Vitelli
Mitglied
Die Entscheidung fiel mir nicht schwer. Ich bin fast erleichtert.
Ich sehe dem Zug nach.
Es geht nicht um mich, denke ich, sondern um ihn. Mir doch egal, was er mit seinem Leben anfängt.
Der Bahnsteig sieht an diesem kalten Novembertag noch trister aus, als ich ihn in Erinnerung hatte; es nieselt.
Ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch und vergrabe die Hände tief in den Taschen.
Auf dem Rückweg mache ich Halt in meiner Stammkneipe; vormittags ist dort kaum was los.
Ich setzte mich an die Bar und bestelle.
Ich sehe Günter, dem Wirt, beim Zapfen und Einschenken zu.
„Alles gut“, fragt Günter, während er mir die Getränke serviert.
Ich nicke beiläufig; es interessiert ihn nicht wirklich.
Der schwer alkoholkranke Mann auf dem Hocker neben mir versucht mir ein „Gespräch“ aufzuzwingen; ich ignoriere ihn.
Als er dennoch keine Ruhe gibt, bringt Günter ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Für jemanden wie ihn, ist Günter oft die letzte Bezugsperson in ihrem Leben, und keiner will es sich mit ihm verscherzen.
Günter reicht mir das leere Blatt Papier, um das ich ihn bat.
Ich setzte den Stift an und verharre.
Es ist der Moment, indem mir meine Einsamkeit vollends bewusst wird.
Ich lache auf und zerknülle das Blatt Papier. Jetzt nur keine falschen Vertraulichkeiten, alter Junge, sage ich vor mich hin. Bleib dir wenigsten treu.
Günter beobachtet mich abschätzig; er versucht nicht einmal, das unauffällig zu tun.
Ich zahle und gehe.
Kurz bevor ich meine Wohnung erreiche, klingelt mein Handy; ich geh ran:
„Hey, Raik … Auf dem Weg zu mir … Nein … Nein … Das ich’s nicht getan habe, soll’s heißen … Ich verarsch dich nicht … Gar nicht so leicht das zu beantworten … Ich fand’s einfach nicht richtig … Auf und davon – keine Ahnung wo hin … Das ist mir schon klar … Tu, was du tun musst – du weißt ja, wo du mich findest.“
Ich lege auf.
Was hätte ich ihm schon groß erzählen sollen? Dass ich in dem unauflösbaren Widerspruch lebe, wenn ich ihm, meinem Boss, gegenüber loyal sein will, ich Dinge tuen muss, die mir zuwider sind …? Ihn trifft keine Schuld. Ich bin wissentlich durch diese Tür gegangen. Hab mir quasi die Eintrittskarte gekauft. Und jetzt muss ich halt damit leben. Oder eben nicht.
Zuhause schenke ich mir noch einen ein. Vielleicht wäre alles anders verlaufen, wenn ich weniger getrunken hätte, denke ich. Aber hätte ich überhaupt angefangen zu trinken, wenn ich glücklich gewesen wäre? Nicht Freude, sondern Freudlosigkeit ist die Mutter der Ausschweifung.
Ich atme tief durch und spreche zu mir selbst. „Was auch immer gleich geschehen mag, alter Junge … Die Würde, die du im Leben nicht hattest, wird dir im Sterben vergönnt sein. Sei tapfer.“
Ich denke an ein Interview von Sam Peckinpah, das ich mal las: „Es kommt nicht darauf an wie ein Mann gelebt hat, sondern wie er stirbt.“
Früher fand ich den Spruch immer gut, heute kommt er mir albern vor. Aber es ist alles, was mir bleibt.
Ich denke an den Jungen, den ich habe laufen lassen. Junge ist gut, er ist immerhin vierundzwanzig. In seinem Alter war ich schon fünf Jahre im Geschäft. Siebzehn Jahre ist das jetzt her. Und ich war immer loyal. Drauf bin ich stolz. Das nennt mal wohl Ehre unter Dieben, denke ich, und auf einmal kommt mir auch das ziemlich albern vor.
Ich war nie religiös; aber vielleicht habe ich dadurch, dass ich den Jungen verschont habe, die Gnade der Vergebung erfahren. Und jetzt hoffe ich auf Erlösung – Erlösung dadurch, dass ich gerichtet werde.
Die Tür öffnet sich.
Der Typ, der mit dem Revolver auf mich zielt, schreit: „Bleib ganz ruhig.“
Ich bleibe ganz ruhig und schaue dem anderen Typen dabei zu, wie er - gekonnt und erfahren – erst mein Schlaf- und dann mein Badezimmer durchsucht. Filmreif, denke ich anerkennend. „Gesichert“, ruft er schließlich.
Der Typ, der mich angeschrien hat, ich solle ruhig bleiben, tritt einen Schritt zurück und lugt zum Flur hinaus. „Sicher“, sagt er fast flüsternd.
Ben, der Adressat der geflüsterten Worte, tritt hinein. Er schaut sich kurz um, dann setzt er sich mir gegenüber; die .38 hält er locker im Schoß.
Der Schrei-Typ schließ die Tür und bleibt Bodyguard-mäßig davor stehen.
Ich muss mich nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass der Durchsuchungs-Typ auf mich angelegt hat – ich spüre es.
Ben sieht auf meine .38, die in einigermaßen Entfernung auf dem Tisch liegt. Ohne Hektik greift er danach.
Wir schauen uns an.
Schweigen.
Richtung Tür nickend sagt er: „Du hast ja nicht mal abgeschlossen…“
„Wozu? Du wärst doch auch so reingekommen. Und ich möchte dem Vermieter ungern ein kaputtes Schloss hinterlassen.“
Ben nickt; es ist ein Nicken, das irgendwo zwischen „Ich habe verstanden“ und „Das macht Sinn“ anzusiedeln ist. So zumindest meine Deutung.
Ich schaue Ben dabei zu wie er zeitschindend die kahlen Wände meines kargen Apartments betrachtet. Er war schon lange nicht mehr hier, denke ich. Wieder mich anschauend sagt er: „Raik will wissen, wo er ist.“
„Tja.“
„Tja was?“
„Das, was Raik will, wird nicht das sein, was Raik bekommt.“
„Mensch, Keno, nun mach es mir doch nicht so schwer – ich will das nicht tun!“
„Es würde eh nichts bringen – ich weiß nicht, wo er ist. Aber tu, was du tun musst – ich nehm’s dir nicht krumm. Ich steh das durch.“
Ben senkt den Kopf und atmet schwer. Zu mir aufschauend sagt er: „Aber - aber was soll ich Raik denn sagen?“
Ich zucke gleichgültig mit den Achseln.
„Sag mir wenigstens, warum du ihn hast laufen lassen!“
Ich trinke einen Schluck. Dann sage ich: „Er hat einen Fehler gemacht, ja. Aber ist zu jung, um dafür mit seinem Leben zu bezahlen. Ich bin es nicht.“
Ben schaut hilfesuchend nach oben. Um es ihm leichter zu machen sage ich: „Ich bin froh, dass du es machst, Ben. Ehrlich.“ Meine Worte tun ihm sichtlich gut.
„Gibt es irgendwas“, sagt er fast mitfühlend, „das ich für dich tun kann? Jemand was ausrichtigen oder so?“
Ich schüttelte den Kopf.
Wir schauen uns wieder an. Lange.
Schließlich nicke ihm zu.
Dann geht alles ganz schnell.
Ich sehe dem Zug nach.
Es geht nicht um mich, denke ich, sondern um ihn. Mir doch egal, was er mit seinem Leben anfängt.
Der Bahnsteig sieht an diesem kalten Novembertag noch trister aus, als ich ihn in Erinnerung hatte; es nieselt.
Ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch und vergrabe die Hände tief in den Taschen.
Auf dem Rückweg mache ich Halt in meiner Stammkneipe; vormittags ist dort kaum was los.
Ich setzte mich an die Bar und bestelle.
Ich sehe Günter, dem Wirt, beim Zapfen und Einschenken zu.
„Alles gut“, fragt Günter, während er mir die Getränke serviert.
Ich nicke beiläufig; es interessiert ihn nicht wirklich.
Der schwer alkoholkranke Mann auf dem Hocker neben mir versucht mir ein „Gespräch“ aufzuzwingen; ich ignoriere ihn.
Als er dennoch keine Ruhe gibt, bringt Günter ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Für jemanden wie ihn, ist Günter oft die letzte Bezugsperson in ihrem Leben, und keiner will es sich mit ihm verscherzen.
Günter reicht mir das leere Blatt Papier, um das ich ihn bat.
Ich setzte den Stift an und verharre.
Es ist der Moment, indem mir meine Einsamkeit vollends bewusst wird.
Ich lache auf und zerknülle das Blatt Papier. Jetzt nur keine falschen Vertraulichkeiten, alter Junge, sage ich vor mich hin. Bleib dir wenigsten treu.
Günter beobachtet mich abschätzig; er versucht nicht einmal, das unauffällig zu tun.
Ich zahle und gehe.
Kurz bevor ich meine Wohnung erreiche, klingelt mein Handy; ich geh ran:
„Hey, Raik … Auf dem Weg zu mir … Nein … Nein … Das ich’s nicht getan habe, soll’s heißen … Ich verarsch dich nicht … Gar nicht so leicht das zu beantworten … Ich fand’s einfach nicht richtig … Auf und davon – keine Ahnung wo hin … Das ist mir schon klar … Tu, was du tun musst – du weißt ja, wo du mich findest.“
Ich lege auf.
Was hätte ich ihm schon groß erzählen sollen? Dass ich in dem unauflösbaren Widerspruch lebe, wenn ich ihm, meinem Boss, gegenüber loyal sein will, ich Dinge tuen muss, die mir zuwider sind …? Ihn trifft keine Schuld. Ich bin wissentlich durch diese Tür gegangen. Hab mir quasi die Eintrittskarte gekauft. Und jetzt muss ich halt damit leben. Oder eben nicht.
Zuhause schenke ich mir noch einen ein. Vielleicht wäre alles anders verlaufen, wenn ich weniger getrunken hätte, denke ich. Aber hätte ich überhaupt angefangen zu trinken, wenn ich glücklich gewesen wäre? Nicht Freude, sondern Freudlosigkeit ist die Mutter der Ausschweifung.
Ich atme tief durch und spreche zu mir selbst. „Was auch immer gleich geschehen mag, alter Junge … Die Würde, die du im Leben nicht hattest, wird dir im Sterben vergönnt sein. Sei tapfer.“
Ich denke an ein Interview von Sam Peckinpah, das ich mal las: „Es kommt nicht darauf an wie ein Mann gelebt hat, sondern wie er stirbt.“
Früher fand ich den Spruch immer gut, heute kommt er mir albern vor. Aber es ist alles, was mir bleibt.
Ich denke an den Jungen, den ich habe laufen lassen. Junge ist gut, er ist immerhin vierundzwanzig. In seinem Alter war ich schon fünf Jahre im Geschäft. Siebzehn Jahre ist das jetzt her. Und ich war immer loyal. Drauf bin ich stolz. Das nennt mal wohl Ehre unter Dieben, denke ich, und auf einmal kommt mir auch das ziemlich albern vor.
Ich war nie religiös; aber vielleicht habe ich dadurch, dass ich den Jungen verschont habe, die Gnade der Vergebung erfahren. Und jetzt hoffe ich auf Erlösung – Erlösung dadurch, dass ich gerichtet werde.
Die Tür öffnet sich.
Der Typ, der mit dem Revolver auf mich zielt, schreit: „Bleib ganz ruhig.“
Ich bleibe ganz ruhig und schaue dem anderen Typen dabei zu, wie er - gekonnt und erfahren – erst mein Schlaf- und dann mein Badezimmer durchsucht. Filmreif, denke ich anerkennend. „Gesichert“, ruft er schließlich.
Der Typ, der mich angeschrien hat, ich solle ruhig bleiben, tritt einen Schritt zurück und lugt zum Flur hinaus. „Sicher“, sagt er fast flüsternd.
Ben, der Adressat der geflüsterten Worte, tritt hinein. Er schaut sich kurz um, dann setzt er sich mir gegenüber; die .38 hält er locker im Schoß.
Der Schrei-Typ schließ die Tür und bleibt Bodyguard-mäßig davor stehen.
Ich muss mich nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass der Durchsuchungs-Typ auf mich angelegt hat – ich spüre es.
Ben sieht auf meine .38, die in einigermaßen Entfernung auf dem Tisch liegt. Ohne Hektik greift er danach.
Wir schauen uns an.
Schweigen.
Richtung Tür nickend sagt er: „Du hast ja nicht mal abgeschlossen…“
„Wozu? Du wärst doch auch so reingekommen. Und ich möchte dem Vermieter ungern ein kaputtes Schloss hinterlassen.“
Ben nickt; es ist ein Nicken, das irgendwo zwischen „Ich habe verstanden“ und „Das macht Sinn“ anzusiedeln ist. So zumindest meine Deutung.
Ich schaue Ben dabei zu wie er zeitschindend die kahlen Wände meines kargen Apartments betrachtet. Er war schon lange nicht mehr hier, denke ich. Wieder mich anschauend sagt er: „Raik will wissen, wo er ist.“
„Tja.“
„Tja was?“
„Das, was Raik will, wird nicht das sein, was Raik bekommt.“
„Mensch, Keno, nun mach es mir doch nicht so schwer – ich will das nicht tun!“
„Es würde eh nichts bringen – ich weiß nicht, wo er ist. Aber tu, was du tun musst – ich nehm’s dir nicht krumm. Ich steh das durch.“
Ben senkt den Kopf und atmet schwer. Zu mir aufschauend sagt er: „Aber - aber was soll ich Raik denn sagen?“
Ich zucke gleichgültig mit den Achseln.
„Sag mir wenigstens, warum du ihn hast laufen lassen!“
Ich trinke einen Schluck. Dann sage ich: „Er hat einen Fehler gemacht, ja. Aber ist zu jung, um dafür mit seinem Leben zu bezahlen. Ich bin es nicht.“
Ben schaut hilfesuchend nach oben. Um es ihm leichter zu machen sage ich: „Ich bin froh, dass du es machst, Ben. Ehrlich.“ Meine Worte tun ihm sichtlich gut.
„Gibt es irgendwas“, sagt er fast mitfühlend, „das ich für dich tun kann? Jemand was ausrichtigen oder so?“
Ich schüttelte den Kopf.
Wir schauen uns wieder an. Lange.
Schließlich nicke ihm zu.
Dann geht alles ganz schnell.
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