Der letzte Schritt

Ruedipferd

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Der letzte Schritt


Die Maschine war ohne Zwischenfälle in Paris gelandet. Sowohl Magda als auch Annette hatten bereits längere Zeit vorher ihr Schulfranzösisch aufpoliert und konnten sich mühelos mit dem Taxifahrer verständigen.
In der Klinik empfing sie eine Angestellte, die Mutter und Tochter sogar auf Deutsch begrüßte. Dr. Charon selbst sprach ebenfalls gut Deutsch und achtete bei der Anstellung und Auswahl seiner Mitarbeiterinnen sehr auf genügend Sprachkenntnisse. Die Patienten sollten sich in seiner Klinik wie zu Hause fühlen.
Annette verabschiedete sich von Magda, nachdem der Taxifahrer ihr Gepäck hereingebracht hatte. Magda wollte in ihr Hotel fahren und sich etwas ausruhen. Sie würde später zur Klinik kommen.
Annette musste an der Rezeption einige Papiere unterschreiben, wurde von einer jungen Krankenschwester abgeholt und auf ihr Zimmer gebracht. Dies lag im vierten Stock und bot einen atemberaubenden Blick über die Dächer von Paris. Sie schaute direkt auf den Eiffelturm und konnte sich nicht satt sehen. Die junge Krankenschwester stellte sich als Jeannette vor und ging kurz aus dem Zimmer, um eine Flasche Mineralwasser zu holen.
Wie aus dem Nichts tauchte auf einmal Lisa vor Annettes Auge auf. Spontan schüttelte sie sich in einem nicht enden wollenden Weinkrampf. Jeannette kam zurück und erschrak. „Quel malheur, Madame. Comment-allez-vous? “ Sie führte Annette zu ihrem Bett. „Merci, j’ai pense a mon amie. Elle est morte.“ Stockend begann sie in ihrem Schulfranzösisch zu erzählen.
Jeannette nickte. Sie sprach etwas Deutsch und reimte sich den Rest zusammen. Annette bejahte die Frage nach einer Tasse Tee. Lisa war bei ihr. Nichts und niemand würde sie je wieder trennen können.
Sie nahm ihr Handy und rief erst Ines und danach Anna an. Anna erzählte, dass Dirks Prozess vielleicht erst Anfang März stattfinden würde und Annette sicher als Zeugin vor Gericht aussagen müsste. Annette meinte, bis dahin wäre sie wieder fit und versprach, gleich nach der Operation bei Anna anzurufen.
Am Nachmittag besuchte Dr. Charon seine Patientin und erklärte ihr, welche Untersuchungen am nächsten Tag geplant waren. Jeannette wäre Annettes ständige Begleiterin und würde am Morgen der Operation mit ihr zusammen in den Operationssaal fahren.
Magda traf ein, wechselte noch einige Worte mit ihm und machte sich mit Annette zu einem kleinen Spaziergang über das Klinikgelände und in die nähere Umgebung auf. In der Krankenhauslobby tranken beide ihren Nachmittagstee.
Sie sprachen wenig und wenn, dann über die Ausstattung der Klinik, die netten Schwestern und die herrliche Atmosphäre. Man hatte eigentlich mehr das Gefühl, sich in einem Hotel zu befinden als in einem Krankenhaus. Nur die Patienten in ihren Bademänteln und die fahrbaren Infusionsständer erinnerten an den Zweck des Hauses.
Am nächsten Tag wurde Annette Blut abgenommen und sie führte ein längeres Gespräch mit der Narkoseärztin. Danach war Annette entlassen. Sie traf sich wieder mit ihrer Mutter. Die beiden nutzten die letzten freien Stunden zu einem ausgiebigen Shoppingmarathon.
Sie würden vierzehn Tage in Paris verbringen und hatten vorsichtshalber den Rückflug noch nicht gebucht. Magda ging zwar davon aus, dass es kaum Komplikationen geben würde, doch Annette war nicht mehr ganz so jung und man wusste nie.
Die kommende Woche müsste sie komplett im Bett liegen. Es war eine schwere Operation. Magda hatte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr Medizinstudium lag lange zurück. Inzwischen hatte sich viel verändert und doch: Sie durfte vor ihrer Heirat eine Zeitlang in einer Klinik arbeiten. Sie konnte also auf Erfahrung im Umgang mit Patienten und Ärztekollegen zurückgreifen. Auch im Operationssaal war sie mehrfach gewesen und hatte dem Oberarzt bei kleineren Eingriffen assistiert. Mochten sich auch Geräte und Medikamente verändert haben, so blieb doch eine gewisse Grundstruktur ärztlicher Arbeit immer dieselbe.
„Ich bin gespannt, wie es nachher aussehen wird“, unterbrach Annette die Gedanken ihrer Mutter. „Die Scheide soll um die fünfzehn Zentimeter lang werden. Der Doktor meinte, ich würde auch Empfindungen haben, weil die Klitoris aus der Eichel gebaut wäre. Irgendwie ist es schon fantastisch, was heute alles möglich ist.“
Magda lächelte müde. Die Aufregung der letzten Monate hatten ihr zugesetzt. Sie war froh, dass nun der letzte Schritt bevorstand und hoffte, Annette würde sich zu Hause schnell erholen, damit auch sie langsam wieder zur Ruhe käme. Sie spürte ihr Alter, und der Verlust ihres Mannes wurde ihr immer mehr bewusst. Friedrichs Tod hatte eine tiefe Lücke in ihrem Leben hinterlassen. Magda war sich darüber im Klaren, dass keines ihrer Kinder oder Enkel diese zu schließen vermochte. Ihre Gesundheit war angeschlagen, das fühlte sie deutlich.
„Warte es ab, mein Kind. Du bist so weit gekommen und wirst sicher diese letzte Hürde mit Bravour nehmen“, lächelte sie. „Hast du etwas dagegen, wenn sich deine alte Mutter nun zurückzieht? Ich möchte ein wenig schlafen. Morgen bin ich hier, wenn du aufwachst.“
Annette gab ihrer Mutter einen Kuss. Sie blickte der gealterten Frau liebevoll in die Augen und erschrak. Es lag ein merkwürdiger Glanz darin, der ihr Angst einjagte.
Mutter muss selbst zum Arzt, wenn wir wieder zu Hause sind, dachte sie. Sie soll zur Kur fahren. Das war alles zu viel für sie.
Annette fühlte sich elend. Sie hatte die Hilfe Magdas ohne mit der Wimper zu zucken angenommen und im Grunde die letzte Zeit nur an sich selbst gedacht.
„Ich glaube, ich war sehr egoistisch, Mama. Aber das wird sich ändern, wenn das hier vorbei ist. Dann lässt du dich einmal gründlich durchchecken und wir schicken dich in ein schönes Kurbad in den Jungbrunnen“, sagte sie und drückte die Mutter zum Abschied. Magda lächelte. Wenigstens hat sie es gemerkt, dachte sie zufrieden.

Jeannette erschien pünktlich um sieben Uhr und bereitete ihre Patientin vor. Kurze Zeit später kam der große Moment. Die beiden stiegen in den Fahrstuhl, der sie in den Operationssaal bringen würde. Annette trug einen Bademantel, darunter nur ein Operationshemd und einen Slip. Ihre Haare waren unter eine Plastikhaube geschoben.
Sie dachte an eine Hinrichtung und auch die Schlachtbank fiel ihr spontan ein. Ihr Herz schlug unwillkürlich schneller, als der Fahrstuhl anhielt und sie zusammen mit Jeannette die Schleuse passierte.
Die Narkoseärztin kam aus China. Sie hieß Frau Wang, sprach ein niedliches Französisch und hatte Annette gestern von ihrer Heimat in der Nähe Pekings erzählt. Sie lächelte, allerdings hatte Annette sie noch nie anders gesehen. Sie zeigte auf den Operationstisch und half Annette, sich darauf zu legen. Frau Wang lagerte ihren Arm, fixierte ihn und legte eine Kanüle.
Hinrichtung! schoss es Annette durch den Kopf. Frau Wang lächelte. „Un, deux, trois,…“ sagte sie und Annette zählte laut weiter „Quatre, cinq, six, sept, hui…“ Die Welt um sie versank. Frau Wangs Lächeln war das Letzte, an das sich Annette erinnerte, als irgendetwas ihren Geist vernebelte und ihre Augen zufallen ließ.
Sie träumte und sah einen Raum, in dem medizinischen Geräte standen. In der Ecke saß ein junger Mann und las in einem Buch. Bin ich jetzt tot? fragte sie sich unwillkürlich. Langsam kehrte ihr Gedächtnis zurück. Sie hielt ihre Augen geöffnet, gab aber noch keinen Ton von sich. Ihre Hand strich über die Bettdecke. Sie fühlte einen starken Druck auf dem Handrücken. Schmerzen hatte sie jedoch keine. Der junge Mann im weißen Kittel stand auf, kam auf sie zu und sah sich ihren Tropf an. Zufrieden schaute er danach auf den Apparat, der ihm Puls und Herztöne der Patientin anzeigte.
„Comment allez-vous, Madame? Alles okay?“, fragte er. Annette bemühte ihre Lippen und formte: „Je vais bien, merci…“ Dann fielen ihr wieder die Augen zu.“
Als sie erneut erwachte, schien die Sonne durchs Fenster und zeigte ihr in der Ferne den Eiffelturm in all seiner Pracht. Annette lag bereits wieder in ihrem Zimmer. Jeannette lachte fröhlich und begrüßte sie erst auf Französisch und danach auf Deutsch. Sie fragte, ob Annette Schmerzen hätte. Die verneinte müde. Sie wollte sich hinsetzen, was Jeannette allerdings resolut zu verhindern wusste.
An Aufsitzen war noch lange nicht zu denken. „ Monsieur le Docteur kommt nachher. Votre maman wartet draußen und möchte Sie gerne sehen. Darf ich sie hereinlassen?“
Annette nickte froh. Einen Moment später lagen sich Mutter und Tochter in den Armen. Magda hatte lange geschlafen. Sie wusste Annette in den besten Händen und konnte ohnehin nichts mehr für sie tun. Da durfte sie genauso gut einmal wieder an sich selbst denken. Das Frühstück schmeckte ihr ausgezeichnet. Gut gelaunt hatte sie danach das Hotel verlassen und sich auf den Weg in die nahe gelegene Klinik gemacht.
Ein kurzes Gespräch mit Jeannette beruhigte sie vollends. Die Operation sei komplikationslos verlaufen.

„Wie geht es dir, mein Schatz?“ Magda streichelte zärtlich über Annettes Wangen, auf denen sich ein gewaltiger Bartwuchs abzeichnete. Annette spürte ihre restlichen Stoppeln. „Ohne den Bart würde ich mich wesentlich besser fühlen. Kannst du mir bei der Rasur helfen?“ Magda lächelte und nahm den Rasierapparat aus der Kulturtasche ihrer Tochter. Ihre Wangen cremte sie etwas später mit einer Feuchtigkeitscreme ein und hielt Annette den kleinen Handspiegel vor.
„Gott sei Dank, ich bin wieder ein Mensch“, meinte diese. „Der Doktor kommt nachher. Ich bin ja gespannt, wie alles aussieht. Weh tut mir nichts, aber da laufen wohl eine Menge Schmerzmittel in mich hinein“, sagte sie und drehte sich zu dem Tropf an ihrer rechten Seite um.
„Das wird weniger“, meinte Magda. „Aber du brauchst keine Schmerzen zu haben. Du bekommst sofort etwas, wenn du klingelst. Ich bin nur froh, dass du wach bist. Andererseits ist es sehr selten, dass ein Patient auf dem OP-Tisch stirbt. Die Ärzte sehen so etwas als persönliche Beleidigung an, die es zu vermeiden gilt.“ Annette lachte auf.
Als Doktor Charon eine Stunde später seine Patientin besuchte, fand er Mutter und Tochter fröhlich scherzend vor. Er erzählte, dass die Operation doch fast zehn Stunden gedauert und Annette einige Bluttransfusionen bekommen hatte. Es bestand nun aber kein Grund zur Sorge mehr.
Sie müsste die folgende Woche im Bett bleiben. Nach und nach würde er die vielen Beutel und Kanülen von ihrem Körper entfernen. Die neue Scheide müsste mit einem Stent offen gehalten werden. Er hatte es ihr bereits erklärt, wiederholte es nun aber noch einmal.
Es handelte sich dabei um ein Teil, das dem männlichen Glied ähnelte, und aus aufblasbarem Kunststoff bestand. Sie dürfte es nicht entfernen, sondern müsste es Tag und Nacht tragen, was von den meisten Damen als nicht gerade angenehm empfunden wurde, aber leider nicht zu ändern war.
Annette hatte von den anderen Frauen davon gehört. „Ich hoffe, ich habe das Schlimmste überstanden. Ich werde mich mit dem Teil schon anfreunden“, dachte sie. „Nun, dann wollen wir mal die junge Frau auspacken“, sagte der Doktor lachend und schlug die Bettdecke zurück. „Die Männer begrüße ich allerdings anders. Da schauen wir uns den kleinen Jungen an. Die sind mit der lustigen Bezeichnung sehr zufrieden, vor allem, wenn das Ergebnis ihren Vorstellungen entspricht. Die meisten, die ich bisher operiert habe, empfinden den Eingriff als neue Geburt. Viele haben Tränen in den Augen, wenn sie ihr Geschlecht das erste Mal sehen. Sie erzählen, dass sich Körper und Seele nun im Einklang befinden. Es sind zwei Leben: Das Biologische im Geburtsgeschlecht und nach den Anpassungsmaßnahmen beginnt das Zweite, im richtigen Geschlecht. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich die Menschen so glücklich sehe. Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich helfen konnte.“ Annette nickte. Sie kannte das Gefühl. „Ich habe auch oft den Eindruck, mein Leben wie ein kleines Kind ganz neu zu entdecken“, antwortete sie, voller Vorfreude.
Jeannette stand daneben und schob den Verbandswagen neben das Bett. Sie stellte einen Spiegel auf, so dass Annette sich das Ergebnis ausgiebig anschauen konnte. Doch außer einem großen Klumpen geschwollenen Fleisches gab es noch nichts Besonderes zu begutachten. „Och, da ist ja noch gar nichts zu sehen“, rief sie sichtlich enttäuscht aus.
Ganz im Gegensatz zu Monsieur le Docteur, der von seiner Arbeit völlig verzückt zu sein schien. „Alles in bester Ordnung. Die Schwellungen gehen in den nächsten Tagen zurück. Der große Augenblick kommt, wenn ich den Blasenkatheter entferne und sie als Dame zur Toilette müssen. Dann wird sich zeigen, wann ich Sie nach Hause schicken kann.“ Er sagte nur noch „Au revoir“ und überließ Jeannette das Verbinden.
Die nächsten Tage verbrachte Annette mit ihrer Pferdelektüre. Zeitweilig musste sie nach Jeannette klingeln und um ein Schmerzmittel bitten.
Der Spiegel wurde bei den Besuchen des Arztes zu ihrem ständigen Begleiter. Langsam ging die Schwellung zurück und Annette war mit dem, was sie unten herum an sich erblickte ausgesprochen zufrieden. Sie würde zu Hause ständig mit einer Art Vibrator bougieren müssen. Die Neoscheide durfte nicht wieder zuwachsen. Es würde sich sicher innen Narbengewebe bilden und die Nachsorge würde zu ihrem täglichen Leben dazugehören.
Sie hatte ihre Frauenärztin angerufen und den Hörer ganz kurz an den Doktor weitergegeben, der aber mehr ein freundliches Flirten von sich gab, als der Kollegin Anweisungen hinsichtlich der Nachsorge zu übermitteln.

Er lachte Annette an. Ihre Ärztin würde schon wissen, was zu tun war. Kein Arzt würde einem anderen in seine Arbeit hineinreden. Das wäre in Deutschland genauso wie in Frankreich. Wenn es Komplikationen gäbe, würde sie ihn anrufen.
Auch mit den Frauen in Hamburg und Duisburg telefonierte Annette ausgiebig. Ines freute sich mit ihr. Anna weinte glücklich, als Annette sie als eine der ersten anrief. Sie freute sich so sehr für sie und erzählte, sie wollte gleich zum Friedhof fahren und es Lisa mitteilen. Annette war tief berührt und musste spontan schluchzen.
Eine Woche später durfte sie endlich wieder aufstehen. Noch trug sie ihren Blasenkatheter, aber der sollte bald entfernt werden. Die Schmerzen waren dank entsprechender Tabletten erträglich. Annette hielt sich mit Jeannettes Hilfe am Bett fest. Sie spürte ihren Kreislauf. Allein durfte sie nicht aus dem Bett, aber Magda kam jeden Tag und entlastete die junge Krankenschwester erheblich mit ihrer Gegenwart.
Der aufgeblasene Penis störte Annette fürchterlich. Sie konnte kaum laufen und noch weniger schlafen. An Drehungen im Bett war gar nicht zu denken. Sie verfluchte ihren ständigen männlichen Begleiter und freute sich, wie ein kleines Kind, als der Doktor kam und ihr die Entfernung des Blasenkatheters in Aussicht stellte.
Das erste Mal auf der Toilette kam allerdings einer Katastrophe gleich. Wie fürchterlich! , fluchte Annette. Sie hatte das Gefühl, nach jedem Tropfen Urin ein Ei gelegt zu haben und beschloss, wenn sie diesen schrecklichen Augenblick jemals überleben sollte, nie wieder daran zurückdenken zu wollen.
Magda war ihr abermals eine große Hilfe. Zwei Tage nach der vorgesehenen Zeit flogen die beiden Frauen wieder nach Hamburg zurück. Annettes Personalausweis lautete noch auf den männlichen Namen, denn sie wollte die Personenstandänderung zusammen mit der Vornamensänderung vom Gericht erhalten. Die beiden Gutachten würden deshalb erst mit dem Zusatz auf die erfolgte Operation an das Amtsgericht geschickt werden.
Annette hatte sich von Dr. Reichert eine Bescheinigung über ihren Alltagstest ausstellen lassen, auch wenn sie diesen nicht offiziell zu absolvieren brauchte. An der Passkontrolle in Paris musste sie das Attest vorzeigen und sich erklären. Der französische Polizist holte eine Kollegin herbei, die Deutsch sprach und Annette freundlich und verständnisvoll durchwinkte.
Dann kam der Augenblick, als sie in Hamburg das erste Mal als Frau deutschen Boden betreten sollte. Sie fühlte sich leicht wie der Wind und jauchzte tief in ihrem Herzen. Endlich! Sie hatte es geschafft. Ihr Körper und ihre Seele waren vereint. Sie stand auf der obersten Treppe der Gangway. Wie eine Königin stieg sie lächelnd die Treppe vom Flugzeug hinunter. Die nächsten Wochen würden ganz ihrer Genesung gehören. Sie hoffte, sich zusehends von der Operation zu erholen und mit jedem Tag stärker zu werden.
Martin ließ es sich nicht nehmen, Mutter und Schwester am Flughafen zu erwarten. Er und Renate kamen in der Folge häufig zu Besuch und brachten die Kinder mit. Julian verstand noch nichts von dem, was seine Tante erlebt hatte. Er freute sich auf den nächsten Zoobesuch mit ihr. Der Kinderschwimmreifen, auf dem sie nun immer saß, weil ihr Popo ihr wehtat, interessierte ihn außerordentlich. Er sicherte sich die Option darauf, wenn es Tante Annette wieder besser ging und sie den hübschen bunten Reifen mit den vielen aufgemalten Rennautos nicht mehr brauchte.
Die Frauen der Hamburger Gruppe gaben sich die Türklinke im Stadtpalais in die Hand. Sie beglückwünschten Annette zur erfolgreichen Operation. Einige sprachen sie auf die Kosten an. Die Rechnung war nach drei Wochen gekommen und von Annette sogleich überwiesen worden. Das Geld dafür lag bereits abrufbereit auf der Bank. Ein solches Glück hatte von den anderen allerdings keine. Annette war sich ihrer privilegierten Stellung voll bewusst. Die Operation in Paris wurde von den meisten Krankenkassen nicht mehr genehmigt, weil es in der Zwischenzeit gute Operateure in Deutschland gab. Auch die Einrichtung von Belegbetten in einer deutschen Klinik konnte die Kassen nicht überzeugen.
Sie ahnte, dass ihre geplante Stiftung nicht nur rechtliche, sondern wohl bei einigen Frauen auch finanzielle Hilfe würde leisten müssen. Dazu besprach sie sich mit ihrem Bruder, der sie in naher Zukunft mit Stiftungsgebern zusammen bringen wollte, damit sich Annette umfassend über eine bereits erfolgreich laufende Stiftung informieren konnte.

Am 13. Februar kam der Postbote und brachte die gerichtliche Vorladung zur Zeugenaussage vor dem Landgericht Duisburg im Prozess gegen Dirk Maruhn. Annette sollte bereits am 23. Februar dort erscheinen. Der Richter hatte drei Verhandlungstage angesetzt. Dirk wurde der fahrlässigen Körperverletzung mit Todesfolge an seinem Bruder Carsten angeklagt und musste sich wegen vorsätzlichem Totschlag an Dr. Loran verantworten.
Die Mordanklage wurde in letzter Sekunde vom Staatsanwalt fallen gelassen. Annette fühlte sich fit und fuhr selbst mit dem Auto nach Duisburg. Es hatte ziemlich viel geschneit, doch die Autobahn war gut geräumt. Sie wollte bei Ines wohnen.
Bevor sie sie aufsuchte, musste sie aber in aller Ruhe Lisas Grab besuchen. An der Tankstelle hielt sie an und kaufte eine langstielige rote Rose: Die Lieblingsblume ihrer toten Freundin, der jetzt endlich Gerechtigkeit widerfahren würde.
Am nächsten Morgen wohnte sie zusammen mit Ines und einigen anderen Frauen der Gerichtsverhandlung bei. Auch Ines war als Zeugin geladen. Anna Maruhn wurde von den Anwesenden sehr liebevoll betreut.
Nachmittags fuhren sie gemeinsam zu Lisa. Annette nahm abends am Gruppentreffen teil und freute sich, wie die anderen riesig, die Freundinnen wiederzusehen. Auch Arabella und Juliane waren dabei. Sie hatten ihre Operation inzwischen in Deutschland vornehmen lassen.
Annette sagte am nächsten Tag vor Gericht aus. Sie traf dort Uwe Marquard wieder. Staunend begrüßte der Kommissar seinen Freund, der nun als Frau vor ihm stand. Für Annette stellte ein Strafprozess nichts Besonderes dar, im Gegensatz zu den Freundinnen und Anna Maruhn. Sie musste ihnen sehr viel erklären.
Das Urteil gegen Dirk wurde am Freitagvormittag verkündet. Es lag eine beängstigende Stille über dem Gerichtssaal, als der Richter erschien. Die Zuschauerreihen waren restlos voll besetzt. Die Witwe Dr. Lorans stand als Nebenklägerin neben dem Staatsanwalt und hörte mit steinerner Miene zu, als das Urteil verlesen wurde.
Die Eheleute lebten zwar bereits seit einem halben Jahr getrennt, doch der verstorbene Arzt hinterließ neben seiner Frau noch zwei minderjährige Kinder im Alter von vierzehn und sechzehn Jahren. Dirk Maruhn musste für vierzehn Jahre ins Gefängnis. Ein Jahr Untersuchungshaft wurde ihm angerechnet.

Anna brach weinend auf dem Gerichtsflur zusammen. Die Frauen brachten sie nach Hause zu ihrer Schwester und blieben abwechselnd den nächsten Tag bei ihr. Der Arzt musste kommen. Sie erhielt starke Beruhigungsmittel. Der Hausarzt riet zu psychotherapeutischer Hilfe. Er wollte sich gleich um eine Krisenintervention kümmern. Annette sprach lange mit Anna und erzählte ihr von der geplanten Stiftung, die sie ins Leben rufen wollte. Sie sollte Lisas Namen tragen. Sie lud sie zu sich und Magda nach Hause ein und meinte, es wäre sehr schön, wenn Anna bei der Einweihung der Stiftung zugegen wäre. Es hatte den Anschein, dass Lisas Mutter in den letzten Monaten weiter gealtert war, aber sie beruhigte sich. Als der Hausarzt am nächsten Tag kam und ihr die Anschrift einer Psychologin gab, die sie gleich aufnehmen wollte, sah sie schon besser aus. Sie schien Hoffnung zu schöpfen.
Annette plante ihre Rückfahrt für den Sonntagnachmittag ein. Am Abend vor der Abreise saß sie mit Ines in deren Wohnung. „Lisa fehlt mir so sehr. Das Urteil gegen Dirk ist, wenn überhaupt, nur ein schwacher Trost. Oh, Ines, warum passieren so furchtbare Dinge? Ich weiß, es klingt naiv, aber ich verstehe es einfach nicht“, sagte sie leise.
Ines seufzte. „Wenn wir das wüssten, wären wir wie Gott und könnten alles Unheil auf der Erde vorhersehen und verhindern. Wir sind als Menschen so hilflos, Annette. Manchmal bin ich nah dran zu verzweifeln. Aber dann kommt stets wieder ein Funken Hoffnung auf, so wie bei dir, mit der geplanten Stiftung. Da denke ich, die Katastrophen müssen geschehen, damit wir uns auf unsere Kräfte besinnen und das Gute in uns wieder zum Vorschein gebracht wird. Wir bleiben in Verbindung. Lisa wird immer bei uns sein und wenn die Stiftung erst ihren Namen trägt, wird ihr tragischer Tod mehr Menschen bekannt werden. Das ist ähnlich wie beim jährlichen Gedenken der Opfer auf dem CSD. Wichtig ist doch, dass wir uns von nichts und niemand einschüchtern lassen und unseren Weg unbeirrt weiter vorwärts gehen. Ungerechtigkeiten werden immer wieder auftreten, wir dürfen sie nur nicht zulassen!“

Nach einem gemeinsamen Frühstück am anderen Morgen, beschloss Annette aufzubrechen. Sie drückte Ines herzlich. Annette trug wieder ihre langen Lederstiefel und ihren Pelzimitatmantel, denn es lag immer noch Schnee und sie fror. Vielleicht war es die innerliche Kälte, die ihr zu schaffen machte. Ihre Gedanken wanderten zu Lisa und zu Dirk. Was für ein schreckliches Schicksal hatten die beiden Geschwister doch zu tragen! Annette konnte gar nicht anders, als ihr Auto wieder zum Friedhof zu lenken. Kurzerhand kaufte sie eine zweite rote Rose und besuchte ihre beste Freundin noch einmal. Sie stand vor ihr und hörte sich dabei laut sprechen. „Jetzt rede auch ich mit dir, wie deine Mutter. Ich war erst in Sorge gewesen, als ich erfuhr, wie sie sich ihre Welt mit dir aufgebaut hat. Und nun geht es mir nicht anders. Lisa, ich habe das Gefühl, du bist jetzt bei mir. Kann es wirklich sein, dass ich deine Seele höre? Ich liebe dich, Lisa und das wird nie aufhören.“ Annette begann zu weinen, aber ihre Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren. Sie hatte eben noch vor Schmerz und Kälte gezittert. Nun fühlte sie, wie Licht und Wärme sie einhüllten. Lisa war nicht tot. Ihr Körper und ihre Seele hatten sich nur voneinander getrennt. Annette war sich plötzlich sicher, dass es da draußen in der Welt etwas gab, das sie mit ihrem menschlichen Kleingeist nie würde fassen können, aber ihrem Herzen den richtigen Weg wies. Und es gab Menschen, wie sie und Lisa, deren Seele aus einem männlichen und einem weiblichen Teil bestand.
Die Natur hatte etliche Facetten des Lebens hervorgebracht. Tiere, die ihr Geschlecht wechselten, zwittrige Pflanzen, Homo- und Transsexualität. Das alles gehörte zur Schöpfung dazu, war ein Teil von ihr. Und niemand konnte daran vorbeigehen. Nimmt man als Urheber nicht die Evolution, sondern setzt dafür die Person Gottes ein, so muss dieser zwangsläufig diese unzähligen Varianten zugelassen haben. Etwas anderes war nicht möglich. Andere Betrachtungen machten keinen Sinn. Annettes Leben gestaltete sich nicht einfach, doch sie hatte eine Familie, die ihr half und sie verfügte über genügend finanzielle Mittel. Einen Teil dieses besonderen Geschenks würde sie mit ihrer Stiftung zurückgeben können, an Menschen, Schicksalsgefährten, die es nicht so gut getroffen hatten, wie sie selbst.

Als Annette am nächsten Abend mit dem Auto zum Falkensteiner Ufer fuhr, wo einst ihr Leben als biologischer Junge begonnen hatte, fühlte auch sie sich eins mit dem Universum, den tausenden Sternen, die auf sie herabfunkelnden und sie schickte ihre Liebe hinauf in den Himmel zu Gott und zu ihrer Freundin Lisa. Langsam wanderte sie die einsame menschenleere Uferpromenade entlang, genoss den frischen kühlen Wind auf ihrer Haut. „Ich werde bald stark genug sein, um mein Leben wieder in die eigenen Hände zu nehmen“, dachte sie und erschrak, als sie neben sich eine Männerstimme antworten hörte. „Das will ich bei einer so schönen Frau doch auch stark hoffen.“ Annette zuckte zusammen. Hatte sie versehentlich laut gesprochen? Anders konnte die Reaktion eines Fremden nicht zu deuten sein. Sie drehte sich abrupt um, blickte in zwei helle blaue Augen, und war gefangen, von der Tiefgründigkeit, welche sich vor ihr auftat. Der Mann musste um die fünfzig Jahre alt sein. Er war etwa so groß wie sie, vielleicht ein paar Zentimeter größer, trug einen braunen Wintermantel und einen etwas altmodischen Hut, wie Annette fand. Sie spürte im selben Moment etwas Warmes, Weiches an ihren Füßen herumknabbern und schaute unwillkürlich nach unten. Zwei dunkle treue Dackelaugen erwiderten ihren Blick.
Der Schwanz des Tieres bewegte sich hin und her, und signalisierte Freude und Wohlwollen. „Wer bist denn du?“ Spontan ging Annette in die Knie, hielt der kleinen schwarzen Schnauze ihre rechte Hand entgegen. „Wir sind Herr Müller und Herr Meyer. Meyer mit Y. Das bin ich. Herr Müller lebt eine Etage tiefer“, erklärte die menschliche Seite des bemerkenswerten Duos, das plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht war. Annette musste einfach laut los lachen. „Das finde ich jetzt aber gar nicht nett. Wissen Sie eigentlich, wie schwer man es in Deutschland mit dem Allerweltsnamen Meyer hat? Das Y ist wenigstens noch ein geringes Unterscheidungsmerkmal. Aber wie soll man in einer derartigen Situation seinen Hund nennen? Da passt doch nur Müller, und da es sich um einen Hundeherrn handelt, eben Herr Müller.“ Annette gluckste nach dieser Antwort noch mehr. Nun war das letzte Fünkchen Melancholie vollends von ihr gewichen. Das war alles zu komisch und zu grotesk, sie schwebte in eine andere Welt hinein. „Herr Meyer“, schmunzelnd streifte sie den rechten Handschuh ganz ab und gab ihrem menschlichen Gegenüber die Hand. Danach streckte sie dieselbe noch einmal Herrn Müller zu und schüttelte ausgiebig dessen Pfote. Annette kam aus dem Staunen nicht heraus, als auch der kleine Herr Müller, den sie als Rauhaardackel erkannte, ihr diese entgegenhielt. „Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, meine Herren. Ich bin Annette von Wichern.“ Herr Meyer nahm bei Annettes Worten den Hut ab und verbeugte sich leicht. „Es ist mir eine Ehre, mein Dame. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe zufällig ihre Worte vernommen und entnehme daraus, dass es Ihnen womöglich gesundheitlich nicht so gut geht. Darf ich, dürfen wir, Sie ein wenig begleiten?“ Annette lächelte. Warum nicht. Die beiden machten einen so lieben Eindruck und waren wirklich keine Gefahr. „Gerne. Ich bin noch nicht lange aus dem Krankenhaus zurück und muss mich etwas schonen. Kommen Sie öfter hierher?“ Herr Meyer nickte. „Von Wichern? Sind Sie mit dem Senator verwandt? Ich habe das kleine Haus am Ende des Falkensteiner Weges gekauft und bin damit so etwas wie ein Nachbar. Es liegt etwas zurückgesetzt. Ich bin Schriftsteller, wissen Sie und ich brauchte nach einem persönlichen Schicksalsschlag ein wenig Abgeschiedenheit, um in Ruhe meinen Roman beenden zu können.“
Sie gingen langsam weiter, genau beobachtet von Herrn Müller, der sich fragte, ob die nette Dame an der Seite seines Herrchens nicht vielleicht eine ebenso nette Rauhaardackeldame besaß. Aber dann wäre sie wohl nicht allein unterwegs gewesen. Herr Müller wandte sich wieder interessiert den Gerüchen am Wegesrand zu. Hier durfte er abends stets ohne die lästige Leine herumlaufen, in Gedanken die unzähligen Möwen, welche über seinen Kopf hinwegflogen und ihm unmissverständlich klarmachten, dass er sie nie würde fangen können, jagen. Natürlich auch die Zeitung lesen, denn vor ihm kamen natürlich etliche Hundeherren auf der Promenade vorbei, die an allen Ecken ihr Bein gehoben und somit ihren ureigenen Duft hinterlassen hatten. Herr Müller musste sich entscheiden: Möwe oder Markierung? Er senkte die Nase und sog den Geruch des anderen ein. Die Möwen ignorierte er.

„Das war mein Vater. Er starb vor kurzem und meine Mutter lebt jetzt in der Stadt. Ich bin zu ihr gezogen. Das Anwesen hier hat mein Bruder, der neue Firmeninhaber, mit seiner Familie übernommen“, entgegnete Annette. „Ich hatte ein fürchterliches Erlebnis zu bewältigen. Gleich zwei Todesfälle machen es einem nicht leicht, den Glauben zu bewahren“, meinte sie leise.
„Oder sie bringen ihn wieder zurück. Es kommt ganz auf die Betrachtung an. Mein Freund starb vor einem Jahr bei einem Autounfall. Wir hatten alles vorbereitet. In der folgenden Woche wollten wir heiraten, also, unsere Lebenspartnerschaft eintragen lassen. Die Gäste brauchte ich gar nicht auszuladen. Nur der Anlass war plötzlich ein anderer“, antwortete er. Annette blieb abrupt stehen.
„Ich möchte Sie gerne in die Arme nehmen. Denn mir ging es ähnlich“, sagte sie und ehe sie sich versahen, drückten sich zwei bis dato fremde Menschen fest aneinander, spürten die Kraft und den Halt, durch den jeweilig anderen.
„Mein Name ist Johannes. Momente wie dieser, geben mir meinen Glauben an Gott zurück. Ich bin sehr froh, dass wir uns getroffen haben.“ „Das war kein Zufall. Seine Wege sind oft etwas verworren, aber irgendwie auch wieder leicht verständlich“, Annette seufzte und lehnte sich noch einen Augenblick an die starke Schulter ihres Begleiters. Sie fröstelte. Er merkte es sofort. Herr Müller saß auf einem Rasenstück, um sich zu erleichtern. Nach getaner Arbeit warfen die kleinen stämmigen Dackelbeine Gras und Erde auf das Hundehäufchen. Johannes lächelte sanft, nahm eine Plastiktüte aus der Manteltasche und hielt eine kleine Schaufel in der Hand. Mit einer schnellen Drehung warf er die Hinterlassenschaft seines Hundes ins Gebüsch. „Es ist zu kalt für Sie. Wer aus dem Krankenhaus kommt, muss auf Erkältungen aufpassen. Mein Haus ist nicht weit. Darf ich Sie zu einer heißen Tasse Tee einladen?“ Ja, Annette verspürte bei dem Gedanken an etwas Warmes, Durst. „Gerne, aber ich möchte Sie nicht aufhalten.“ „Das tun Sie nicht. Sonst hätte ich Sie nicht gebeten.“
Zehn Minuten später saß Annette im Wohnzimmer eines sehr geschmackvoll eingerichteten Hauses, dem vielleicht die ordnende Hand einer Frau fehlte. Mit wenigen Griffen zündete der Hausherr den Kamin an, währenddessen sich Herr Müller in ein gemütliches Hundekörbchen neben dem Ofen zusammenrollte. In einer Ecke stand ein wuchtiger Schreibtisch aus Eichenholz, auf dem sich ein PC befand. Überall hingen afrikanische Masken und Felle an den Wänden. „Sind Sie Afrikafan?“, fragte sie. Statt der erwarteten Antwort gab der Wasserkocher in der Küche fünf schrille Töne von sich. „Einen Augenblick, ich muss nur den Tee aufbrühen“, hörte sie Johannes rufen. „Dann warten wir gerne, nicht wahr, Herr Müller? Sie haben aber ein schönes Bett!“ Der Dackel wedelte mit dem Schwanz, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. „Mein Freund kam aus Nigeria. Er war Arzt und studierte in Hamburg. Die Sachen sind alle von ihm. Wir waren aber nie in seiner Heimat. Aren erhielt hier Asyl, was er eigentlich nicht brauchte, denn er besaß eine Studienerlaubnis. In Nigeria steht auf Homosexualität die Todesstrafe. Ich kannte seine Familie, weil er einige Male Besuch von seinen Eltern und seiner Schwester bekommen hatte und die brachten uns die Geschenke mit. Sein Wagen kam im Februar letztes Jahr auf der A7 ins Schleudern, weil ihn ein anderer Fahrer geschnitten hatte. Es entstand ein schwerer Auffahrunfall, mit mehreren beteiligten Fahrzeugen. Aren war sofort tot.“ Johannes stellte die Teetassen auf den Tisch und die Kanne daneben. Mögen Sie Zucker und Sahne?“ „Nein, danke. Ich trinke ihn so. War ihr Freund farbig?“ Er nickte. „Ja, schwarz und schwul. Eine tolle Kombination im ehemaligen Nazideutschland. Unsere Beziehung war selbst in der Szene alles andere als unauffällig. Aber ich liebte ihn von ganzem Herzen. Er war ein wundervoller Mensch. Und er durfte nur sechsunddreißig Jahre alt werden. Ja, und ich bin fünfundfünfzig. Auch daran nahmen einige Leute hier Anstoß.“ Annette berührte sanft Johannes‘ Hand. „Wie lange waren sie zusammen?“ Er blickte ihr tief in die Augen und antwortete: „Fast vier Jahre.“ „Meine Freundin starb auch sehr jung, und ebenfalls im letzten Winter. Ihr eigener Bruder hatte sie auf die Bahnschienen geschubst. Uns gehörten nur ein paar Monate. Sie war Mann zu Frau transsexuell wie ich.“ Annette begann leise ihre Geschichte zu erzählen. Durch die kahlen Bäume konnte sie zur Elbe hinunter sehen. Die Lichter eines Ozeanriesen hoben sich deutlich aus der Dunkelheit ab. In ein paar Wochen würde der Frühling Einzug halten. Sie war nun eine Frau. Das neue Leben breitete sich vor ihr aus. Johannes schenkte Tee ein, als dieser lang genug gezogen hatte. Er hing wie gebannt an ihren Lippen. Seelenverwandtschaft lag über den beiden Menschen, die ein fast ähnliches Schicksal bewältigen mussten. Gott gab es und Gott nahm es. Warum er dies oder jenes tat oder unterließ, würde der Menschheit wohl auf ewig verborgen bleiben. Für Johannes und Annette bedeutete dieser Augenblick den Anfang und das Ende. Sie fühlten einander so vertraut, als wenn sie sich schon jahrzehntelang gekannt hatten. „Annette, darf ich Sie so nennen? Ich glaube jetzt auch, dass unsere Bekanntschaft nicht zufällig geschah. Es sollte so sein.“
„Ich denke, wir sollten obendrein gleich Du sagen. Vielleicht ist dies der Beginn einer neuen schönen Freundschaft. Und ich brauche gute Freunde, für meine Projekte“, meinte sie und berichtete von ihrer Stiftung. Johannes zeigte sich fasziniert und beeindruckt, bot seine Hilfe an. „Weißt du, auch wenn die Gesetze sich langsam zu mehr Gerechtigkeit ändern, so bedeutet das noch lange nicht, dass dies bei den Menschen in der Gesellschaft angekommen ist. Wir müssen viel Aufklärungsarbeit leisten. Und wenn Schwule heiraten dürfen, werden wir mit Sicherheit nicht aussterben oder es werden weniger Kinder geboren. Die Ehe zwischen Mann und Frau bleibt weiterhin bestehen und ich denke, dass die meisten Menschen heterosexuelle Beziehungen pflegen werden. Auch sind die wenigsten stockschwul. Der überwiegende Teil ist in der Ausrichtung bisexuell und es fehlt im Grunde an Gelegenheit, um diese Seite mal auszuleben.“ Annette nickte. „Aber es gibt die ewig gestrigen oder nur die, die beim Festhalten an alten Vorurteilen von ihren eigenen Unzulänglichkeiten ablenken wollen. Es ist diesen Menschen, die häufig sogar sehr gebildet sind, gar nicht bewusst, was sie anrichten und sich letzten Endes selbst damit antun. Es gibt doch wahrhaftig Wichtigeres auf der Welt. In allen Ländern muss Frieden herrschen, damit sich die Kinder dort sicher fühlen und sich entwickeln können. Es ist eine Schande, dass große reiche Nationen die Kinder in Afrika und anderswo verhungern lassen. Jedes Kind braucht zudem ärztliche Versorgung. Alle Menschen auf der Erde eine Krankenversicherung. Erst wenn Kinder satt, sicher und gesund sind, haben sie die Kraft in der Schule zu lernen und nur aus der riesigen Masse von kleinen Schülern kann ein neuer Einstein, eine neue Marie Curie wachsen. Wir können uns nicht erlauben, auf nur einen klugen Kopf zu verzichten. Unsere Herausforderung wird sein, die Erde vor Klimakatastrophen zu bewahren und sie zu beschützen, denn bis wir so weit sind, dass wir mit Raumschiffen ins Weltall starten können, wird es noch viele Jahre dauern. Wir brauchen also unsere Mutter Erde noch eine Weile. Meteoriten können und werden uns bedrohen und wir müssen Wege finden, die Erde vor solchen Gefahren zu schützen. Wir brauchen überall Stationen, die im Notfall bei Erdbeben oder dergleichen alle Gebiete auf der Erde erreichen können und den betroffenen Menschen zu helfen im Stande sind. Ach, Johannes, manchmal möchte ich die Politiker alle in einen Sack stecken und richtig durchprügeln. Die haben zum Teil noch eigene kleine Kinder und kümmern sich einen Dreck um deren Zukunft. Aber solange die Großen in der Welt ihren Hass auf andere Menschen und Nationen herausschreien dürfen, solange wird sich nichts ändern.“
Annette trank ihren Tee. Sie hatte sich in Rage geredet und war wütend. Johannes lächelte bewundernd. „Du solltest in die Politik gehen und erst einmal Demos veranstalten. Ich gehe ohne mit der Wimper zu zucken mit dir!“, erwiderte er, nicht ohne Stolz in der Stimme. Das war das Stichwort. „Ja, Johannes, packen wir es an. Gehen war das richtige Wort. Es ist schon spät. Ich danke dir ganz herzlich für den Tee. Morgen rufe ich dich an und dann spazieren wir wieder mit Herrn Müller über die Uferpromenade und machen einen Schlachtplan. Annette und Johannes für den Frieden, gegen Hunger, Diskriminierung und gegen alle Idioten dieser Welt.“ Er brachte sie zu ihrem Auto, gab ihr einen Kuss zum Abschied auf die Wange. Als Johannes Walter Meyer nach Hause ging, formte sich in seinem Kopf bereits das erste Kapitel eines neuen Romans. Es sollte eine ungewöhnliche Liebesgeschichte werden, zwischen einem schwulen Schriftsteller und einer transsexuellen Frau. Annette blieb die ganze Nacht in seinem Kopf. Herr Müller blickte einige Male irritiert zu seinem Herrchen, der mehr als sonst zu ihm sprach. Da musste etwas Besonderes geschehen sein, fühlte der kleine Hund und schlich sich irgendwann müde in sein Körbchen am warmen Kamin. Ob das alles nur ein Roman werden würde, oder nicht schon längst reale Züge angenommen hatte? , fragte sich Johannes, bevor auch ihm die Augen zufielen.

Annette spürte, wie ihr Herz jauchzte und sprang mit so viel Leichtigkeit aus dem Auto, wie nie zuvor in ihrem Leben. Hatte sie sich etwa verliebt? Oh, Johannes, wie kann das sein? Ich bin ja völlig verwirrt, fiel ihr auf. Sie warf die Autoschlüssel auf die Garderobe, zog singend ihren Mantel aus und weckte dadurch Magda, die beim Fernsehen auf dem Sofa eingeschlafen war. Die schrak hoch, blickte auf ihre Tochter, sah überrascht in deren Augen. Sie leuchteten hell und besaßen plötzlich einen seltsamen Glanz. Magda besaß reichlich Lebenserfahrung. Das bedeutete Liebe oder wenigstens eine geballte Verliebtheit. Auf der Stelle wurde sie hellwach. „Liebling, komm mal zu mir, hierher!“ Ihre Hand zeigte klopfend aufs Sofa. „Deiner alten Mutter kannst du nichts vormachen. Wie heißt er und wo habt ihr euch kennen gelernt?“ „Mama!“ Annette sperrte den Mund auf. „Kind, du strahlst wie ein Honigkuchenpferd. Das ist der Ausdruck von Verknallt sein. Also, ich höre und schenk uns mal zur Feier des Tages noch ein Gläschen Wein als Gutenachttrunk ein.“ Annette kicherte. Aber sie gehorchte, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und holte eine Flasche Rotwein aus der Küche. „Ach, Mama. Er ist wundervoll und er ist nicht allein. Er heißt Johannes Meyer mit Y, wohnt am Falkensteiner Weg in einem niedlichen kleinen Haus und ist Schriftsteller. Aber er lebt dort nicht allein. Herr Müller gehört auch dazu.“ Magda schaute fragend in ihr Glas Rotwein. Es war doch das erste heute. Betrunken konnte sie also nicht sein. Annette gluckste. „Herr Müller ist ein Rauhaardackel.“ Aha. Das klang beruhigend. Annette begann zu erzählen. Da hatten sich wohl die zwei richtigen Menschen kennengelernt. Beide würden sich in ihrem Schmerz unterstützen und Annette konnte die nette Abwechslung durch einen Herrn in ihrem Alter sicher gut gebrauchen. Magda seufzte zufrieden. Manchmal geschahen tatsächlich noch Wunder. Mutter und Tochter kuschelten sich an diesem Abend noch längere Zeit aneinander und genossen ihre Zweisamkeit.
Johannes! Annette schlug am neuen Morgen die Augen auf und ihre Lippen formten seinen Namen. Sie lächelte glücklich in sich hinein. Während die Stunden des letzten Abends in ihren Gedanken vorüberzogen, spürte sie ungeahnte Kräfte in sich aufsteigen. Der Tag fing gut an. Um zehn Uhr sollte sie eine der Frauen aus der Hamburger Selbsthilfegruppe treffen. Sie wollten mit einem befreundeten Anwalt über die geplante Stiftung und das weiter Procedere sprechen. Zu Beginn würde das Schwulen–und Lesbenzentrum Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Irgendwann wollte sie eine kleine Wohnung oder einen Laden mieten, wo sie ihre Hilfs- und Beratungstätigkeiten beginnen konnte. Solveig, ihre Freundin, half ihr mit Freuden. Transsexuelle Selbsthilfegruppen gab es inzwischen zwar in jeder größeren Stadt, doch die Betroffenen waren in der Regel aufeinander angewiesen, um sich auszutauschen. Ärzte und erfahrene Psychologen kamen selten zu den Treffen. Anwälte noch seltener. Annette hatte sich durch alle Gesetze gelesen und freute sich auf den Kollegen, der sich mit der Thematik auskannte und schon viele Frauen in Auseinandersetzungen gerade mit Krankenkassen beraten und vertreten hatte. „Guten Morgen, Mama“, begrüßte sie Magda, die plötzlich im Morgenmantel in der Küche stand. „Spiegel-, Rührei oder gekocht?“ Na, herrlich. Magda staunte. „Rührei mit Toast wäre nicht schlecht“, meinte sie schmunzelnd. „Ich koche schon mal Kaffee. Siehst du ihn heute Abend wieder?“ Annettes Lippen verzogen sich leicht. „Vielleicht“, meinte sie und wusste doch genau, dass ihre Antwort nur ein langes, lautes Jaaa sein konnte. Mutter und Tochter saßen einige Augenblicke später einträchtig beim Morgenkaffee. Sie unterhielten sich über den Termin mit dem Anwaltskollegen und Solveig. Um halb zehn Uhr konnte Annette losfahren.
Alle Gespräche verliefen zufriedenstellend. Mittags aß sie mit der Freundin in einem kleinen italienischen Lokal. Johannes geriet etwas ins Hintertreffen. Zuviel musste geplant und überlegt werden. Wie würde sich die Finanzierung gestalten? Gab es zusätzlich zu den Stiftungsgeldern Zuschüsse von der Stadt oder anderen öffentlichen Stellen? Wie groß sollten die Räumlichkeiten sein? Wen sollte man als ärztlichen und psychologischen Beistand bitten? Annette hatte bereits von ihrer Psychologin grünes Licht erhalten. Margit Littmann wollte gerne kommen, Vorträge halten und Fragen beantworten. Auch die beiden Gutachter, allen voran Gernot Reichert, freuten sich und boten ihre tatkräftige Unterstützung an. Endokrinologen, Urologen und Gynäkologen mussten gefunden werden. Logopädische Behandlungen gehörten wie die Epilation zum Spektrum eines Zentrums für Hilfesuchende dazu. Am späten Nachmittag trennten sich die beiden. Jede packte einen prall gefüllten Notizblock in ihre Tasche. Solveig drückte die Freundin fest. „Ach, Annette, du bist das Beste, das uns hier passieren konnte. Wie leicht werden es die Neuen haben, wenn sie erst unsere Hilfe in Anspruch nehmen können? Und sie haben es trotzdem noch schwer genug. Aber, wenn ich an früher denke, an die Probleme der Frauen damals und es mit heute vergleiche, sind wir jetzt doch dank des Internets schon sehr viel weiter.“ Annette erwiderte die Umarmung, hauchte der Freundin einen Kuss auf die Wangen. „Ich bin ganz schön geschafft. Aber du hast Recht, der Anfang ist gemacht und ich bin ziemlich stolz auf mich. Alles was ich tue, geschieht in Lisas Namen. Wir wollen dafür kämpfen, dass ein solches Unglück nie wieder passiert.“

„Wir treffen uns um sieben Uhr bei mir. Ich habe eine Überraschung“, stand auf ihrem Handydisplay. Solveig war gerade aus dem Lokal gegangen, als Annette die SMS erhielt. Unterschrieben mit J. Schnell beeilte sie sich, nach Hause zu kommen. Nicht, dass es ihrem Kleiderschrank schlecht ging, aber Annette stand heute Abend länger als sonst davor. Was sollte sie nur anziehen? Sie würden sicher noch mit Herrn Müller spazieren gehen., Es war Anfang März und noch ziemlich kühl. Sie beschloss ihre dicken Winterstiefel und den Wintermantel mitsamt Mütze und Handschuhe ins Auto zu legen. Vorsichtshalber zog sie das neue dunkelblaue Cocktailkleid an, das nicht zu gewagt war und trotzdem Eleganz ausstrahlte. Um halb sieben Uhr saß sie gestylt und dezent geschminkt im Auto. Ein Paket Leckerchen für Herrn Müller kaufte sie auf dem Weg zu Johannes im Supermarkt. Pünktlich klingelte sie an seiner Haustür. Er trug eine Küchenschürze, als er öffnete. Im Haus roch es nach Braten und Kerzen. Annettes Herz schlug heftig. Johannes küsste sie auf die Wangen, sie erwiderte und ließ sich von dem gemütlichen Ambiente gefangen nehmen. Er hatte den Esszimmertisch festlich gedeckt und entschuldigte sich. Annette genoss den Augenblick, wanderte im Zimmer umher, staunte, dass Herr Müller noch immer artig in seiner Kiste lag. Erwartungsvoll sahen die Dackelaugen zu dem neuen Frauchen hoch. „Darf ich Herrn Müller eine Kaustange geben? Ich hab sie gerade im Supermarkt gekauft?“, rief Annette in Richtung Küche. „Natürlich, aber er frisst nicht alles. Er ist ohnehin ein ganz besonderer Hund.“ „Das habe ich schon gemerkt. Normalerweise springen Hunde doch an die Tür, wenn‘s klingelt. Dieser hier bleibt liegen, als wenn ihn das alles gar nichts angeht“, entgegnete Annette, riss die Packung auf und nahm eine der unzähligen Hundebelohnungsstangen heraus. Herr Müller schien nun doch Interesse zu zeigen, erhob sich und wedelte schon mal vorsorglich mit dem Schwanz. Vorsichtig ließ er sich die Leckerei unter die Nase schieben, schleckte sich mit der Zunge einmal übers Maul und fraß sein unerwartetes Geschenk so schnell, dass Annette ungläubig und erstaunt den Kopf schüttelte. Hm. Lecker. Das schmeckte nach mehr. Herr Müller war nun hellwach geworden und wartete auf die nächste Stange. Zweimal hatte er noch Glück. Dann lachte Annette, streichelte ihm den Kopf und legte die Packung auf die Kommode. „Wir wollen ja nicht, dass du Bauchweh bekommst“, meinte sie. „Ich weiß nicht, wie viel so ein kleiner Hund fressen darf. Da muss ich erst dein Herrchen fragen.“ Herr Müller wedelte heftig mit dem Schwanz und wollte wohl damit ausdrücken, dass er noch eine ganze Menge mehr vertragen konnte. „Setz dich“, sagte Johannes und nahm die Flasche, die auf dem Tisch stand, in die Hand. „Soll ich dir nicht helfen?“ „Nein, du bist Gast. Ein Glas Rotwein darfst du trinken, oder du lässt das Auto stehen und fährst nachher mit dem Taxi nach Hause.“ „Nur ein Glas, bitte. Ich brauche das Auto morgen früh wieder.“ Johannes schenkte ein, lächelte. „Ich hoffe, du magst Lammbraten!“
„Ich esse eigentlich alles. Aber, wenn mich ein so schön gedeckter Tisch erwartet, und ein so netter Koch obendrein, wer kann da nein sagen?“, schmunzelte sie. „Das läuft runter wie Öl. Ich werde erst eine kleine Hochzeitssuppe servieren. Altes Holsteiner Rezept meiner Mutter!“, erhielt sie zur Antwort. „Auf den Erfolg deiner Stiftung.“ Er nahm sein Glas und stieß es sacht an das ihre. Die Frau neben ihm hielt inne. Konnte dies alles wahr sein? Saß sie wirklich in Hamburg, ganz nahe bei ihrem Elternhaus im Wohnzimmer eines Mannes, der es geschafft hatte, ihr Herz in einer an sich atemberaubenden Zeit zu gewinnen? Er löste Gefühle in Annette aus, die sie noch nie empfunden hatte, die sie zur selben Zeit verwirrten, aber in Euphorie ausbrechen ließen. Sie zog die Nase hoch. Es roch etwas komisch. „Johannes, kann da in der Küche…“ Er stürzte beim ersten Wort bereits zum Herd. Gerade noch rechtzeitig. Annette war ebenfalls aufgesprungen und eilte ihm nach, schlug die Hände vor den Mund, um nicht lachen zu müssen. Der Braten, den er aus dem Ofen zog, sah an einer Seite etwas dunkler aus, aber das konnte man noch wegschneiden, beruhigte sie sich gleich. „Uff, das kommt davon, wenn man sich zu sehr von weiblichem Liebreiz einnehmen lässt.“ „Ach, jetzt bin ich noch schuld daran? Du lädst mich ein, benimmst dich wenigstens wie ein Gentleman und bist nett zu mir, und weil du nicht gleichzeitig auf dein Lamm aufpassen und mit mir im Wohnzimmer Wein trinken kannst, bin ich an dem verbrannten Braten schuld. Das ist ja gut zu wissen und wird sich sehr positiv auf unsere künftige Beziehung auswirken.“ Annette prustete nun doch los. Sie versuchte ihrer Stimme einen gespielt vorwurfsvollen Klang zu geben, aber es wollte ihr nicht gelingen. Schnell nahm sie die Fleischplatte zur Hand und half ihm, die verkohlte Kruste zu entfernen. Den Rest der Mahlzeit bereiteten sie beide in der Küche zu und trugen es gemeinsam zum Tisch. „Es schmeckt ausgezeichnet. Du bist ein großartiger Koch“, lobte sie ihn, wenig später. „Ich habe auch schon Kochbücher geschrieben“, meinte er beiläufig und schmunzelte. Es war sein erstes Date mit einer Frau. Na herrlich, dachte er. Perfekt ist eigentlich etwas anderes, aber irgendwie doch nicht. So stellte sich der Komiker den Ausgang einer gelungenen Einladung zum Essen vor. Annette dachte gerade dasselbe. Aber sein Beruf interessierte sie nun doch sehr. „Was schreibst du und darf ich etwas davon lesen?“ „Natürlich, ich gebe dir nachher einige meiner Romane zur Auswahl. Du kannst sie alle mitnehmen. Es sind Liebesgeschichten. Allerdings Besondere, wie du dir denken kannst.“ Annette überlegte. „Du meinst, du schreibst schwule Liebesromane?“ Er nickte. Sie gestand sich die Bildungslücke sofort ein. Und gelobte Besserung. „Das interessiert mich sehr. Es ist ein Thema, mit dem ich mich noch nie befasst habe. Andererseits ist es eigentlich ein völlig normales Genre. Ob sich Mann und Frau oder zwei gleiche Geschlechter lieben, ist vollkommen egal. Am Ergebnis ändert sich nichts.“ Er schob sich ein Stück Fleisch in den Mund und wartete mit der Antwort, bis er gegessen hatte. „Das sehen leider nicht alle Zeitgenossen so. Und ob es eines Tages selbstverständlich ist, wenn sich gleichgeschlechtliche Paare in der Öffentlichkeit verliebt zeigen, das wage ich zu bezweifeln. Wir sind hier aber auf einem guten Weg und der Anfang ist gemacht. Vielleicht denken die Menschen in einigen hundert Jahren anders, wenn es nicht mehr darauf ankommt, welche sexuelle Ausrichtung jemand hat oder welche Hautfarbe. Ewig gestrige wird es sicher noch lange geben.“
„Wem sagst du das. Hast du ein Glas Mineralwasser für mich? Ich brauche das Auto morgen früh wirklich. Solveig und ich haben zwei wichtige Termine.“ Er stand auf und kam wenig später mit einer Wasserflasche zurück. Ihre Gespräche kreisten um die Stiftung und nach dem Essen bestand Annette darauf, dass Johannes ihr seine Romane zeigte. Sie war tief beeindruckt, denn was es hieß, ein Buch zu schreiben, hatte sie, während sie ihre Lebensbeschreibung fertigte, selbst erlebt. Sie nahm sich einen Roman und legte ihn zu ihrer Handtasche. „Das wird meine künftige Bettlektüre, dann kann ich mal zwischen den Pferdebüchern wechseln.“
Die Gesprächsthemen gingen den beiden an diesem Abend nicht aus. Irgendwann saß Johannes im Sofa und Annette kuschelte sich eng an ihn. Er nahm eines seiner Bücher und begann, mit warmer weicher Stimme daraus vorzulesen. Annette schloss, während sie ihm zuhörte, langsam die Augen. So könnte es immer sein, dachte sie. Wie herrlich und gemütlich. Als er merkte, dass sie eingeschlafen war, stand er vorsichtig auf, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und deckte sie zu. Er dämmte das Licht und legte sich selbst in den Fernsehsessel. Auch für ihn tat sich Neuland auf. Johannes hatte noch nie eine Beziehung zu einer Frau gehabt. Bereits im frühen Jugendalter verliebte er sich in andere Jungen und mit sechzehn Jahren schlief er das erste Mal mit einem Mann. Seitdem interessierte ihn das weibliche Geschlecht nicht mehr. Ob es mit einer Frau funktionierte? Er war sich nicht sicher. Ein kurzes Zittern und der Anflug einer Erektion, als er Annette am Tag zuvor in die Arme nahm, ließen ihn verwundert zurück und darüber nachdenken. Er wollte es unbedingt ausprobieren. Und Annette war der Typ Mensch, mit dem der ruhige und in sich gekehrte Autor etwas anfangen konnte. Sie war gebildet und kultiviert, besaß einen messerscharfen Verstand, interessierte sich für Kunst und Musik. Kurz, sie war der richtige Partner für ihn. Wenn es jetzt noch sexuell klappen sollte, wäre auch sein Glück perfekt. Johannes fühlte, wie ihn wieder eine Welle der Zuneigung und Zärtlichkeit erfasste, als er auf die schlafende Annette hinabblickte. Jedoch wollte die sexuelle Erregung nicht erneut aufkommen. Er sah wohl doch so etwas wie eine kleine Schwester in ihr. Langsam schlief er ein und erwachte durch kurze energische Bisse in seine Zehen. Draußen schien bereits die Sonne. Herr Müller war leicht beleidigt, denn er musste mal und niemand machte Anstalten ihn zur Tür zu bringen. Er bellte deshalb laut auf. Und weckte Annette. Die sprang noch vor Johannes aus dem Sofa und öffnete die Verandatür, so dass sich Herr Müller seufzend erleichtern konnte. Er nahm gleich den ersten Pfahl an der Terrasse dafür. „Guten Morgen, da sind wir wohl schlechte Hundeeltern gewesen“, meinte Johannes. Annette nickte. „Es war höchste Zeit.“ Apropos. Sie sah auf die Wohnzimmeruhr. „Gottseidank, es ist erst sieben Uhr. Dann können wir noch in Ruhe frühstücken, aber ich rufe Mutter kurz an. Oder besser, ich schicke ihr eine SMS, falls sie noch schläft. Nicht, dass sie sich Sorgen macht.“ Annette tippte auf ihr Handy. „Du bist eine ungezogene Tochter. Gehst mit einem fremden Mann mit und übernachtest einfach bei ihm“, schalt sie Johannes und schmunzelte dabei. „Du hast hoffentlich die Situation nicht ausgenutzt, oder?“ Er kicherte. „Ich muss gestehen, ich war nahe dran, dich ins Schlafzimmer zu tragen. “ Annette setzte sich nach seinen Worten zu ihm in den Fernsehsessel. „Bist du stockschwul oder regt sich da etwas, wenn ich an der richtigen Stelle anfasse?“ Johannes ließ es geschehen und atmete aus. Er versuchte sich zu konzentrieren. „Ich fürchte, wir werden Freunde bleiben müssen, denn du willst sicher nicht wieder als Junge leben?“ Annette schüttelte traurig den Kopf. Und merkte noch trauriger, dass sich wirklich nichts bei ihm rührte. „Das bedeutet, ich bin schon zu sehr Frau. Allerdings bin ich operiert und es sind nur noch wenige männliche Erkennungszeichen vorhanden. Meine Stimme ist etwas tief, dennoch hat mir meine Therapeutin erzählt, dass Frauenstimmen anders vibrieren als es bei Männern der Fall ist. Ach Johannes, ich hatte mir alles so schön vorgestellt. Ich wollte dich beglücken, oder auch umgekehrt. Nun wird doch nichts draus.“ Er küsste sie liebevoll auf die Stirn. „Wir können mal in ein Erotikgeschäft gehen und du suchst dir einen passenden Dildo zum Umschnallen aus. Das geht immer, auch wenn ich selbst nicht komme. Aber du weißt dann, wie es sich mit einem Mann anfühlt.“ „Das würdest du tun? Oh, Johannes, du bist wirklich der beste Freund, den ich habe. Wobei, so viele Freunde habe ich nicht. Autsch. Entschuldigen Sie, Herr Müller, natürlich sind Sie auch ein Freund.“ Der Dackel knabberte an Annettes Füßen, hatte aber etwas ganz anderes im Sinn. Er verspürte Hunger und sein Trinknapf war inzwischen leer geworden. Johannes verstand sofort und lief mit schlechtem Gewissen in die Küche. Ein paar Augenblicke später saß Herr Müller schmatzend vor seinem Frühstück. Für ihn schien die Welt wieder in Ordnung zu sein. Johannes stellte die Kaffeemaschine an und ging ins Bad. Annette deckte währenddessen den Tisch. Es war alles vorhanden und Toastbrot reichte ihr völlig. Das Handy meldete sich. „Alles okay, hoffe, du hattest eine schöne Nacht“, simste Magda. Annette schmunzelte. Ihre Träume von einer richtigen Beziehung konnten wohl nicht so verwirklicht werden, wie sie es sich vorgestellt hatte, aber sie war dankbar für Johannes‘ Bekanntschaft. Er würde ihr vielleicht sogar ein besserer Freund werden, als es eine echte Beziehung je könnte. Und was ist schon echt? fragte sie sich. Sex war lange nicht alles. Man musste sich verstehen und auf einer Wellenlänge sein. Das erschien ihr viel wichtiger. Die Idee mit dem Dildo war nicht schlecht. Sie könnten sie gleich umsetzen. Es gab einige gut ausgestattete einschlägige Geschäfte in Hamburg, vornehmlich in der Nähe der Reeperbahn. Dort sollte sie später mit Solveig an einem Treffen im Schwulen- und Lesben Café teilnehmen. Sie erzählte Johannes davon. Er wollte sie begleiten. Um halb zehn Uhr fuhr sie endlich nach Hause und zog sich um. Magdas Augen sahen sie fragend an. Annette erzählte ihr vom Essen, von Johannes und dem Dilemma mit seiner sexuellen Ausrichtung.
Kein Beinbruch, fand die Mutter. Da wären etliche andere Mittel und Wege möglich.
 



 
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