Der Lauf über die Trampolin Inseln

Der reine Wahnsinn, warum machen die so etwas? Diese verständliche Frage stellen viele Normalbürger, wenn sie von den Anstrengungen des Wettbewerbs 'Ironman-Triathlon' auf Hawaii hören. Unter Extrem-Ausdauersportlern gibt es allerdings Herausforderungen, die diesen, für Ausdauer-Junkies fast schon Jedermann-Wettbewerb, um Längen übertreffen. Zum Beispiel der Triple-Ultra-Thriathlon, der einmal jährlich im ostholsteinischen Lensahn stattfindet. Grenzerfahrungen zu sammeln, über diese eventuell hinauszugehen, dies treibt solche Menschen an.

So auch die in derartigen Wettbewerben seit vielen Jahren erfolgreich aktiven Andris Kristers aus dem lettischen Riga, Johann Leitner aus Bregenz in Österreich, sowie Kai Reimers aus dem Städtchen Gelting in Schleswig-Holstein. Diese drei Ausnahmeathleten wurden anlässlich vieler gemeinsamer Wettbewerbe zu Freunden. Sie suchten nach neuen Herausforderungen, und anlässlich eines gemeinsamen Regenerationaufenthalts im Anschluss an einen Ultra-Thriathlon, erdachten sie den ultimativen Wettbewerb für Extrem-Extremsportler: den 'Triple X – Intercontinental-Triathlon'. Sie wollten auf diese Weise herausfinden, wer von ihnen drei der tatsächlich beste Sportler sei. Das war keine Schnapsidee, die sie da mit Leben füllten, es war der pure Wahnsinn. Diese neue Herausforderung sollte mit der Schwimmaufgabe, dem schon existierenden 'Ocean's Seven' beginnen. Dabei müssen sieben der am schwierigsten zu durchschwimmenden Meerengen auf fünf Erdteilen durchquert werden. Da diese zwischen Schottland und Neuseeland kreuz und quer über die Kontinente verstreut, sowie in total unterschiedlichen Klimazonen liegen, ist alleine die Planung eine enorme Herausforderung, von den körperlichen Anstrengungen ganz zu schweigen. Und, diese Prüfung muss in zwölf Monaten abgeschlossen sein, so das Reglement. Bislang haben weltweit lediglich einundzwanzig Menschen diesen härtesten Schwimmwettbewerb der Welt erfolgreich absolviert.

Der zweite Teil des Triple X: Die Durchquerung der Wüste Death Valley, eine der heißesten und trockensten Gegenden der Erde, im Osten Kaliforniens gelegen. Diese Strecke von hin- und zurück fast 200km sollte per Fahrrad zwischen Death Valley Junction und Death Valley Park Sign zurückgelegt werden.

Und üblicherweise enden derartige Dreier-Wettbewerbe immer mit einer Laufdisziplin. Als wenn die drei sich mit den ersten beiden Wettbewerbsteilen nicht schon tief genug ins Reich der Hybris begeben hätten, erdachten sie einen Lauf fern ab jeden normalen Vorstellungsvermögens. Sie planten einen Insel-Lauf nicht um, sondern auf einem der spektakulärsten und exotischsten Seen des Planeten, dem Loktak See mit seinen Trampolin-Inseln im indischen Bundesstaat Manipur. Dieser See ist immer noch ein weißer Fleck auf der touristischen Weltkarte und nur wenigen spezialisierten Naturkundlern sowie einigen Fernreisefreaks bekannt. Dementsprechend ist die Infrastruktur in dieser abgelegenen Gegend für Reisende äußerst schlicht bzw. gar nicht vorhanden. Die unzähligen Inseln von sehr unterschiedlicher Größe und Beschaffenheit, die weitflächig über den Loktak See verteilt liegen, werden Phumdis genannt und bestehen aus einer mehr oder weniger festen Landmasse. Ihr Hauptteil verbirgt sich dabei unter Wasser und besteht aus organischem, zusammengewachsenem Pflanzenmaterial. Der Überwasserteil hat sich zu dünnen, flachen Stegen von unterschiedlicher Breite geformt, deren Konsistenz der eines Schwamms gleicht. Die Sichtbarkeit und die Festigkeit dieser kleinen, unregelmäßig miteinander verbundenen Pseudo-Inseln, ist stark von den saisonalen Regenmengen abhängig, anders ausgedrückt, man sieht viele von denen zeitweilig überhaupt nicht; sie stellen alles andere als ein sicheres Geläuf dar.

Das gesamte Projekt der drei Extremsportler wurde vom Team-Manager Jo Wegner betreut. Jo, als gut vernetzter Influencer im Bereich Sport Events, war bei diesem Vorhaben dafür zuständig, Sponsoren anzuwerben. Die komplette Logistik der Unternehmung lag ebenfalls in seinen Händen. Der erste Teil der drei Einzelwettbewerbe kann aus Gründen der individuellen Verfassung der Teilnehmer, sowie der komplexen logistischen Anforderungen, jeweils nur von einem der Sportler zur Zeit durchgeführt werden. Jo Wegner wurde für die gesamte Dauer des Wettbewerbs zu äußersten Diskretion vergattert: Keines der Einzelergebnisse durfte vorab bekannt werden. Endgültig entschieden würde der Wettkampf zum Schluss durch Addition der Einzelergebnisse nach Ende der letzte Laufetappe.

Dieser finale Teil des Wettbewerbs startete in Assams Hauptstadt Dispur, nahe der größten Stadt der Bundesstaates, Guwahati. Die von Jo Wegner ausgearbeitete Strecke führt die meiste Zeit am Ufer des gewaltigen Flusses Brahmaputra entlang, durch ein Hochlandtal inmitten eines faszinierenden Gebirgspanoramas. Umrahmt wird diese Landschaft von fast überirdischer Schönheit von immergrünen, welligen Hügeln dicht gewachsener Teebüschen, die fast bis zu den schneebedeckten Gipfeln des Trans-Himalayas reichen. Dort, wo der Lauf des mächtigen Stroms in Richtung Bangladesh abbiegt, geht es für die Läufer, auf überwiegend moderatem Streckenprofil, fast nur noch bergab bis zum Zwischenziel am Loktaksee. Für die gesamte Distanz benötigt ein gut trainierter Ausdauerläufer eine reine Laufzeit von gut fünfzig Stunden, auf mehrere Etappen verteilt. Von dem aktuell gestarteten Trio traf der schwächste Läufer der Gruppe, Kai Reimers, als letzter in einem der wenigen Hotels der Region, dem Lake View Hotel Moirang ein, das am Nordwest-Ufer des Sees liegt. Von hier aus würden sie den letzten Teil des Wettbewerbs, anfangs am Ufer entlang, und später über den See, laufend in Angriff nehmen. Nach einer für sie ausreichenden Zeit der Regenerierung starteten sie drei Tage später kurz vor Sonnenaufgang am Seeufer nahe des Hotels. Die Streckenführung war bestens ausgearbeitet, der Kurs war den Bedingungen der Umgebung optimal angepasst, Versorgungs- und Rastplätze waren deutlich gekennzeichnet. Da die drei bislang ihre Einzelwertungen nicht kannten, würde nun ein letzter ehrgeiziger Soloauftritt in diesem Wettbewerb keinen Sinn mehr ergeben. So hatten sie vereinbart, die gesamte Strecke nach Möglichkeit gemeinsam zu bewältigen. Sie folgten etwa eine Stunde lang dem Weg parallel zur Uferlinie. Dann bogen sie ab, um auf den ”Stegen” zwischen den Pfumdis quer über den See weiterzulaufen. Dynamische Bewegungen auf diesem stark federnden Untergrund waren Bewegungserfahrungen einer ganz besonderen Art; sie spürten nun am eigenen Körper, warum diese Landfragmente Trampolin-Inseln genannt werden. Die Läufer gewöhnten sich aber bald an diese Art des Untergrunds. Erheblich schwieriger war es, sich nach vorn zu orientieren. Diese riesige, ebene Wasserfläche bot ihnen dafür wenige Anhaltspunkte. Schon nach kurzer Zeit war festzustellen, dass auf extreme Ausdauer trainierte Sportler sich schnell an außergewöhnliche Herausforderungen gewöhnen. So liefen die drei bald lockerer und erfreuten sich an der traumhaft schönen Kulisse. Nach der zweiten Verpflegungsstation packte den leistungsstärksten Läufer der Gruppe, Johann Leitner, der Ehrgeiz. Er zog das Tempo an und lief leichtfüßig davon. Die beiden Zurückbleibenden sahen ihn bald nur noch als Punkt am Horizont. Dann verschwand er endgültig aus ihrem Sichtfeld.

Andris Kristers und Kai Reimers erreichten den verabredeten Treffpunkt am Nordufer des Sees am späten Nachmittag. Jo Wegner war auf die Motorhaube seines Jeeps gestiegen und winkte ihnen von dort aus voller Freude zu. Ziemlich erschöpft, aber vollgepumpt mit Glückshormonen und gespannt auf das Endergebnis, fielen sich die drei lachend in die Arme. Jos Frage nach dem Verbleib des dritten Läufers, Johann, versetzte die beiden in ein pures Entsetzen. Sie konnten keine Antwort darauf geben. Ihr Freund hätte dem Rennverlauf nach lange vor ihnen im Ziel sein müssen; unterwegs hatten sie nirgendwo ein Zeichen von ihm gesehen. Johann Leitner aus Österreich ist nie am Ziel angekommen. Er ist im wahrsten Sinn des Wortes auf der Strecke geblieben.
 



 
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