zu Kräften.
»Ha, ein Wunder! Ich werde dich mit Gold überschütten«, sagt der König zum Leibarzt. »Und Valis – mein Sohn. Du hast mich gerettet. Allein deinem Mut ist es zu verdanken, dass ich noch lebe.«
»Jetzt erfülle auch deinen Teil der Abmachung.«
»Welche Abmachung?«
»Gib den Tacharen ihr Land zurück.«
»Ihr Land? Das Land gehört der Krone.«
»Es steht ihnen zu - nachdem, was sie für dich getan haben.«
»Diesen dreckigen Wilden schulde ich gar nichts. Bringt mir mein Pferd!«
Der König reitet ins Lager der Garde vor den Sümpfen. Um sich zu vergewissern, wie weit die Truppen inzwischen vorgedrungen sind. Aber der Anblick, der sich ihm dort bietet, verursacht beim König einen Schreikrampf. Ein fürchterliches Chaos. Die Soldaten der königlichen Garde, sonst ein Musterbeispiel für Disziplin und Ordnung, sind in einem desolaten Zustand. Ein stinkender Haufen unrasierter Kerle, die betrunken grölen und sich im Dreck prügeln.
Der König lässt zum Antreten blasen. Ein Stöhnen, Ächzen, Raunen geht durch das Lager. Ein paar der Männer findet sich ein, manche sogar in Uniform, wenn auch mit Schlamm beschmiert; die meisten stehlen sich davon oder bleiben einfach liegen.
Der König bekommt einen fürchterlichen Wutanfall.
Der ist so heftig, dass der immer noch durch das Gift Geschwächte zusammenbricht. Und sein Herz bleibt stehen.
Prinz Valis wird der neue König. Ein gütiger König, der allseits geschätzt und geachtet wird. Den Tacharen gibt er Wald, Ländereien. Doch diese leben ohnehin viel lieber in ihren Sümpfen.
Ein Königreich, regiert von einem Kind - kann das funktionieren?
Wann immer Zweifel laut werden an den Fähigkeiten des jungen Königs, an seiner Autorität - dann bekommt Valis Besuch von seinen Freunden aus dem Sumpf. Zu sich an den Hof lädt er Ilias und dessen riesenhaften Vater ein, und der lässt sich begleiten von nicht weniger imposanten Kameraden.
Und die zweifelnden Stimmen im Königreich verstummen sogleich.
Ganz allein lebt der König nicht in seiner Burg. Er hat einen Sohn, Prinz Valis. Der ist noch jung, neun Jahre alt. Der kleine Prinz ist der Augenstern des Königs, sein Ein und Alles. Valis wächst sehr behütet auf - um nicht zu sagen: isoliert von der Außenwelt. Weil viele Bürger des Königreichs - auf den Straßen und in den Dörfern - dem König nicht wohl gesonnen sind, hat er Angst, jemand könnte den kleinen Prinzen entführen und ihn dann erpressen, oder Schlimmeres. Womöglich eine berechtigte Sorge – so lässt er den Jungen stets gut bewachen.
Valis, der kleine Prinz, ist sehr gewitzt und er findet Gelegenheiten, aus der zwanghaften Fürsorge seines Vaters auszubrechen. Einmal gelingt es dem jungen Thronfolger, seine Bewacher beim Spielen draußen hinter sich zu lassen. Unbemerkt verschwindet er im Wald, dort streift er umher. Immer weiter hinein ins Unterholz, so weit wie er noch nie weg gewesen ist von der Burg. Valis weiß, dass er Ärger kriegen wird. Doch die Männer, die auf ihn aufpassen sollten, werden noch größeren Ärger kriegen. Das weiß er, und das nützt ihm. Wenn die Männer ihn nämlich finden und zurückbringen, wird keiner dem König was sagen vom Ausflug des jungen Prinzen, aus Angst.
Im Wald trifft Valis auf einen anderen Jungen. Zumindest von Weitem schaut er so aus; von nah ist Valis sich nicht mehr sicher, dass es ein Junge ist wie er, der da vor ihm steht. Seine Hände sind viel klobiger als Valis´ zarte Prinzen-Händchen, überhaupt ist alles bei dem fremden Jungen kräftiger ausgeprägt als bei ihm selbst. Das muss ein Bauernbub sein, denkt der Prinz. Von denen hat er gehört. Die arbeiten hart auf dem Feld den ganzen Tag, da bekommt man Muskeln. Nein, er sei kein Bauernbub, sagt der Junge. Ein Tachar ist er. Das hat der Prinz noch nie gehört. »Mein Dorf ist nicht weit von hier. Komm doch mit in den Sumpf.«
Valis kriegt eine Gänsehaut. Sein Vater hat ihm tausendmal gesagt, dass er niemals je in den Sumpf gehen darf. Das sei der gefährlichste Ort im ganzen Reich. Auch die stärksten Ritter meiden den Sumpf. Ob es dort gefährlich ist, fragt Valis den Tachar. »Nein, gar nicht. Ich wohne ja dort mit meiner Familie. Warum soll es also gefährlich sein?«
Ein bisschen mulmig ist Valis schon zumute, aber schließlich ist die Neugier größer, und er geht mit dem Jungen.
»Ich heiße Ilias.«
»Mein Name ist Valis.« Dass er der Königssohn ist, sagt er nicht.
Eine Weile marschieren die beiden Jungen durch den Wald.
»Wie weit ist es noch?«, fragt Valis.
»Wir sind gleich da.«
Der Wald ist von schmalen Wasserläufen durchzogen, die Erde ist schwarz. Sie folgen einem Pfad, auf beiden Seiten davon ist trübes Wasser.
»Bleib dicht bei mir«, sagt Ilias, »Da drin gibt´s Alligatoren.«
In einer Senke, da liegt das Dorf der Tacharen. Einfache Hütten aus Holz und Lehm. Die Bewohner sind allesamt Riesen, so kommt es Valis vor. Und ihre Gesichter sehen eigenartig aus. Gedrungen und grob, mit Nasen ähnlich einer Tierschnauze und Augen wie die von Raubkatzen, und spitzen Ohren.
»Das ist mein Papa« – Ilias zeigt auf einen Tachar mit langen Haaren. Valis staunt. Gegen den Hünen wirkt der stämmigste, muskelbepackteste Kämpfer in der königlichen Garde wie ein schmächtiger Waschlappen.
Die Tacharen betrachten den Neuankömmling neugierig. Die weiße Haut des Jungen, und die feinen Kleider. Geputzt und geschniegelt, das Haar gescheitelt und akkurat gestutzt, die Schuhe poliert. Die Tacharen tragen keine Schuhe. Sie sind in schmutzige Felle gehüllt. Ihre Haut ist dunkel von der Sonne, und von Staub und Dreck.
In dem Dorf ist ein Fest im Gange. Über einem Feuer brät ein Wildschwein. Das duftet so herrlich, dass Valis noch bleibt. Die Tacharen geben ihrem Gast zu essen und zu trinken, und Valis lässt es sich schmecken. Bis zum Abend tollt er mit Ilias herum.
Die Sonne steht tief, als Valis sich verabschiedet. »Das nächste Mal zeigst du mir dein Zuhause«, sagt Ilias. Valis nickt. Bis zum Rand des Sumpfes begleitet ihn der junge Tachar, den Rest geht Valis allein. Die Sonne versinkt hinter den Baumkronen, als der Prinz die Burg erreicht.
Der König ist außer sich vor Sorge und Zorn.
»Wo bist du gewesen, um Himmels willen?«
Prinz Valis schweigt.
»Diese hirnlose Bande, ich habe sie allesamt in den Kerker geschmissen. Ich weiß noch nicht, was ich mit ihnen mache. Im Grunde gute Soldaten. Aber nicht einmal auf ein Kind aufpassen können - das geht nicht. Nein, das geht nicht. Ich werde sie hinrichten lassen.«
»Nein! Vater. Sie können nichts dafür. Es war meine Schuld.«
»Ha! Wie kann es deine Schuld sein, wenn diese Idioten nicht fähig sind, den einfachsten Auftrag auszuführen?«
Der König schickt den Jungen ins Bett. Ohne Abendessen. Aber der Prinz hat ohnehin keinen Hunger.
Valis fühlt sich furchtbar. Wegen ihm würden diese Männer sterben. Er kann nicht schlafen. Es wird Mitternacht, der Mond scheint grell in sein Zimmer. Der kleine Prinz ist hellwach. Er geht in den feuchten Keller, zum Verlies. Versteckt sich vor dem Wärter, der da im Fackelschein steht. Vor der schweren Eisentür, hinter der die Soldaten lungern in der nassen Kälte. Eine Weile hockt Valis hinter einem Fass, da wird er von dem Wachmann entdeckt.
»Prinz Valis. Was tut Ihr hier? Geht zurück in Euer Schlafgemach.«
»Vater hat befohlen, die Soldaten frei zu lassen.«
»Und da hat er Euch geschickt, um mir das zu sagen? Mitten in der Nacht?«
Valis sagt: »Du kannst gehen. Wirklich. Wachablöse.«
»Geht ins Bett, mein Prinz.«
»Ich kann nicht schlafen, solange diese Männer eingesperrt sind.«
Der Wachmann will den Prinzen zu seinem Gemach bringen, aber dann bliebe der Kerker unbewacht. Er kann auch niemanden rufen, denn alles schläft, und die Ablöse kommt erst am Morgen.
Valis sitzt auf dem Fass, in eine Decke gehüllt, die ihm der Wachmann gegeben hat.
Als der König am Morgen das Bett des Prinzen leer findet, kriegt er den nächsten Schreck. Im Keller findet er Valis, rußig und durchgefroren, da lässt er auch den Wärter in den Kerker werfen.
»Er kann doch nichts dafür!«, sagt der Junge. Der König packt ihn am Arm, zerrt Valis hinauf in die königlichen Räume. Dort brüllt und tobt er – »Was ist in dich gefahren? Willst du, dass mir das Herz stehenbleibt? Ich werde dich einsperren, du gehst nirgendwo mehr hin. Das wäre doch gelacht!«
Im Zorn sagt der Junge: »Ich hasse dich! Und ich hasse diese Burg. Ich gehe in den Sumpf. Zu den Tacharen.«
Da stockt dem König der Atem. Er ist fassungslos. Vor Wut stammelt er, ringt nach Worten. Mit großen Augen sieht er den Sohn an. »Die Tacharen!«, schreit er. »Was weißt du von den Tacharen?«
»Ich bin bei ihnen gewesen. Gestern. Im Sumpf.«
Erst jetzt bemerkt der Vater, wie verdreckt Valis´ Kleider sind. Er schüttelt den Jungen - »Was haben diese Wilden mit dir gemacht?«
»Sie haben mir zu essen gegeben. In ihrem Dorf. Es war ganz nett dort.«
»Ganz nett? Nein. Nein!« Der König ruft die Wache, die Männer sollen Valis in sein Zimmer sperren und sich vor der Tür postieren.
So muss der kleine Prinz in seinem Gemach verharren. Die Tage vergehen quälend langsam. Den Bediensteten am Hof wird jeder Kontakt mit dem Prinzen strengstens untersagt. Die Tür zu seinem Zimmer muss verschlossen bleiben, unter allen Umständen. Das heißt: Die Wachen dürfen weder auf das Jammern und das Betteln und das Klagen, noch auf das Bitten und Reden des Prinzen reagieren. Wenn Valis sich also durch die Tür mit den Wachen zu unterhalten versucht, dann haben diese absolut stumm zu bleiben. Am einzigen Fenster im Zimmer des Prinzen wird ein eisernes Gitter angebracht. Verpflegung bekommt Valis vom Küchenknecht. Der klettert auf die große Buche im Park, von wo er einen Sack, gefüllt mit Essen, an einem langen Stock durch das Fenster befördert.
Trotz seines Arrests bekommt der kleine Prinz viel mit von der Stimmung am Königshof. Durch die verschlossene Tür und das vergitterte Fenster lauscht er – und er hört Schreie, Brüllen, Schläge, Scheppern und Gepolter, wie Porzellan an Wänden zerschellt und Möbelstücke an Schwertklingen zerbersten. Valis kennt die Launen seines Vaters nur zu gut - Wutanfälle, Zorn, rasender Wahnsinn. Draußen marschieren Soldaten auf, klirren Schwerter, blasen Trompeten zum Appell, zur Formation, zu den Waffen. Warum das alles?, fragt sich der junge Prinz. Der Tumult, der Aufruhr. Valis versteht es nicht.
Valis denkt an Ilias, an das Dorf der Tacharen im Sumpf. Der Junge grübelt, wie er aus seinem Gefängnis fliehen kann. Er bricht ein Stück Holz vom Bett ab und schlägt damit gegen die Tür. Da gibt nichts nach. Aber: Wenn er lange genug Radau macht, öffnen sie die Tür - denkt sich der Junge. Valis entdeckt einen Steinbrocken in der Mauer, der ein bisschen lose sitzt. Wenn er den herausbricht, kann er die Tür damit zertrümmern.
Nach zwei Tagen hat Valis den Stein fast aus der Mauer geschlagen. Nur noch hier und da ein paar kräftige Hiebe, und – hinter ihm, da geht die Tür auf. Ganz ohne Gewalt. Der Kämmerer kommt herein.
»Mein Prinz. Der König, Euer Vater – er ist krank. Er will Euch sehen.«
Valis folgt dem Kämmerer zum Schlafgemach seines Vaters. In dem abgedunkelten Zimmer liegt der König in seinem Bett.
»Valis. Sohn«, krächzt er. Den Kämmerer schickt er hinaus.
»Ich hoffe, es ist dir nicht allzu schlecht ergangen. Es war zu deinem Besten.«
»Natürlich.«
Sein Vater schlägt die Decke zur Seite, und Valis erschrickt. Der Fuß ist dunkelblau, mit roten Flecken, an manchen Stellen fast schwarz.
»Bitte, mein Sohn, ich brauche dich jetzt. Hass mich nicht.«
»Was ist passiert?«
»Ich bin gebissen worden. Eine Schlange, oder eine Spinne. Starkes Gift«, presst er hervor.
Die schlimmsten Flüche hat Valis seinem Vater gewünscht, als er eingesperrt in seinem Zimmer hockte. Doch wie der Junge ihn so bleich und schwach da liegen sieht, schwindet sein Zorn.
»Was geht am Hof vor?«, fragt der Prinz. »Mein kluger Sohn. Dir entgeht nichts. Die Garde. Truppen. Nach Süden, in die Sümpfe. Wir vertreiben diese Barbaren ein für allemal.«
»Die Tacharen? Aber warum, was haben sie getan?«
»Es war vor deiner Geburt - 20 Jahre vor deiner Geburt, Sohn. Da haben diese dreckigen Schlammwühler ihre schmutzigen Hütten gehabt, in einem Waldstück, das heute zur Burg gehört. Zu den königlichen Ländereien. Ich war damals selbst noch ein junger Bursche. Mein Vater, der diese Krone trug, die eines Tages du tragen wirst – er hat Ansprüche auf das Land erhoben. Zu Recht. Fruchtbares Land für unsere Bauern, und für die Siedler. Zu schade, als dass diese primitiven Geschöpfe darauf hausen. Es kam zu Auseinandersetzungen. Mein Vater hat sie - im Namen der Krone und des Wohles unserer rechtschaffenen Bürger - zurückgeschlagen.«
Valis´ Vater atmet schwer, hustet, das Reden strengt ihn an.
»Zu dieser Zeit also sind alle übereingekommen. Alle waren sich einig, dass die Tacharen in den Feuchtgebieten weiter im Süden, in den Sümpfen leben können. Wo nie ein Mensch einen Fuß hineinsetzt. Weil es dort wimmelt von giftigen Schlangen und Spinnen und noch gröberem Getier.«
Heftiger Schmerz verzerrt das Gesicht des Königs.
»Du warst also dort, in den Sümpfen«, sagt der Prinz. »Daher die Vergiftung.«
»Um die Krone zu verteidigen. Unser Königreich.«
»Verteidigen, gegen wen?«
»Muss ich dir das noch erklären? Schau sie dir an. Dumme Wilde! Können nicht bis drei zählen. Gefährliche Bestien, die die unschuldigen Untertanen bedrohen. Nicht, solange ich König bin! Ich werde dagegen vorgehen. Mit aller Härte.«
Valis seufzt – »Und die Männer, die du ins Verlies geschmissen hast..?«
»Es wäre unverantwortlich gewesen, sie einfach davonkommen zu lassen. Das musst du verstehen.«
»Das tue ich nicht.«
»Valis. Geh nicht weg. Da kommt der Leibarzt. Ein kluger Mann. Kennt alle Kräuter, und überhaupt sehr bewandert. Er hat mein Blut untersucht, weißt du. Valis. Bitte, bleib. Hör zu, was er sagt, der gescheite Doktor.«
Ins Zimmer kommt ein feister Mann mit dickem Wanst und fettigem Gesicht. »Nun«, sagt er. »Ich mache es kurz: Ihr habt nicht viel Zeit.«
»Was? Wie kannst du es wagen, verfluchter Scharlatan!«
»Das Gift breitet sich schnell aus, es befällt Euren ganzen Körper. Aber: es gibt ein Mittel, einen Wirkstoff, der es aufhalten kann.«
»Ah! Gut!«
»Dieser Wirkstoff findet sich in einer Blume, die nur am Ufer des Moab wächst. Hauptsächlich ernährt sich die Sumpfkröte von den Blättern. Es heiß, dass schon vor hundert Jahren ...«
»Schweig! Bist du dir auch sicher? Kannst du diese Pflanze beschreiben, aufzeichnen? Wie sieht sie aus?«
Der Leibarzt nickt und zeigt ein Stück Pergament vor. Darauf ist die Zeichnung einer roten Blume, mit kurzem Stängel und fleischigen Blättern. »Ich brauche die ganze Pflanze, von der Blüte bis zu den Wurzeln. Das ist wichtig, wenn ich sie aufkoche.«
»Erzähl das nicht mir«, so der König, »Sag den Männern Bescheid. Was stehst du noch hier herum? Wir haben keine Zeit! Reite hin, wo meine Truppen lagern. Sie dürfen keine Zeit verlieren. Wer dieses Kraut heranschafft, wird fürstlich belohnt.«
»Und äh, was ist mit meinem Honorar..?«
»Mach mich gesund, und wir reden darüber. Und jetzt raus!«
Der König schickt also Männer los, um die Heilpflanze zu holen. Die wackersten und stärksten Männer wagen sich in die Sümpfe. Soldaten aus der königlichen Garde, erfahren und kampferprobt. Scharenweise marschieren sie in die Wälder, nach Süden zu den Ufern des großen Flusses Moab.
Kein einziger ist zurückgekehrt. Weder mit der Blume, noch ohne sie. Umgekommen, auf die ein oder andere Weise - im Treibsand versunken, erstickt im Schlamm, von Schlangen totgebissen oder von blutrünstigen Raubtieren wie dem schwarzen Panther verschlungen. Oder von einer der baumdicken Würgeschlangen erdrückt, dass ihnen die Augen aus dem Schädel platzten. Berichten kann darüber freilich keiner. Aber man spekuliert, deutet die grausigen Funde, die menschlichen Überreste der Verunglückten.
Keiner traut sich mehr. Und der Feldzug gegen die Tacharen ist auf unbestimmte Zeit aufgeschoben. In dem Lager der Gardisten vor den Sümpfen wird Karten gespielt und gesoffen.
»Nein, nein nein!«, keucht der König. »Unfähige Bande, Schwächlinge! Mir bleibt nicht mehr viel Zeit!« Er ist nur mehr ein Schatten seiner selbst. Eingefallenes Gesicht, weiß wie Kreide, abgemagert. Der königliche Fuß ist schwarz wie Kohlen. Der Leibarzt legt schon die Säge bereit zum Amputieren. Neben dem Bett sitzt der Prinz. Er kann den Anblick des sich vor Schmerzen windenden Vaters nicht mehr ertragen. Valis denkt laut nach: »Eine lebensfeindliche Umgebung, diese Sümpfe. Niemand scheint den todbringenden Kreaturen gewachsen zu sein. Kein Mensch. Aber die Tacharen«, sagt der Junge, und der Vater schlägt die blutunterlaufenen Augen auf, »die Tacharen leben im Sumpf. Sie sind so zäh und robust, dass ihnen all das giftige und gefräßige Getier dort nichts anhaben kann. Sie könnten die Blume holen.«
Der König macht die Augen zu, presst den Mund zusammen, zittert.
»Es ist die einzige Möglichkeit. Sonst wirst du nicht nur dein Bein verlieren ...«
Der König weigert sich, die Tacharen um Hilfe zu bitten. Den Feind. Immerhin sei er gegen sie zu Felde gezogen. »Und jetzt soll ich vor ihnen kriechen? Meine Schwäche eingestehen?«
»Es gibt keine andere Chance«, sagt der Prinz.
Aber der Vater bleibt stur.
Valis wartet, bis dieser eingeschlafen ist, dann macht er sich auf den Weg. Durch den Schlosswald geht er, immer weiter hinein, bis an den Rand des Sumpfes. Er kommt an den Pfad, der durch das Wasser mit den Alligatoren führt. Ganz vorsichtig setzt Valis Schritt für Schritt, um nur ja keinen Mucks zu machen. Kein knackender Zweig, nicht das kleinste Rascheln. Fast hat er es geschafft, das Ende des Pfades ist nah, da sieht Valis vor sich ein Tier. Eine Art Hund, schwarz wie die Erde. Er kaut an einem Knochen. Dem Jungen bleibt nichts anderes übrig, er geht weiter auf den schwarzen Hund zu. Der steht auf, fängt an zu knurren, fletscht die Zähne.
Valis erstarrt. Da bewegt sich was im Wasser. Der schuppige Schwanz eines Alligators hebt sich aus der braunen Brühe. Im nächsten Moment ist der Kopf der gewaltigen Echse zu sehen, das Maul mit tausend Zähnen.
Der Junge rennt los. Rutscht aus, hastet weiter, hinter ihm ein lautes Platschen. Valis stolpert, liegt im Matsch. Eine schwarze Schlange gleitet durchs Schilf. Hände packen den Jungen, ziehen ihn aus dem Schlamm.
Ilias, der Tacharenjunge - neben sich der schwarze Hund. Ilias schmeißt ihm einen Knochen hin mit etwas Fleisch dran, und ein Stück Fleisch wirft er in den Tümpel. Eine Wasserfontäne schießt empor, der Alligator schnappt nach dem blutigen Fetzen.
»Valis! Was machst du hier?«
Valis ringt vor Schreck nach Luft - »Danke.«
Ilias krault den Hund hinter dem Ohr. »Kannst dich bei Filou bedanken. Er hat angeschlagen.«
»Mein Vater wurde gebissen. Sein Fuß ist – es geht ihm schlecht. Sehr schlecht.«
Valis zeigt seinem Freund die Zeichnung von der Sumpfblume. Im Tacharendorf wartet Ilias´ Vater. Als er Valis sieht, verdüstert sich sein Blick.
»Ilias. Was schleppst du da an? – den Feind ...«
»Valis ist mein Freund.«
»Sein Vater will uns vertreiben.«
»Was?«
»Der König. Valis ist sein Sohn, der Prinz.«
Grimmig schauen die Tacharen um Valis drein. »Ist das wahr?«, fragt Ilias.
»Ich verstehe nicht, warum mein Vater das tut.«
»Bring ihn zurück dahin, wo du ihn gefunden hast«, sagt Ilias´ Vater zu seinem Sohn.
Valis kämpft mit den Tränen - »Bitte. Ihr müsst mir helfen. Mein Vater wird sterben, wenn ich nicht für ihn diese Sumpfblume hole.«
»Erst hetzt er seine Soldaten auf uns, und dann will er unsere Hilfe?« – die Tacharen lachen. Sie schreien durcheinander, rücken näher und greifen nach Valis, der versteckt sich hinter Ilias.
»Ruhe jetzt!« – Ilias´ Vater drängt die Meute zurück. »Du hast Mut, Kleiner. Das bewundere ich. Aber wir haben keinen Grund, dem König zu helfen. Für ihn sind wir Abschaum.«
»Er bietet euch Frieden«, sagt Valis. »Und Land. Um das damals gekämpft wurde. Ihr bekommt es.«
»Das soll ich dir glauben?«
»Du hast mein Wort.«
»Ich will das Wort es Königs.«
»Ich bin der Prinz. Der zukünftige König.«
Ilias´ Vater überlegt und berät sich mit seinen Stammesgenossen. Schließlich stimmen sie dem Pakt zu. Für die Tacharen ist es kein großer Aufwand, zum Fluss zu gehen und ein Büschel Sumpfblumen zu holen. Ein Spaziergang geradezu.
Prinz Valis gibt dem Tacharenhäuptling die Hand und er nimmt die Blumen mit. Ilias begleitet ihn bis zur Schneise, die die Soldaten in den Wald geschlagen haben, um den Sumpf trocken zu legen. Im Lager achtet keiner auf den Prinzen, so betrunken sind die Soldaten.
Valis reitet zur Burg und bringt dem Leibarzt das Wundermittel. Der kocht die Blumen in einem Kessel auf, wirft noch ein paar Zutaten hinein und füllt eine Feldflasche mit dem Trank.
Der König trinkt die Flasche leer.
Und tatsächlich, innerhalb von ein paar Stunden geht die Schwellung am Fuß zurück, und schon am nächsten Tag kommt das Gefühl zurück, und er kann sogar die Zehen bewegen. Der König kommt wieder zu Kräften.
»Ha, ein Wunder! Ich werde dich mit Gold überschütten«, sagt der König zum Leibarzt. »Und Valis – mein Sohn. Du hast mich gerettet. Allein deinem Mut ist es zu verdanken, dass ich noch lebe.«
»Jetzt erfülle auch deinen Teil der Abmachung.«
»Welche Abmachung?«
»Gib den Tacharen ihr Land zurück.«
»Ihr Land? Das Land gehört der Krone.«
»Es steht ihnen zu - nachdem, was sie für dich getan haben.«
»Diesen dreckigen Wilden schulde ich gar nichts. Bringt mir mein Pferd!«
Der König reitet ins Lager der Garde vor den Sümpfen. Um sich zu vergewissern, wie weit die Truppen inzwischen vorgedrungen sind. Aber der Anblick, der sich ihm dort bietet, verursacht beim König einen Schreikrampf. Ein fürchterliches Chaos. Die Soldaten der königlichen Garde, sonst ein Musterbeispiel für Disziplin und Ordnung, sind in einem desolaten Zustand. Ein stinkender Haufen unrasierter Kerle, die betrunken grölen und sich im Dreck prügeln.
Der König lässt zum Antreten blasen. Ein Stöhnen, Ächzen, Raunen geht durch das Lager. Ein paar der Männer findet sich ein, manche sogar in Uniform, wenn auch mit Schlamm beschmiert; die meisten stehlen sich davon oder bleiben einfach liegen.
Der König bekommt einen fürchterlichen Wutanfall.
Der ist so heftig, dass der immer noch durch das Gift Geschwächte zusammenbricht. Und sein Herz bleibt stehen.
Prinz Valis wird der neue König. Ein gütiger König, der allseits geschätzt und geachtet wird. Den Tacharen gibt er Wald, Ländereien. Doch diese leben ohnehin viel lieber in ihren Sümpfen.
Ein Königreich, regiert von einem Kind - kann das funktionieren?
Wann immer Zweifel laut werden an den Fähigkeiten des jungen Königs, an seiner Autorität - dann bekommt Valis Besuch von seinen Freunden aus dem Sumpf. Zu sich an den Hof lädt er Ilias und dessen riesenhaften Vater ein, und der lässt sich begleiten von nicht weniger imposanten Kameraden.
Und die zweifelnden Stimmen im Königreich verstummen sogleich.