Der Koffer

5,00 Stern(e) 3 Bewertungen
Die Finalisten hatten sich für den Vierzehnten angekündigt.
Mit strengem Blick hat uns Mama schon vor Tagen ermahnt, das Kinderzimmer aufzuräumen. Nur notdürftig sind wir dem Befehl nachgekommen. Die Finalisten werden sich schon nicht an herumliegenden Stofftieren und T-Shirts stören, die müssen sich weitaus Schlimmeres anschauen, denk ich mir. Es geht in Ordnung, wenn die Wohnung bewohnt wirkt.
Gegen Mittag werden die Eltern nervös. „Pack ein, was du für den Nachmittag brauchst. Bis zwölf Uhr müssen wir draußen sein!“, wiederholt Mama jetzt schon zum dritten Mal. Ich verdrehe die Augen. Meine kleine Schwester lacht mich aus. Sie hat ihren Micky-Maus-Rucksack längst gepackt, sie ist ein gutes Kind.
Die Finalisten sind pünktlich und kommen zu zweit. Sie tragen die dunkle Uniform. Den Delinquenten müssen sie bis ins dritte Stockwerk schleppen; dorthin, wo wir wohnen. Immer wollen sie ganz nach oben, in die oberen Stockwerke, wegen der Präsentation. Wir wissen, dass der Verbrecher diesmal ein Kerl ist. Was er verbrochen hat, will man uns nicht sagen.
„Glaub mir, Kleine, es ist schrecklich. Das willst du gar nicht wissen“, sagt mir einer der Finalisten, ein gestauchter, dicker Mann. Er schnauft schwer, weil das Heraufschleppen des Verbrechers so anstrengend war. Er antwortet knapp und so, als fände er meine Nachfrage unangebracht. Der Rest meiner Familie weiß, was sich gehört, deshalb legt mir Mama die Hand auf die Schulter und weist mich mit fester Stimme an, den Herren ein Glas Wasser zu bringen. „Oder möchten Sie etwas anderes? Kaffee vielleicht?“, spielt sie dienstbeflissen die Gastgeberin.
„Nein, nein!“, wehren die Herren das Angebot ab. „Zeigen Sie uns nur die Räumlichkeiten, wir sind versorgt.“
„Tut mir leid, wir haben keinen Lift im Haus“, sagt Papa zu den immer noch schnaufenden Männern. Er sagt das so, als müsste er sich persönlich für diesen Umstand entschuldigen. Papa führt die Finalisten durch die Wohnung, damit sie sich ein Zimmer aussuchen können.
In der Zwischenzeit stehen wir im Flur allein mit dem Delinquenten. Wir können ihn nicht sehen, er uns auch nicht, vermutlich. Der Verbrecher ist in einen rechteckigen, metallischen Behälter gequetscht, kaum größer als ein Koffer. Metallverschlüsse, mehrere. Ein Sarg, nur weniger länglich, sodass man sich nicht ausstrecken kann. Ich frage mich, in welch gekrümmter Lage der Mensch da drin hocken muss – und wie lange. Man sieht kein Guckloch, aber Luft wird er schon kriegen.
„Glaubst du, er kann uns hören?“, frage ich Mama und deute auf den Metallkoffer.
Mama macht: „Pschschscht!“
Meine Schwester macht gar nichts. Bei Fremden tut sie immer so schüchtern.
Die Finalisten und Papa haben den Rundgang beendet. Die Herren haben sich Notizen gemacht. Sie wägen ab.
„Das da!“, sagt schließlich der eine und deutet auf das Kinderzimmer. Na toll.

Wir gehen. Zur Tür hinaus. Die Treppen hinab. Wir verlassen das Haus.
Direkt zuschauen darf man nicht. Am Abend darf man wiederkommen, für die Präsentation. „Machen Sie sich einen schönen Familientag“, hat man uns bereits im Vorfeld geraten.
Wir gehen was essen. Wir reden nicht viel. Ganz sicher denken wir an das Gleiche, aber wir sagen nichts. Die Kellnerin bringt noch eine Runde Getränke, Espresso für die Eltern.
Ich stelle mir vor, wie sie daheim den Koffer aufmachen und wie sie den Delinquenten rauslassen in unserem Kinderzimmer. Ich fürchte, sie werden ihn rauslassen. Er wird unsere Spielsachen sehen und meine Poster an der Wand. Die glitzernden Schmetterling-Sticker meiner Schwester, die sie an die Möbel geklebt hat. Er wird wissen, wo er ist: In einem Kinderzimmer. Das wird die Sache noch grausamer machen. Das Ärgste vom Argen in einer komplett arglosen Umgebung. Die Finalisten sind gut. Sie wissen, was sie tun.
„Ist jetzt die Welt wieder ein Stückchen besser?“, fragt meine Schwester, die noch sehr klein ist. Sie glaubt, was man ihr sagt.
„Ja, jetzt wird der böse Mann bestraft“, sagt Mama.
Ich meine, vielleicht lassen sie ihn sogar aufs Klo, auf unsere Kloschüssel drauf. Dann wird sein letztes Mal Pinkeln ausgerechnet in dieses alte Porzellan sein, mit den ekligen braunen Ablagerungen dort, wo Mama nicht richtig putzt. Aber vielleicht lassen sie ihn auch gar nicht aufs Klo und er muss sich einnässen in seinem Koffer. Auch schon egal. Meine Familie schweigt. Schwesterchen nagt an ihrem Strohhalm und bläst Blubberblasen in die Limo.
Es erstaunt mich, dass Mama es vorhin gewagt hat, Einwände zu äußern gegen die Finalisten. Sowas sollte man eigentlich nicht tun, aber sie hat es getan.
„Aber wird man es nicht riechen hinterher?“, hat sie zögerlich eingeworfen, als die Finalisten sich fürs Kinderzimmer entschieden hatten. „Entschuldigen Sie die Frage“, hat sie sich auch im gleichen Atemzug entschuldigt, „aber hier schlafen meine beiden Kinder, und nach einer Rauchentwicklung…“
Oh je, Mama, das war jetzt schon zwei Mal „ABER“ in deiner Rede, wir haben es alle gehört. Nicht gut, gar nicht gut, das hören die Finalisten nicht gern. „Machen Sie sich keine Sorgen“, hat dich der Dicke auch gar nicht erst ausreden lassen. „Es wird keine Rauchentwicklung geben. Sehen Sie, es spielt sich hauptsächlich alles da drinnen ab, in den vielen Kammern im Inneren.“ – Dabei hat er auf den Metallkoffer gedeutet – „Es kann nichts entweichen! Wir arbeiten mit der modernsten Technik. Haben Sie Vertrauen zu uns.“
Mama hat genickt und wir sind dann gegangen.

Für die Präsentation am Abend sind wir ausdrücklich eingeladen. Wir haben vergessen, nach der genauen Uhrzeit zu fragen. Wir hatten schon zu viel gefragt.
Jetzt müssen wir die Zeit rumkriegen und in der Nähe bleiben. Wir sitzen im Park gleich gegenüber von unserem Haus. Dort oben hinter diesem Fenster passiert die Finalisierung, jetzt, nur wenige Meter entfernt. Wir hören nichts, wir sehen nichts. Wir warten. Wir werden merken, wenn es soweit ist. Wir haben Glück, dass warmes Wetter ist und dass es nicht regnet. Die Straße vor unserem Haus ist mit Flatterband abgesperrt, der Gehsteig auch. Die Polizei passt auf.
„Um sieben wird es finster. Sie werden es bestimmt vorher machen, sonst sieht man ja nichts.“: So spekuliert Papa.
Gegen fünf gesellen sich ein paar Nachbarn und etliche Schaulustige zu uns. Kann sein, die wissen mehr als wir. Sie sagen: „Keine Ahnung, wann es losgeht“, aber das kann auch gelogen sein. Man weiß nicht, was sie alles machen mit dem Delinquenten, ehe sie ihn endgültig finalisieren. Das weiß niemand so richtig, es gibt verschiedentliche Möglichkeiten. Papa hat sein Fernglas mitgebracht und wir dürfen abwechselnd durchschauen. Ich heuchle Interesse, weil das wahrscheinlich besser ist. Man beobachtet uns, wir sind heute Teil der Präsentation.
Um 17:52 Uhr geht es los. Man kennt das ja. Es öffnet sich das Fenster von unserem straßenseitigen Kinderzimmer. Die Finalisten zeigen sich, winken. Dann hieven sie den Metallkoffer in den Fensterrahmen. Alle schauen gebannt zu, ich auch, obwohl sich in mir drin irgendwas sträubt. Deshalb wollen die Finalisten so gern in die oberen Stockwerke: Die Präsentation wirkt hier einfach am besten. Sie sind Profis. Sie machen es spannend. Sie öffnen den Koffer nicht gleich. Die Menge starrt zu unserem Kinderzimmerfenster hin. Weißer Fensterrahmen. Plastik. Ganz Gewöhnlich, eigentlich. Und doch. Alle haben Herzklopfen, das weiß ich. Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt. Dann, nach einer langen Weile, lassen die Finalisten die Kofferverschlüsse aufschnellen, einen nach dem anderen. Diesmal öffnen sie den Koffer nicht Kammer für Kammer, sie zeigen uns gleich alles auf einmal. Die Vorderseite klappt nach unten und der Kofferinhalt präsentiert sich uns wie ein Gemälde, ein Portrait. Abstrakt. Bizarr. Hauptsächlich sieht man die Farbe Schwarz. Schwarze Asche. Das überrascht mich immer wieder. Früher dachte ich, wenn man Menschen verbrennt, bliebe am Ende eine Asche übrig, welche grau ist. Diese Asche aber ist schwarz, pechschwarz. Muss an dem modernen Verfahren liegen, mit dem man lebendige Organismen zu einer Asche pulverisieren kann, die ausschaut wie feuchte, fruchtbare Erde. Nur der Kopf ist noch da. Ich habe mich auch schon gefragt, wie sie es schaffen, in diesem Köfferchen eine Person vollständig zu verbrennen, zu verätzen, aufzulösen, nur den Schädel nicht. Jetzt sehe ich das Gesicht des Delinquenten. Es ist verzerrt vom Schreien und von den Schmerzen, das sieht man sogar auf die Entfernung. Es macht mir Angst. Wo der Hals anfängt, ist die Haut angekokelt und hängt in Fetzen. Wie geschmolzenes Plastik. Der Mund ist grotesk weit geöffnet und zeigt ein paar schiefe Zähne, die sie ihm drin gelassen haben. Ich sehe Schnitte, tief. Wunden. Blut. Ich meine, es fehlt ein Auge. Ich werde dieses Gesicht nie mehr vergessen, das wird mir augenblicklich klar. Es ist anders heute, hier.
Neben mir steht der Nachbar vom Nebenhaus, der weiß ein paar Sachen. Er hat Medizin studiert, aber nicht fertig. Das Studium hat er abgebrochen. Ein Abbrecher also. Den Staat hat das immense Summen gekostet, so ein Studium kostet bekanntlich einen Haufen Geld, und so immens viel Moneten für nichts, das kann man einfach nicht bringen. Der Mann hätte gute Chancen gehabt, enorm nützlich zu werden für diese Welt, aber er hat seine Chancen aus purem Undank verspielt. Der Nachbar aus dem Nebenhaus hätte beinah selbst Probleme mit den Finalisten bekommen, hätte er nicht sogleich versprochen, seine schändlichen Schulden zurückzuzahlen und fortan für den Staat zu arbeiten. Das tut er bis heute. Deshalb weiß er ein paar Sachen. Ich frage ihn, warum man den Kopf beim Finalisieren übriglässt.
„Weil das maximal weh tut. Wenn das Gehirn bis zum Schluss übrig ist und Reize verarbeitet, leidet der Delinquent quasi bis zur letzten Sekunde“, erklärt mir der alte Mann. „Außerdem ist es besser für die Präsentation!“
Ich nicke. Ich verstehe. Der Nachbar wirkt irgendwie traurig, finde ich. Ich sehe, wie er seine breite Stirn runzelt, während er nach oben schaut. Eigentlich ist er ein aufrechter, kantiger Kerl, immer noch kräftig, aber sein Blick ist matt.
Jemand von den Zuschauern will den Delinquenten gekannt haben, so sagt er jedenfalls. Er ist sich allerdings nicht ganz sicher. Ist auch schwer, in der kaputten Fratze, die man uns gezeigt hat, ein Gesicht wiederzuerkennen. Hier, aus der Ferne.
Nach der Präsentation wird der Koffer ausgeschüttet. Die schwarze Asche regnet auf die Erde herab, der Fratzenschädel plumpst auf den Asphalt. Ich krame mein Handy heraus – zu spät. Den Moment des Ascheregens habe ich nicht richtig erwischt. Ich mache ein unbrauchbares Foto von unserer Hausfront, verschwommen, darunter etwas Dunkles. Ich stecke das Handy wieder weg. Ist vielleicht besser, wenn ich kein Foto habe. Ringsum wird sowieso fleißig gefilmt und dokumentiert. Die Asche sieht nicht nur seltsam aus, sie fällt auch seltsam. Fällt rasch und schnurgerade. Gar nicht wie ein Pulver, mehr wie erdige Klumpen. Am Gehsteig vor dem Haus ergibt das ein klumpiges Häufchen. Die Kehrleute stehen bereit. Sie kehren. Auf die Schaufel damit. In die Bio-Tonne, damit neugierige Kinder im Hof später noch was zum Gruseln haben, sofern sie sich trauen, den Deckel der Tonne anzuheben. So ein Kind war ich nie gewesen. Meine kleine Schwester macht große Augen und sagt mal wieder nichts. Morgen, wenn sie mit ihren Freunden im Hof spielen wird, wird sie neugierig sein. Die Müllfrau schiebt die Bio-Tonne zurück in den Hof. Die Präsentation ist beendet, die Absperrung wird aufgehoben.
Mamas Blick war sorgenvoll, während die schwarze Asche herunterrieselte. Sie befürchtet wohl, der Wind könnte einige Rückstände zurück in die Wohnung pusten und sie muss heute noch staubsaugen. Außerdem geniert sie sich sicherlich wegen des unaufgeräumten Kinderzimmers. Ausgerechnet das hatten sie sich aussuchen müssen. Papa tut immer noch so, als wäre er stolz, dass sie uns heute ausgewählt haben. Unsere Wohnung. Das heißt was.

Wir warten an der Haustür, bis die Finalisten fertig sind. Sie tragen den Koffer jetzt ganz easy herunter. Sie lachen und geben meinen Eltern zum Abschied die Hand. Meiner Schwester tätscheln sie den Kopf.
Wir gehen zurück dorthin, wo bislang unsere Wohnung gewesen ist.
Alles steht noch so da wie zuvor. Sogar die Stofftier-Giraffe liegt in exakt dergleichen Position auf dem Bett wie heute Morgen. Ich hatte versucht, mir das einzuprägen. Ich glaube nicht, dass jemand unsere Sachen angefasst hat. Und doch. Es ist alles anders jetzt. Die Stofftier-Giraffe hat Dinge gesehen, die sie mir nicht sagen kann, es gibt keine Worte. Man sieht nichts, man riecht nichts. Keine schwarze Asche irgendwo. Aber sogar die Schwester hat vorübergehend Skrupel, das Zimmer zu betreten.
Ich gehe voran, hinein. Zum Fenster, nun von der anderen Seite, von innen. Sehe hinaus, aus dem Fenster nach draußen. Die Zuschauer verkrümeln sich nach und nach, die Nachbarn sind in ihre Wohnungen zurückgekehrt. Am Fenster kann ich nicht lange stehen bleiben, ich kann nicht. Ich trete zurück, husche über die knarzende Stelle in der Zimmermitte. Ich frage mich, ob sie auch unter der Last des Verbrechers geknarzt hat. Hat sein Fuß, als dieser noch ein Fuß war, diesen Boden berührt, haben sie ihn rausgelassen, nur so zum Spaß, ehe sie ihn nach und nach stundenlang…? Ja, was eigentlich? Was zur Hölle ist alles passiert hier drinnen – ich wage nicht, es mir im Detail auszumalen.
Nein, nicht denken!
Ich gehe zum Schrank, ich hole die Sporttasche heraus. Stopfe ein paar Shirts und Pullis hinein. Wäsche. Nein, es geht nicht. Nicht heute Nacht. Die Schwester wird zu den Eltern ins Bett kriechen, dann bin ich ganz allein in diesem Zimmer. Das geht nicht.
„Ich schlafe heut Nacht bei Oma“, informiere ich meine Eltern wie beiläufig, mit der gepackten Sporttasche in der Hand.
War klar, sie sind dagegen. Mama findet, damit macht man sich verdächtig. Das tut man nicht, das sollte man jetzt echt nicht tun, so sagt sie. Sie sieht mich mit diesem Blick an. Ich bereite ihr nichts als Kummer. Die Lehrerin hat auch schon gesagt, sie wäre oftmals besorgt, wenn sie meine Aufsätze liest. Ich bin nicht so ein Kind, wie sie es gerne hätten und wer weiß, ob ich mich zu etwas Nützlichem auswachse. Etwas, das sich auch rechnet für den Staat, die Wirtschaft und das alles.
Ist mir egal. Ich gehe heute zu Oma. Oma redet nie über die schrägen Sachen. Immer nur über Kochrezepte und Schnulzenfilme, das ist zum Aushalten. Dort will ich hin. Und wer weiß, vielleicht komme ich nie mehr zurück.
 
Zuletzt bearbeitet:

Anders Tell

Mitglied
Es gibt Horror, bei dem es einem wohlig graust und dann solchen wie diese Geschichte, die mich bis ins Mark erschrecken lässt. Wie weit ist es noch entfernt, bis solche Formate wirklich werden könnten, wenn Schaulustige Rettungseinsätze behindern? Früher strömten Menschen zu Hinrichtungen. Diese Schaulust will weiter befriedigt werden und die Enthemmung wächst jeden Tag.
 
Aloha Anders Tell!

Bei dieser Geschichte war ich zunächst unschlüssig, ob ich sie bei "Horror & Psycho" oder in der Science-Fiction-Rubrik unterbringen soll. Aber wie du so treffend bemerkt hast: Allzu weit weg von der Gegenwart ist sie vielleicht gar nicht - deshalb landete die Geschichte hier.
Hab Dank für die Bewertung und deine Gedanken.
Mit liebem Gruß,

Erdling
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Dichter Erdling,

deine Geschichte hat meiner Meinung nach eine überragende literarische Qualität, vor allem in den ersten zwei Dritteln des Textes. Das Ende finde ich auch immer noch gut, aber natürlich ist die Spannung da etwas raus, nach dem die schreckliche Show vorüber ist.

Während des Lesens musste ich auch die ganz Zeit an The Hunger Games denken, obwohl es eigentlich gar nicht so viele Überschneidungen gibt. Aber die Atmosphäre deines Textes hat mich dennoch daran erinnert. Wahrscheinlich liegt es aber auch an den Finalisten. Ein Wort, welches ausdrückt, dass hier ein staatliches Terrorregime durch ein Spiel legitimiert wird. Eine ganz perfide Weise der Systemstabilisation. Ob die Finalisten ihren Auftrag gern gewonnen haben, lässt deine Geschichte offen, die kurzen Charakterskizzen lassen aber darauf schließen, dass dem nicht so ist.

Des Weiteren finde ich es interessant, dass du die Schreckenshandlung in eine private Wohnung, ja sogar ins Kinderzimmer gesetzt hast. Dabei ist das kein stupider Horror, der nur auf den Schockeffekt setzt. Viel eher handelt es sich dabei auch über eine zugespitzte Charakterisierung der Gegenwart, denn durch die Bildschirme flackert ja das Schrecken in jeden Haushalt hinein. Dadurch öffnet der geschützte Raum seine Türen für das Schreckliche und dazu außerdem noch für die Propaganda des Staates.

Die Anpassungsleistungen der einzelnen Figuren in deiner Geschichte sind dabei enorm. Auf die Idee, sich tatsächlich gegen dieses System zu wehren, kam wohl nur der Delinquent selbst - mit der entsprechenden Konsequenz. Und: Der Ich-Erzähler. Ein Kind, dem aufgebürdet wird, sogar seine Familie verlassen zu müssen, weil es in dieser nicht mehr heilen Welt kein zu Hause mehr finden kann. Literarisch besonders gut ist es dir dabei gelungen, immer wieder die kindliche Perspektive einzufangen, so z.B. in folgenden zwei Passagen:

Man sieht kein Guckloch, aber Luft wird er schon kriegen. (Das Kind macht sich Gedanken, ob der Eingesperrte noch atmen kann.)

Ich meine, vielleicht lassen sie ihn sogar aufs Klo, auf unsere Kloschüssel drauf. Dann wird sein letztes Mal Pinkeln ausgerechnet in dieses alte Porzellan sein, mit den ekligen braunen Ablagerungen dort, wo Mama nicht richtig putzt. Aber vielleicht lassen sie ihn auch gar nicht aufs Klo und er muss sich einnässen in seinem Koffer. (Darüber macht sich das Kind Gedanken, während die Erwachsenen nur auf die Erfüllung ihrer Rolle im System bedacht sind.)

Zwei kleine Fehler haben sich übrigens in deinen Text eingeschlichen. Einmal hast du ein m vergessen:

Ich habe mich auch schon gefragt

Und ein anderes Mal müsste ein Satz meiner Meinung nach im Plusquamperfekt statt im Perfekt stehen, weil eine Vorzeitigkeit vorliegt:

Ausgerechnet das haben hatten sie sich aussuchen müssen.


Insgesamt ein grandioser Text, welcher gesellschaftskritische und dystopische Motive vereint und dabei herausragend umgesetzt und erzählt wird.

Viele Grüße
Frodomir
 
Tagchen Frodomir!

Wow, was für ein schönes Lob! Das hört man natürlich gern.
Schön auch, wie du dich im Detail mit meinem Text beschäftigt hast. Möchte deinen Ausführungen gar nichts hinzufügen, bin sehr damit einverstanden.

Die zwei Fehlerchen hab ich ausgebessert.

Es grüßt dich sehr dankbar,

Erdling
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Dichter Erdling,

ich finde, Du hast da sehr genau dargestellt, wie ein Staat sich die Angst (auch die Lustangst) zu Nutze macht.
Darum sollten wir in guten Zeiten lernen, denen zu misstrauen, die uns auf unsere 'niederen Instinkte' reduzieren wollen, indem sie an sie appellieren.

Ganz hervorragend geschrieben!

Liebe Grüße
Petra
 
Grüß dich, Petra!

Auch dir ein ganz großes Dankeschön fürs Lesen, Werten und Kommentieren!

Ist es denn nicht längst so, dass ringsum nur noch an negative Gefühle (Angst, Hass) und an die niederen Instinkte appelliert wird? Eine Politik/Gesellschaft, die aus dem Positiven heraus hoffnungsfroh und konstruktiv gestaltet, vermisse ich lange schon.

Ich wünsche dir (trotz der ungemütlichen Gesamtlage) einen gemütlichen Samstag,


Erdling
 

Shallow

Mitglied
Hallo @Dichter Erdling,

ich habe selten etwas so Bedrohliches gelesen wie diesen Text. Die Brutalität gepackt in Normalität, die Kinder in ihre Welt einbauen. Ich bin erschrocken und begeistert, wie du etwas auf den Punkt bringst, dass vermutlich in vielen Bereichen Realität ist. Hätte ich einen Hut, würde ich ihn ziehen! Ich habe keinen, deshalb die Punkte, die ich selten vergebe!

Gruß

Shallow
 



 
Oben Unten