Der Komet

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Der Komet


Die Studenten Kevin und Ben bauten ihr Fernrohr auf einer Wiese am See auf, weit genug außerhalb der Stadt, deren Licht zudem von einem großen Wald abgeschirmt wurde. Hier fanden sie optimale Bedingungen, um den Kometen beobachten zu können.
Nach einer Weile hörten sie Stimmen. Es waren zwei junge Damen, Sybille und Andrea, die sie flüchtig aus der letzten Astronomievorlesung kannten.
Fortan trafen die vier sich regelmäßig an diesem ruhigen Ort.

Nach einigen Tagen begann zunächst Sybille, dann auch Andrea und Ben von seltsamen Träumen zu berichten. Und schließlich gab auch Kevin zu, von seltsamen Schattenwesen geträumt zu haben.
Wie sich dann herausstellte, stimmten die Beschreibungen dieser Wesen so sehr überein, dass sie annahmen, alle dieselben Träume gehabt zu haben. Und dieser Komet, den sie seit zehn Tagen schon beobachteten, kam in diesen Träumen auch vor.
Da die Träume nicht aufhörten, bekamen sie es langsam mit der Angst zu tun.

Der Weg durch den Wald war nicht besonders breit, und er beschrieb einen deutlichen Bogen. Kevin war schon ein gutes Stück voraus geeilt. Doch dann blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Er glaubte, etwas oder jemanden gesehen zu haben.
Andrea versuchte positiv zu denken, glaubte, dass er vielleicht ein Reh aufgescheucht hatte.
Im Laufe der Nacht, während sie sich leise unterhielten und nach weiteren Details am Himmel suchten, die sie vielleicht noch nicht entdeckt hatten, hörten sie es einige Male im nahen Wald rascheln. Also glaubten sie doch, das da jemand sei, der sie beobachtete.
Doch in dieser Nacht bekamen sie niemanden zu Gesicht.
In der nächsten jedoch wurden sie bereits erwartet. Die seltsamen Wesen aus den Träumen tauchten auf. Und sie sahen genau so aus, wie sie sich diese einander beschrieben hatten. Es waren dunkle Wesen ohne feste Form, sahen aus, wie ein zerfetztes Stück Stoff mit vielen langen Fäden. Zunächst blieben sie noch auf Abstand, doch sie versperrten den vier Freunden den Weg aus dem Wald hinaus.
Andrea schrie als Erste, doch auch Sybille und die Jungs konnten ihre Angst nicht mehr verbergen, als diese Wesen sie daran hinderten, ihren Weg fortzusetzen.
Doch dann sprach Kevin sie einfach an, fragte sie nach ihren Absichten.
Zunächst tat sich nichts, doch dann ertönte eine grollende Stimme: „Habt keine Furcht!“
Genau das Gegenteil bewirkte diese Stimme. Die vier Freunde ergriffen die Flucht. Erfreulich für sie war jedoch, dass die Wesen bereitwillig zur Seite wichen.
„Habt keine Furcht!“, rief erneut diese bedrohliche Stimme.
Im nächsten Augenblick standen diese seltsamen Wesen den Menschen wieder im Weg und veränderten ihr Aussehen. Sie verwandelten sich von diesen wie zerrissene Schatten wirkenden, gesichtslosen Erscheinungen zu festen Körpern mit vier Armen, vier Beinen und einem Gesicht mit vier Augen. Und sie waren etwa zweieinhalb Meter groß.

Es waren sechs von diesen seltsamen Wesen. Sie standen um die Menschen herum.
„Habt keine Furcht!“ Es war nicht erkennbar, welches dieser Wesen das gesagt hatte. Der sonore Hall kam aus allen Richtungen.
Wieder wagte Kevin zu fragen, wer diese Wesen denn seien und woher sie kämen.
„Wir sind die Azyx. Ihr beobachtet schon seit vielen Tagen unsere Heimatwelt.“
Instinktiv schauten alle zum Kometen.

Genau dreizehn Tage lang mieden die vier Freunde den Wald. Und sie ahnten nicht, dass sich genau das gleiche Szenario auch anderswo auf der Welt, wo die Menschen den Kometen beobachtet hatten, ereignet hatte.
Doch als diese dreizehn Tage fast vorüber waren, ereignete sich etwas ganz anderes.
Ben hatte einen seltsamen Traum, der ihm suggerierte, dass der Komet sehr bald von Himmel verschwinden würde, obwohl der Professor gesagt hatte, dass er noch Wochen zu sehen sein müsste. Am Abend machte er einen Spaziergang am Waldrand. Es war schon fast dunkel, da glaubte er, im Wald etwas zu sehen. Zunächst ging er weiter, doch dann bemerkte er dieses sanft bläulich schimmernde Licht. Und dann entdeckte er den schmalen Pfad, der tatsächlich zu leuchten schien.
Ben wagte zwei Schritte hinein in den Wald. Und dann hörte er eine liebliche Stimme, die leise seinen Namen rief.
„Ben, komm bitte zu mir“, sagte die wunderschöne Stimme erneut.
Ben nahm allen Mut zusammen und machte drei weitere Schritte.
„Ich bin keines dieser bösen Schattenwesen“, verriet die Stimme ihm. „Ben, bitte komm zu mir. Komm näher. Bitte.“
Ben wagte fünf Schritte. Dann drehte er sich um, doch der erleuchtete Pfad war nicht mehr zu erkennen. Er bekam ein wenig Angst. Doch als er seinen Blick wieder in den Wald wandte, erkannte er hinter einem Baum ein zauberhaftes Wesen. Ben war sprachlos.
Das Wesen wirkte menschlich, aber es war vollkommen einfarbig in ein zartes Blau gehüllt, so, wie es auch der schmale Pfad bis eben noch war.
Ben wagte sich näher heran. Und nun erkannte er, dass dieses liebliche Wesen das Erscheinungsbild einer kleinen Menschenfrau abgab. Sie mochte vielleicht einsfünfzig groß sein. Fragen über Fragen türmten sich in seinen Gedanken.
Das Wesen erkannte diese und antwortete: „Das würdest du nicht verstehen, Ben. Du musst mir einen Namen geben, Ben. Ich muss jetzt gehen. Komm morgen wieder. Und dann gibst du mir einen Namen, ja?“
Ben wunderte sich, dass dieses Wesen vor seinen Augen verschwand und der Weg hinter ihm sich im gleichen Augenblick erhellte, damit er aus dem Wald hinaus finden möge.

Am nächsten Morgen sprach er Kevin an und erzählte ihm von diesem seltsamen Erlebnis. Der Freund wollte es nicht so recht glauben. Also beschloss er, Ben am Abend zum Wald zu begleiten, um sich diese holde Fee, wie er es spöttisch nannte, zeigen zu lassen.
„Pia!“, rief Ben. Das war der Name, den er ihr geben wollte. „Wo bist du?“
Etwas schüchtern zeigte sie sich und musterte Kevin. Dem kamen ob des äußerst reizvollen Anblicks dieses Wesens gleich recht wilde Gedanken, die er auch in Worte fasste. Doch das schien Pia nicht zu gefallen. Ein Sturm der Entrüstung traf ihn und warf ihn beinahe zu Boden. Als er sich erneut äußerte, wurde aus diesem Sturm ein Orkan. Nun stürzte Kevin tatsächlich. Er schaute Pia wütend an. Dann ergriff er die Flucht.
Ben ließ ihn gehen. Dann richtete er sich an Pia. Doch sie nahm ihm die Macht zu sprechen.
„Ich kenne auch deine Gedanken, Ben. Sie sind anders, viel sensibler, aufrichtiger.“ Dann lenkte Pia ab. „Was haben euch die Schattenwesen erzählt?“ Diesmal gewährte sie ihm zu sprechen.
„Sie haben behauptet, der Komet sei ihre Heimatwelt.“
„Unsinn! Es ist meine Heimatwelt. Sie haben uns unterdrückt, uns zu unterwürfigen Dienerinnen gemacht. Wir können uns doch nicht gegen sie erwehren!“, klagte Pia wütend. Dann verschwand sie.
„Pia!“, rief Ben. Doch sie war fort.
Traurig ging er nach Hause. Ben fühlte sich wie verzaubert. Pia war so bezaubernd, so wunderschön, und doch so geheimnisvoll, so undurchschaubar. Aber er fühlte sich zu ihr hingezogen. Er wollte sie unbedingt wiedersehen.

Während Kevin sich mit Sybille und Andrea für den späteren Abend verabredete, um den Kometen wieder zu beobachten, eilte Ben bereits bei Einbruch der Dunkelheit zum Wald. Erneut leitete Pia ihn in den Wald, um ihn mit ihrem reizenden Antlitz zu verzaubern.
„Pia, wie kann es sein, dass du, wenn du gehst, vor meinen Augen verschwindest? Das kann ich nicht so ganz verstehen. Wie geht das? Wo gehst du dann hin? Und woher kommst du?“
„Das kann ich dir nicht erklären, denn es übersteigt dein Vorstellungsvermögen.“
„Erzähle mir mehr von deiner Heimatwelt. Das ist dieser Komet, ja?“
„Diese bösen Schattenwesen haben sie vor vielen tausend Jahren zu dem gemacht, was es heute ist. Wir rasen seither durch die Weiten des Universums. Und irgendwann werden wir wohl in einen glühenden Stern stürzen. Dann ist alles zuende.“
Ben schien alles um sich herum zu vergessen und lauschte der lieblichen Stimme seiner Pia. Er bemerkte nicht, dass sich Sybille, Andrea und Kevin näherten.

Pia erzählte Ben von ihrer Heimatwelt und den ach so bösen Schattenwesen. Dabei stand der junge Mann nur wenige Meter in den Wald hinein an einen Baumstamm gelehnt.
Andrea hatte ihn entdeckt. Es wirkte für sie, als ob Ben mit jemandem reden würde. Es war aber niemand zu sehen, denn Pia hielt sich hinter einem besonders dicken Baum verborgen. Als sie die anderen jedoch bemerkte, verschwand sie unvermittelt.
„Pia!“, rief Ben nun. „Warum verschwindest du einfach. Pia! Komm zurück!“
Die beiden jungen Frauen sahen sich an und fragten sich, wer wohl diese Pia sein mochte. Andrea ging mutig voran und sprach Ben an, erhielt von ihm jedoch nur verwirrende und ausweichende Antworten. Enttäuscht wandte sie sich ab. Dann rannte sie voraus, um ihre Tränen zu verbergen. Sie bemerkte nicht, dass sie einem dieser seltsamen Schattenwesen, dass sich nun zu einem festen Körper wandelte, direkt in die vier Arme lief. Sie schrie laut auf.
Ben bemühte sich sofort um sie, doch auch diesmal wies sie ihn schroff zurück.
Einen Augenblick war totale Stille, niemand sagte etwas. Da hörten sie plötzlich wieder diese grollende Stimme: „Habt keine Furcht!“

Kevin suchte erneut das Gespräch mit Ben, doch er verleugnete Pia. Sie hatte ihn völlig unter Kontrolle, wie es schien. Als Kevin den anderen berichtete, waren sie nicht nur irritiert, sondern auch verärgert, insbesondere Andrea. Sie mochte Ben, aber sie hatte nun erst recht nicht den Mut, ihm das zu sagen.
Als Kevin allerdings von dem kräftigen Windstoß erzählte, mit dem Pia ihn zu Boden geworfen hatte, da kamen sie gemeinsam zu dem Schluss, dass sie Ben würden helfen müssen, um aus Pias Einfluss zu entkommen.

Ben registrierte gar nicht, was die anderen sprachen. Statt dessen glaubte er wieder, Pias Stimme zu hören.
„Ben! Du bist weise. Du hast mich erkannt. Du weißt, dass ich für dich da sein werde. Diese Schattenwesen wollen eure Welt vernichten. Komme mit mir, um sie aufzuhalten. Komm mit mir. Noch habe ich genug Energie, aber sie wird schwinden. Dann brauche ich dich.“
„Ich verstehe nicht.“
„Du wirst es verstehen“, sagte sie und verschwand.
„Pia!“, rief er.
Doch Pia war fort.

Eifersucht begann in Andrea zu keimen, als sie Bens Rufe nach Pia hörte. Sie ging zu ihm, sprach ihn an, doch er leugnete abermals, nach Pia gerufen zu haben.
Die vier Freunde verbrachten auch weiterhin viel Zeit miteinander, doch Ben machte ihnen ständig Sorgen. Er verfiel immer wieder in diese Traumzustände und sprach dann mit Pia. Sie ließen ihn gewähren, aber sie stellten ihn dann anschließend immer wieder zur Rede. Und immer konnte er sich an nichts dergleichen erinnern.

Mit Sybille hatte Kevin inzwischen zarte Bande geknüpft, doch sie wollten es vor den anderen ein wenig verbergen, um sie nicht zu düpieren. Aber sie konnten Andrea immerhin entlocken, dass sie sich ernsthafte Sorgen um Ben mache, dass sie ihn im Grunde sehr gern habe. Also riet Sybille der Freundin, ein bisschen offensiver auf den jungen Mann zuzugehen. Um es anschaulicher zu machen, begrüßte sie bei der nächsten Zusammenkunft Ben und Kevin ganz besonders herzlich mit einem Kuss auf die Wange.
Andrea wurde prompt rot im Gesicht und schaute Sybille erstaunt an. Etwas zögerlich folgte sie dann dem Beispiel der Freundin, wobei der Kuss bei Kevin nur sehr flüchtig ausfiel, während Andrea bei Ben ein wenig Leidenschaft und Zärtlichkeit bemühte. Der junge Mann wirkte irritiert.
Dann gingen sie in den Wald. Und wie sie erwartet hatten, trafen sie erneut auf die Schattenwesen. Sie beschlossen, diese einfach zu ignorieren und unbeirrt weiter zu gehen. Die Azyx wichen auch bereitwillig zur Seite. Lediglich ihren Standardsatz sagten sie: „Habt keine Furcht!“

Nach sechs Stunden überkam die vier jungen Leute die Müdigkeit, und sie beschlossen, nach Hause zu gehen.
Die Azyx hatten sich schon früher tief in den Wald zurück gezogen. Sie beachteten die Menschen, die sich auf den Heimweg machten, gar nicht, sondern hatten ihr Augenmerk auf etwas anderes gerichtet.
„Ben! Hilf mir!“ Er glaubte Pias Stimme zu vernehmen und blieb sofort stehen.
„Was ist los?“, fragte Andrea erschrocken.
„Pia!“, rief er.
Kevin wurde sofort wütend. „Ach, der fantasiert wieder!“
„Nein! Ich höre ihre Stimme. Sie ruft um Hilfe, Leute. So glaubt mir doch“, stammelte Ben unruhig.
„Hilfe!“, rief Pia erneut.
Diesmal hörten es die anderen auch.
Ben zeigte nach rechts durch die vielen Bäume. „Da! Da passiert etwas!“, rief er aufgeregt und rannte los.
Im nächsten Augenblick wurde ein erneuter Hilferuf jäh unterbrochen. Und die vier Freunde sahen einen hellblauen Lichtstrahl. Und das Bild, das sich ihnen dann bot, war beängstigend. Wie ein mit leuchtend blauer Flüssigkeit gefüllter Ballon zerplatzte das Fabelwesen. Die Freunde waren entsetzt.
„Pia!!!“, schrie Ben.
Kevin rannte hinter Ben her und hielt ihn am Arm fest. „Hey, ich kann auch nicht glauben, was wir da gerade gesehen haben. Aber du hättest es nicht verhindern können!“
„Sie haben Pia umgebracht!“ Ben begann zu weinen.

Alle hatten es gesehen. Die Azyx hatten sich in Gestalt der Schattenwesen auf Pia gestürzt und sie zerstört. Es blieb nichts von ihr übrig.
Mit zittriger Stimme sprach Andrea Ben an: „Was war das? Ben, was ist da passiert?“
Ben antwortete nicht, sondern ließ sich fallen und begann zu weinen. Sybille stieß die Freundin an und machte eine deutliche Geste, die Andrea auch verstand. Sie setzte sich ganz dicht zu Ben, nahm ihn in den Arm und redete sanft auf ihn ein. „Ich war auch schockiert, als ich das gesehen habe. Erkläre mir, wer Pia war. Bitte, Ben.“
Ben schaute das rothaarige Mädchen an, legte ebenfalls einen Arm um ihre Schultern und lächelte schließlich. Doch dann sagte er: „Ich glaube, ich habe sie geliebt.“
Wut stieg in Andrea auf. Doch sie blieb stark. Sie wusste, wenn sie ihn jetzt attackieren würde, hätte sie ihn endgültig verloren. „Erzähl mir von ihr. Bitte“, sagte sie.
„Ihr habt es alle gesehen, ja? Diese Schattenwesen haben Pia umgebracht!“, lamentierte Ben.
Jetzt oder nie, dachte Andrea, ergriff mit beiden Händen Bens Wangen und küsste ihn fest auf den Mund. Sie war so ungestüm, dass sie nach einigen Augenblicke von ihm ablassen musste, um Luft zu holen.
„Andrea, was ...“, stammelte Ben verwirrt.
Doch Andrea war nun entschlossen, ihn mit aller Macht von Pia abzulenken. Sie küsste ihn erneut, diesmal sehr viel liebevoller und bewusster. Und nun nahm sie ihn fest in die Arme, um ihn zu animieren, ihr Drängen entsprechend zu erwidern.
Ben fühlte sich gerade offenbar überfordert. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Andrea ergriff seine Hand, um ihm auf die Beine zu helfen. „Lass uns gehen“, bat sie.
Stumm folgte er ihr. Und immer wieder drehte er sich um.
Die Azyx blieben auf Abstand, denn sie spürten Bens Zorn. Er konnte nicht ahnen, was sie dazu bewogen hatte, dieses Wesen, das er als Pia kannte, zu eliminieren.

Auch am nächsten Tag machte Ben sich schon sehr früh allein auf den Weg in den Wald. Er wollte die Stelle suchen, wo er das Unglück des Vorabends vermutete. Doch auch heute bemerkte er wieder das sanfte Aufleuchten eines schmalen Pfades abseits des regulären Weges. Und instinktiv folgte er diesem Pfad.
„Ben“, sprach eine vertraute Stimme zu ihm.
Er erschrak, denn plötzlich stand Pia vor ihm. „Das ist doch nicht möglich!“, rief er. „Ich habe gesehen, wie sie dich ...“
„Ich schätze, ich werde dir etwas erklären müssen, Ben.“
„Das glaube ich allerdings auch.“
„Ich bin eine Colina. Sicher hast du noch nie davon gehört. Das kannst du auch nicht. Denn eure Wissenschaftler sind nicht in der Lage, diese Dimension, in der wir leben, zu erkennen.“
„Was hat das zu bedeuten?“
„Wir sind ... Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?“
„Wie bitte? Ich denke nicht, aber ...“
„Wir sind die Seelen eurer Toten, sie leben in uns weiter.“
„Das kann ich nicht glauben. Wie kann es denn sein, dass du gestern durch die Brutalität dieser Schattenwesen gestorben bist und mir heute in genau der gleichen Gestalt wieder erscheinst? Wie bitte kann das sein, Pia?“
„Wir kennen eure Gedanken. Wir erscheinen gerne so, wie ihr uns sehen wollt. Verstehst du? Oder sehe ich nicht deiner lieben Schulfreundin Nadine ähnlich?“
„Nadine ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen! Das ist schon drei Jahre her.“
„Sehe ich ihr ähnlich?“, forderte Pia energisch eine Antwort.
Ben überlegte kurz. Und dann erkannte er, dass es durchaus so war, wie Pia sagte. Trotzdem unsicher, was er tun sollte, lief er davon.

Kaum war er zuhause, klingelte Kevin an der Tür. Mit einem strahlenden Lachen kam Ben dem Freund entgegen und rief: „Pia ist nicht tot!“
Der junge Mann war völlig perplex. Er zweifelte an Bens Verstand, versicherte ihm, dass er einer Illusion, einem Betrug aufgesessen sei. Doch Ben beharrte auf seiner Version. Er erzählte dem Freund, was Pia ihm über die Colina und diese Schattenwesen erzählt hatte und forderte ihn auf, mit ihm in den Wald zu kommen. Dort würde er die Gelegenheit bekommen, mit seinem Vater zu sprechen, der im vergangenen Jahr gestorben war.

„Denke an deinen Vater“, beschwor Ben den Freund.
Kevin lachte, denn er war sicher, dass das alles nur eine Täuschung sein könne. Doch nachdem er dem erleuchteten Pfad in den Wald gefolgt war, bemerkte er plötzlich ein solches blau schimmerndes Wesen. Etwas unwirsch sprach er es an.
„Wie redest du, Junge“, antwortete eine vertraute Stimme.
Kevin war schockiert. Wie konnte das sein? Aber das Wesen erschien tatsächlich in der Gestalt seines Vaters. Und dieses Wesen erklärte dem jungen Mann, dass der Komet jetzt seine Heimat sei. Aber der Sohn wollte es trotzdem nicht glauben.
„Oh, Kevin. Du wirst es nicht verstehen. Deine Seele wird nach deinem Tod keine Ruhe finden“, orakelte das Wesen.
Dann rief Ben nach Pia. Als sie erschien, fragte er Kevin, ob er sich an Nadine erinnere. Das verwirrte Kevin allerdings noch mehr. Was hatte Pia mit Nadine zu tun? Da erinnerte er sich. Aber Nadine ist tot, dachte er. Er schaute Pia ins Gesicht. Die Ähnlichkeit ist da, erkannte er. Trotzdem wollte er diesen Schwindel, für den er es trotz allem hielt, nicht mitspielen.

Obwohl die Colina in der Lage waren, Wesen jeder Art, die in der Nähe waren, zu erkennen, waren sie auch diesmal so sehr auf die beiden Menschen fixiert, dass sie das Unheil nicht kommen sahen.
Und da in diesem Augenblick auch Andrea und Sybille in den Wald kamen, waren sie zusätzlich abgelenkt. Die Mädchen blieben stumm, denn sie erstarrten erneut vor Angst, als die vier Schattenwesen sich auf die beiden blauen Fabelwesen stürzten und sie auch diesmal wie einen Luftballon zerplatzen ließen.
„Nein!!!“, schrie Ben, doch er konnte nichts tun. „Warum tut ihr das?“
„Sie sind nur Illusion! Du weißt das, Ben! Und Illusionen zerplatzen schon mal, wie ihr Menschen zu sagen pflegt, wie eine Seifenblase.“ Die Stimme der Schattenwesen klang plötzlich sehr freundlich.
Aber Ben war wütend. „Warum tut ihr das?“
„Sie sind gefährlich!“ Nun kam wieder die grollende Stimme hervor. „Du lässt dich davon blenden!“
„Und ihr seid nicht gefährlich? Das glaube ich nicht!“, klagte Ben. „Wer seid ihr denn?“
„Wir sind auf jeden Fall nicht die Bösen, wie die Colina euch glauben lassen wollen.“
„Was wollt ihr dann von uns?“ Ben konnte sich kaum beruhigen.
„Wir können jetzt verschwinden, und im nächsten Augenblick sind wir woanders auf dieser Welt. Das könnt ihr nicht verstehen. Aber genauso verhält es sich mit den Colina. Sie sind überall, und sie wollen nur eure Seelen.“
„Ihr wollt also behaupten, dass die Colina die Bösen sind, ja?“, hakte Ben nach.
„So unglaublich das erscheinen mag, aber sie wollen euch mit ihrem lieblichen Antlitz nur blenden. Es sterben so viele Menschen jeden Tag, sie könnten sich grenzenlos bedienen. Aber sie wollen noch mehr.“
„Mehr? Holen sie sich alle Seelen der Verstorbenen? Was ist denn mit den bösen Menschen? Haben diese Seelen die Macht bei denen übernommen, dass sie nicht mit dem zufrieden sind, was ganz natürlich für sie abfällt?“ Kevin zog es bewusst ein wenig ins Lächerliche.
„Du verstehst nicht!“, grollten die Azyx.
„Das ist auch schwer zu verstehen“, meinte Andrea höflich.
„Wer von euch glaubt denn überhaupt daran, dass die Seelen der Menschen in einer anderen Dimension weiterleben würden? Gibt es da irgendwelche gesicherten Erkenntnisse?“ Die Antwort gaben die Azyx unmittelbar selbst. „Nein! Aber diese Fabelwesen, denn nichts anderes sind die Colina, wie sie sich nennen, wollen euch das glauben lassen, damit ihr ihnen vertraut. Ihre wahren Ziele würdet ihr niemals unterstützen wollen.“
„Seltsam“, widersprach Ben. „Genau das hat Pia mir über euch gesagt. Was zur Konsequenz hat, dass einer lügt.“
„Ich muss zugeben, ich fand es schon erschreckend skrupellos, wie ihr auch heute diese beiden wieder ... Ja, regelrecht hingerichtet habt. Da fällt es schwer, euch zu glauben. So weit muss ich meinem Freund recht geben“, reklamierte Kevin.
„Aber diese Colina verbreiten die Theorie, dass die Menschen das Tor zum Himmel aufsuchen sollten. Versteht ihr?“
„Was soll denn das bedeuten?“, fragte Andrea.
„Liebes Kind, wir denken, ihr werdet euch von einer solchen Geschichte nicht in die Irre führen lassen. Es wäre äußerst bedauerlich.“
„Was soll es heißen, wollte meine Freundin wissen?“, hakte Ben noch einmal nach.
Meine Freundin? Hat er gerade 'meine Freundin' gesagt? Das war für Andrea eine Offenbarung, die sie so leicht nicht erwartet hatte.
„Wir hatten das Gefühl, dass ihr nicht unbedingt an ein Leben nach dem Tod glaubt. Aber ihr wirkt auch nicht so unvernünftig, ein derartiges Versprechen mit eurem Freitod begleichen zu wollen.“
„Wie bitte?“, platzte es aus Kevin heraus. „Wer ist denn so irre?“
„Glaubt uns, es wird Menschen geben, die diesen Weg gehen werden, wenn wir die Geschichten der Colina nicht glaubhaft widerlegen können.“
„Ich erinnere mich an einen seltsamen Satz, den Pia einmal zum Abschied gesagt hatte. Ich solle mit ihr gehen, denn sie würde mich brauchen, wenn sie nicht mehr genug Energie haben würde. Ich frage mich bis heute, was sie damit gemeint hatte“, verriet Ben nun.
„Sie würde deine Lebensenergie in sich aufsaugen. Das darfst du nicht zulassen“, mahnte die Stimme der Azyx.
„Wissen die Colina, dass ihr uns jetzt gegen sie aufzubringen versucht?“
„Es ist nicht auszuschließen. Aber durch den Akt der Gewalt, den sie natürlich registriert haben werden, ist anzunehmen, dass sie sich zunächst etwas weiter zurück gezogen haben.“
„Der Akt der Gewalt ...“, sinnierte Ben. „Ihr sagt das, als sei es unabdingbar, dies immer wieder zu tun, wenn die Colina in die Nähe der Menschen kommen. Das macht mir auch Angst.“
„Ihr Menschen seid viel zu leicht zu manipulieren. Ihr glaubt alles, was ihr glauben wollt. Also erzählen sie euch das, was ihr hören wollt. Das ist die Gefahr.“
„Was wollt ihr denn jetzt tun? Ihr könnt nicht überall zugleich sein, oder?“, vermutete Kevin.
„Natürlich nicht. Aber ihr solltet vor allen Dingen nicht allein in den Wald gehen. Zumindest nicht bei Dunkelheit.“
„Die kommen also immer allein, ja?“, wollte Ben wissen.
„Nein, nicht unbedingt. Sie werden auch in Gruppen kommen, wenn sie ihre Ziele damit leichter durchsetzen können.“
„Heute waren es zwei, aber das war wohl so gewollt, denn du hattest mich dazu animiert, an meinen Vater zu denken“, erklärte Kevin den anderen, weil sie es nicht wissen konnten. „Und dein Püppchen Pia zeigte sich dann eben als Nadine.“
„Wer ist Nadine?“, klang Andrea einen Hauch eifersüchtig.
„Sie ist bereits tot, genau wie mein Vater“, klärte Kevin auf.
„Willst du damit sagen, dass diese Wesen sich so zeigen, wenn man an einen Verstorbenen denkt?“
„So ist es!“, riefen die Schattenwesen. „Aber das ist alles nur Illusion. Geht jetzt heim.“

Nach einem gemeinsamen Essen bei Ben kamen wieder die Gespräche auf.
„Wer sagt uns denn, dass diese Azyx uns nicht auch einen vom Pferd erzählen?“ Ben war trotz allem skeptisch. „Wir können es nicht beurteilen, was wahr und was falsch ist. Also müssen wir uns auf unsere Gefühle verlassen.“
„Und die sagen dir, dass die die Bösen sind, oder was?“, warf Kevin ihm vor.
„Ich weiß es doch nicht. Pia war immer sehr liebenswert und nett und ...“
„Sie will dir dein Leben nehmen, um an deine Seele zu gelangen! Spinnst du denn? Also, ich hätte keine Lust, deswegen immer nachts in den Wald gehen zu müssen, um dein Abbild anzuhimmeln!“, schrie Andrea ihn wütend an.
Ben schaute sie erschrocken an.
Und auch Sybille schaute die Freundin erstaunt an. Na, wenn das nicht deutlich war, dachte sie, wenn er das nicht kapiert hat, dann ist das hoffnungslos. Dann schaute sie Kevin an. Der nickte nur und deutete an, gehen zu wollen.
Ben versuchte zwar, sie daran zu hindern, aber Kevin machte ihm klar, dass es gewiss Andreas Wunsch sei. Und Sybille sprach der Freundin Mut zu, ihre Schüchternheit über Bord zu werfen und Ben notfalls zu seinem Glück zu zwingen.

Ben fühlte sich gefangen. Er mochte Andrea, sicher, aber in Gedanken war er wieder bei Pia, die ihn geschickt manipulierte. Auf Andreas Annäherungsversuche reagierte er kühl und emotionslos. Als er sein Verhalten überhaupt nicht änderte, beschimpfte sie ihn als unsensibel und undankbar, sprang auf und lief davon.
Zunächst ziellos, dann eher aus Verlegenheit, rannte sie zum Wald. Doch als sie eines dieser Wesen sah, eine Colina, lief sie entnervt nach Hause.
Fatal wäre sicher gewesen, wenn Ben ihr noch über den Weg gelaufen wäre, denn er begab sich nun ebenfalls in den Wald und rief erneut nach Pia. Zunächst hatte er keinen Erfolg. Doch dann bemerkte er hinter einem Baum einen scheuen Blick, der ihn musterte.
Und dann zeigte sich das Wesen. Ben erschrak, doch er brachte kein Wort heraus.
„Hallo, Ben. Scheinbar ist es dir so lieber. Aber das wirst du noch bereuen.“
In heller Panik rannte Ben hinaus aus dem Wald. „Nein! Nein, nein, nein!“, schrie er immer wieder. „Das kann nicht sein! Das darf nicht wahr sein!“
Ben war völlig hilflos. Er rannte nach Hause, warf sich auf sein Bett und heulte bitterlich. Irgendwann ließ ihn die Erschöpfung einschlafen. Doch er hatte grausame Träume.

Ben schottete sich völlig von den anderen ab, ließ niemanden herein. Am Abend dann ging er in den Wald. Er wollte nicht länger mit dieser Schuld leben, die er glaubte, auf sich geladen zu haben. „Pia!“, rief er. „Pia! Ich komme mit dir!“
 
Hallo LenzHarjesd,
die Urfassung hatte noch wesentlich mehr Dialoge, die aber ein wenig ausufernd waren. Es ist nicht leicht, einen langen Text mit vielen Dialogen in Erzählform umzuarbeiten, um die Dialoge etwas zusammen zu fassen. Aber Deine beiden Beispiele sind schon nicht schlecht, das gebe ich zu. Es wird aber in den nächsten Tagen leider etwas schwierig, daran zu arbeiten (andere Verpflichtungen). Aber ich denke drüber nach.
Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 



 
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