Der Narr

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schreibfuchs

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Die Atmosphäre im Thronsaal mit Sultan, Großwesir und Mukhtar und den gaffenden Zuschauern wie Ministern, Hofdamen, Lakaien und Sklaven schien zum Zerreisen gespannt und glich einem mächtigen Pulverfass, dessen Lunte bereits brannte oder einem schweren Gewitter, kurz bevor sich Donner und Blitz zu dem gefürchteten Blitzschlag vereinigen.

Der Narr, der bei seinen Standesgenossen, also bei dem Heer der Bediensten und Lakaien aller Dienste, uneingeschränktes Vertrauen genoss, war nicht nur Anführer der heimlichen Sklavengewerkschaft und begehrter aber pseudonymer Kolumnist der PALACE NEWS , sondern auch noch die erste Verbindungsperson zwischen Thron- und Lakaiensaal.

Den Großen Thronsaal muß man sich, einem Kolosseum gleich, als riesigen Rundbau vorstellen. Sein äußeres bestach aus Wänden scheinbar purem Goldes, mit königsblauen Ornamenten, verziert mit Brillanten und Edelsteinen, deren falsche Härte eher bunten Glasperlen, als Smaragde oder Rubinen glich, sowie majestätischen Minaretten, die an allen vier Himmelsrichtungen nadelgleich in die Himmelsbläue stießen. Das Innere des Thronsaales bestand aus einem einzigen Raum, der wie ein flachgedrückter Medizinball, den Großen Thronsaal, also das Herzstück des Sultanats, bildete. Was einem Betrachter und Uneingeweihten bei dem ellipsoide Gebilde aber nicht ansichtig wurde, und was sich hinter seinen reich verzierten Wänden verbarg, war ein dreistöckiges Dienstbotennetz, das sich um die gesamte Konstruktion zog und schlicht und ergreifend als Lakaiensaal bezeichnet wurde.

Die Gänge im Lakaiensaal glichen den finsteren Röhren eines Ameisenbaues, dessen Verläufe sich unsichtbar um den gesamten Thronsaal herum spannten und an zahlreichen Stellen miteinander verbunden waren. Die größte Ausweitung und -Dehnung in diesem Gangsystem hieß nicht etwa Kinderstube und gehörte den Ameisen für ihre Larvenpflege, sondern Bereitschaftszone und diente dem Gesinde des mittleren Dienstes der Vorbereitung ihrer Aufgaben.

Der mittlere Lakaiensaal war ebenerdig und genau so hoch wie der Thronsaal selbst und galt als direkte Verbindung zwischen Thronsaal, Küchentrakt und anderer Nebengelasse. Diese Räumlichkeiten waren so ausgeklügelt, dass das Gesinde für alle eingehenden Befehle schnell bereitstand. Es durften also nicht jene Verzögerungen auftreten, die einer langen Befehlskette in aller Regel zu Eigen sind. Der Lakaiensaal war ständig mit Servicekräfte, wie Küchenpersonal, Tafeldienstlern, Luftfächlern, Botengängern und Reinigungskräften angefüllt, da auf spontane Befehle, auch spontan reagiert werden musste. Ansonsten ruhte man in ausgehöhlten Vertiefungen im felsigen Gangwerk oder in winzigen Kammern, die mit grobschlächtigen Türen notdürftig verschlossen waren. Die Kammern bestachen in ihrer Schlichtheit und spartanischen Einrichtung mit ein oder zwei Holzpritschen, einem Schemel und einem irdenen Krug mit Wasser. Andere, mächtigere Vertiefungen und Aushöhlungen im Felsgestein auf der Peripherie zum mittleren Lakaiensaal, dienten als Wirtschaftsräume der einzelnen Gewerke.

Aber auch die Schöngeister, wie Sängern, Musikanten, Kunstmaler und Zauberern, kurz: das gesamte Entertainment befand sich noch im Bereich der mittleren Ebene, und lag, einem Refugium gleich, direkt hinter dem Thron des Sultans. Die Künstler bewohnten Kammern, die nicht so grobschlächtig, sondern etwas funktioneller und vorteilhafter eingerichtet waren. Dort warteten auch sie auf ihre Verwendung oder bereiteten sich mental oder aktiv auf ihre Auftritte vor.

Die Lakaien des gehobenen Dienstes, wie beispielsweise Palastärzte, Gelehrte und Philosophen, der Narr, die Amme Aischa, die Traumdeuterin Abida, Rambo El Khan und viele andere bedeutende Persönlichkeiten, bewohnten hingegen weit ausladende Gemächer im oberen Geschoß, das sich auf dem gesamten Areal der Gebäudegrundfläche, praktisch über den Köpfen der Regierenden erstreckte.

Die herrschaftlichen Wohnstätten von Sultan, Harem und Prinzessin lagen, weitestgehend von allem Trubel des Hofes hermetisch abgeriegelt, idyllisch mitten in einem Meer aus Blumen an einem künstlichen See mit Springbrunnen, in einem verspielten Miniaturpalast, der auch mittels eines unterirdischen Ganges, direkt mit dem Thronsaal verbunden war.

In der untersten Etage, den sogenannten Katakomben des Regierungspalastes, wohnten und arbeiteten die Vertreter des unteren oder niederen Dienstes. Hier schufteten die Wäscherinnen, Fleischer, Bäcker, Kürscher, Spengler, Zimmerer, Mauerer oder Sattler und Schneider sowie die Stallknechte, Mägde und viele andere ungenannte Dienerschaften. Auch dem niedern Dienst stand die gesamte Grundfläche des Gebäudes zur Verfügung, wobei die Stallungen wegen der Ausdunstungen des Viehs die vordersten Flächen belegten und die restliche Gewerke sich den verbleibenden kreisrunden Platz untereinander aufteilten mussten. Mächtige Stützpfeiler trugen dieses architektonische Meisterwerk auf Säulen, so dass zwischen ihnen hölzerne Verschläge errichtet werden konnten, die für den reibungslosen Ablauf aller Arbeiten sorgten. So befand sich unter dem mächtigen Rundbau ein wahres Labyrinth der Dienstleistungen, das nur von Insidern wie etwa den Aufsehern und Sklavenantreibern überwacht und quasi logistisch überblickt werden konnte. Unter dem Zentrum des Thronsaales, befand sich der sogenannte Feuerkopf, ein gewaltiges gusseisernes Gebilde mit mächtigen Blasebälgen, das immerzu auf kleiner Sparflamme, gleich einem jungen Drachen, verhalten vor sich hin fauchte. Kam in den Abend- und Nachtstunden der Befehl nach Wärme so verwandelte sich der kleine rasch in einen großen Drachen und blies, über raffinierte Züge und feuerfesten Wege, den Thronsaal kuschelig warm. Die einzelnen Etagen waren mit sogenannten schiefen Ebenen miteinander verbunden und sorgten für einen reibungslosen Ablauf aller Zubringer- und Transportdienste.

Es bestand zwar die Möglichkeit den gesamten Thronsaal, dessen geschätzter Kreisumfang 700 Mannesschritte betrug, per Pedes zu umrunden und ihn durch eine der zahlreichen Geheimtüren schnell zu erreichen, jedoch war dies keinem der Sklaven gestattet, denn jeder von ihnen musste an seinem Arbeitsort verbleiben und durfte ihn, unter Androhung von schwerer Strafe, nicht verlassen. Damit es unter dem Personal zu keinem Murren oder gar Revoltieren kommen konnte, befanden sich aller 10 Meter die sogenannten Bereitschaftsschächte (von den Sklaven als Falllöcher bezeichnet) mit hölzernen Rutschstangen, an denen die Wachen, zu jeder Zeit und Stunde und praktisch sofort an jeder Stelle, in den Lakaiensaal einfallen konnten, um mögliche Aufstände oder andere Ausbrüche im Keime zu ersticken. Der Exekutiv-Einstieg zu den Falllöchern befand sich auf Höhe der dritten Etage knapp vor den Gemächern der privilegierten Personen, endet auf dem Fuße der zweiten Etage, um nach einem schnellen Wechsel zur nächsten Stange auch sofort die Katakomben erreichen zu können. Die Stellungen der Wachen fanden sich kreisförmig um das Thronsaalgebäude ausgehoben und wurden befehligt von Rambo El Khan, einem ebenso waffenstarrenden wie schleimigen Befehlshaber aus dem fernen Reich der Mongolenfürsten! Khan war ein Mann, der niemandes Freund war, und nur dafür lebte dem Sultan ein ehrfürchtiger Vasall und seinen Wachen ein wahrhafter Teufel zu sein.

Noch während die ungeheuerlichen Begebenheiten im Thronsaal für heftige Debatten und erbitterte Verbalschlachten sorgten, versammelte der Narr alle dienstfreien Lakaien, um über die Vorgänge und möglichen Folgen beim Sultan zu berichten. Er informierte in kurzen und prägnanten Sätzen über Mukhtars heldenhaften Mut, beschrieb in eindrucksvollen Bildern die Einfältigkeit von Sultan und Großwesir und wies mahnend auf den alles entscheidenden Auftritt Murads hin, der ja noch ausstand und letztendlich Mukhtars Schicksal entscheiden sollte. Die Lakaien hingen an seinen Lippen, hielten den Atem an, lauschten bedächtig seinen Worten und machten sich Gedanken oder tauschten ihre Ängste, um dieses beispiellose Geschehen, aus. Der Narr erklärte mit großer Stimme und glühenden Augen:
„Es ist noch nicht entschieden, wie Mukhtars dreistes Spiel, das er wie die Maus gegen die Katze, wie David gegen Goliath oder wie Ohnmacht gegen Macht treibt, ausgehen wird? Der gesamte Hof ist in zwei Lager gespalten. So etwas gab es noch nie! Die einen sagen, dass es Mukhtar schließlich bis Dato geschafft habe noch immer seinen Kopf zu besitzen, und dass sie der felsenfesten Meinung sind, dass das auch so bleiben werde! Sie glauben einfach, dass der Sultan wahrhaftig um sein Wohl bedacht sei, weil er an ihm, Mukhtar einen Narren gefressen habe.“ Der Narr guckte bei dem Wort „Narren“ so verschmitzt, dass viele Lakaien heftig laut lachten mussten. Doch dann gebot er Schweigen und fuhr fort:
„Andere Gesinnungsgenossen Mukhtars behaupten, dass sein selbstsicheres Auftreten bei dem Sultan väterliche Gefühle wachgerufen habe, schließlich hätte ihn Allah nie einen Sohn als Thronnachfolger geschenkt!“
Jetzt lachte niemand mehr und alle waren erpicht, was sie von dem Narren noch erfahren würden. Dieser winkte sie mit vorgehaltener Hand näher zu sich und flüsterte mit angespannter Miene:
„Das waren diejenigen, die an Mukhtars Sieg glauben! Aber es gibt auch gegnerische Stimmen im Thronsaal die glauben, dass Mukhtars aberwitziges Spiel mit dem Sultan nun bald sein gerechtes und sicherlich auch jähes Ende finden werde, denn keiner könne so ein respektloses, sultanverachtendes Verhalten einen längeren Zeitpunkt überleben!“
Der Narr fügte noch den Satz an, auf den alle, gespannt wie die Flitzebogen, nur gewartet zu haben schienen:
„Mukhtar ist also der Mann der Stunde, er ist unser Mann, der die Dinge unbedingt zu seinem gerechten Ausgang führen muß!“ Und er fügte mit heißerer und enthusiastischer Stimme nach: „Und unsere Sklavengewerkschaft sicherlich unterstützen wird!“
Der Narr hatte geendet. Er hörte vereinzelt verhaltene aber entschlossene Kampfschreie, blickte in Runde und sah viele hoffnungsfrohe, aber auch viele verstörte Gesichter. Er senkte den Kopf und fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Lippen, hob den Kopf und erklärte entschlossen:
„Es ist schon sonderbar mit diesem Mukhtar! Keiner kann sich dieses Phänomen erklären, niemand kennt Vergleichbares! Niemand wagt eine echte Prognose abzugeben, vielleicht zu mutmaßen oder gar diesen oder jenen Ausgang zu verkünden! Ich weiß auch nicht, was geschieht? Wer weiß: Vielleicht sind wir, jetzt gerade in diesem Augenblick, Zeugen! Zeugen, die sehen, wie Geschichte geschrieben wird? Geschichte, die nicht nur den Denkprozess des Sultans positiv beeinflussen, sondern vielleicht sogar eine Zeitenwende herbeiführen könnte?“

Und in der Tat: In der Zeit, in der der Narr über die sonderbaren Vorgänge bei Hofe sprach standen sich diese beiden Lager, nicht nur bis aufs Äußerst gespannt, sondern auch in der höchsten Wettform aller Zeiten, lauernd gegenüber. Die Fronten hatten sich, nach den letzten Worten des Sultans und noch vor dem Erscheinen Murads, immer weiter verhärtet! Die Emotionen gingen hoch, denn zu ungeheuerlich und zu unglaublich waren die Begebenheiten, die sich seid Mukhtars Erscheinen am Hofe des Sultans abgespielt hatten.

In diesem allgemeinen Durcheinander, hatte die Traumdeuterin Abida, die sich heimlich unter das Palastvolk gemischt hatte, nicht nur einen kühlen und berechnenden Kopf bewahrt, sondern auch besonders gute Geschäfte gewittert. So stellte sie sich, im allgemeinen Tumult, als neutrale Person zwischen die Lager, rief mit großer Stimme ein Wettbüro aus und kanalisierte geschickt die Emotionen und Aufregungen beider Parteien, die es natürlich nicht versäumen durften, ihre felsenfesten Meinungen mit außerordentlichen Wetteinlagen, sprich im puren Gold, bei Abida anzulegen! Bald lasen sich die Wetteinsätze beider Blöcke, deren beträchtliche Kapitalien nun, bei der unparteiischen Traumdeuterin, auf Mehrung warteten, wie das Who as Who eines Barometers einer großen Inlandsbörse und jeder hoffte, mit einer guten Rendite aus der Wette groß herauszukommen…

Des Sultans Worte waren noch nicht ganz verklungen, da erschien Murad, mit einem wahren Stab an Ärzten, Trainern und Assistenten, aber dennoch in seiner flapsigen Art, vor dem Throne des Sultans. Der Sultan hatte Mukhtar bedeutet, sich nun von seinem Stuhle zu erheben, um seinen Wettkampfgegner Murad besser einschätzen zu können. Murad warf sich ohne ein Wort zu sagen sofort zu den Füßen des Sultans nieder. Der deutete ihn großzügig an sich zu erheben. Dann schaute er, so als sei Murad gar nicht anwesend, durch den Thronsaal, senkte den Blick auf seine Hände und besah sich seine zahlreichen Brillantringe. Er drehte, hauchte, polierte leidenschaftlich an ihnen herum und rief salopp, wie beiläufig:
„Nun, Murad sagt an, zu welcher Mahlzeit wollt ihr diesen Zwerg zu eurer Rechten hier verspeisen?“
Murad, der solche Auftritte vor seinem Sultan und Brötchengeber überhaupt nicht liebte, bekam plötzlich Kuhaugen, die, über den kleinen Mukhtar hinweg, direkt zu dem Sultan glotzten:
„Großmächtiger Herrscher aller Gläubigen und Ungläubigen gepriesen sei Allah und gepriesen sei euer Name oh, du oberster Hüter des wahren Glaubens, ich weiß nicht, was Hoheit von mir wollen. Ich weiß nur, dass es der Koran verbietet, ich meine: Das Menschenfressen!“
Der Sultan griff sich an den Kopf, verdrehte die Augen und rief laut und ungehalten:
„Oh, du hirnrissiger Sohn einer ägyptischen Haremsdame und eines osmanischen Plattfüßlers. Stellt meine Geduld nicht zu sehr auf die Probe:
Er beugte sich nach vorn und deutete Murad an, es ihm gleichzutun und flüsterte entnervt:
„Wir meinten: Wann wollt ihr gegen diesen Zwerg, der da gleich neben euch steht, antreten, rennen, flitzen oder eure Fitnessrunden drehen, hä?“
Zuerst gab sich Murad unwissend! Er schaute nach unten, erblickte den kleinen Mukhtar, erschrak theatralisch unecht, lachte dann höhnisch und rief siegessicher:
„Oh du Herrscher über alle Gläubigen und Ungläubigen ich werde diesen buckligen Winzling noch vor dem Frühstück fordern und besiegen, damit ich während meines Frühstücks seiner Hinrichtung beiwohnen kann.“
„Na das ist doch mal ein Wort!“, freute sich der Sultan über die Antwort, nickte väterlich, tippte Murad auf die Schulter, stand auf und verließ mit einem feinen Lächeln den Thronsaal...
 



 
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