Der neue Freund

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ThomasQu

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Der neue Freund

Sabrina war Mitte dreißig und Sachbearbeiterin bei einer Versicherung. Sie sehnte sich nach einer Beziehung zu einem netten Mann, nach Liebe, Geborgenheit und Sex.
Wenn es mal einen Anlass gab, ging sie abends mit Kollegen aus, ansonsten blieb sie in ihrer freien Zeit zu Hause, machte es sich auf dem Sofa bequem, riss eine Tüte Chips auf und schaltete den Fernseher ein. Nicht verwunderlich, dass ihr der morgendliche Schritt auf die Waage schwerfiel. Ihr Mülleimer war vollgestopft mit Konfekt-, Eis- und Schokoladenverpackungen und all das hinterließ auf ihren Hüften Spuren.

Jetzt ergab es sich, dass Sabrinas Nachbarin, immerhin 78 Jahre alt, einen Schlaganfall erlitt und in ein Pflegeheim musste. Sabrina nahm deren Katze bei sich auf und das Appartement neben ihr stand erstmal leer.

Vier Wochen später, an einem Freitagnachmittag, klingelte es an Sabrinas Tür. Ein großer, gepflegter Mann mit einem Blumenstrauß stand vor ihrer Wohnung.
„Gestatten, Pierre van Meullendonk. Ich bin ihr neuer Nachbar und vor drei Tagen eingezogen.“
Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie Worte fand und sich ebenfalls vorstellte. „M… möchten Sie nicht auf einen Sprung herein kommen?“
„Leider, ich bin jetzt ganz in Eile, aber wenn sie morgen Abend Zeit hätten? Kommen Sie doch einfach auf ein Glas Wein, dann können wir uns ein bisschen kennenlernen.“
„Ja … gerne, warum nicht?“
„Passt es Ihnen um halb acht?“
„Halb acht? Ja … halb acht ist gut.“
Mit einer kleinen Verbeugung verabschiedete er sich und stieg in den Lift.
Sabrina schloss die Wohnungstüre und musste erst einmal durchatmen. War das jetzt real? Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. So ein toller Mann und sie hatte eine Verabredung mit ihm!

Den ganzen Samstag über war Sabrina kribbelig. Schon eine Stunde vorher stand sie im Bad, duschte ewig und gab sich allergrößte Mühe für ihr Make-up.
Endlich war es so weit. Mit einer guten Flasche Sekt als Mitbringsel klingelte sie an seiner Tür.
Pierre öffnete und führte sie in seine Wohnung. Er zog ihren Stuhl etwas zurück, Sabrina nahm Platz und die beiden ließen die Gläser klingen.

Er stellte sich als Unternehmensberater vor, der die Wohnung nur für gelegentliche Übernachtungen benutzte. Dieses Wochenende wäre er noch hier, aber schon Montag früh müsse er für mehrere Tage verreisen.
Sabrina war von seiner Ausstrahlung und seinem Charme beeindruckt. Pierre erzählte einige Anekdoten aus seinem Leben, das Kerzenlicht und der schwere Wein sorgte für entspannte Stimmung. Aus dem “Sie“ wurde ein “Du“ und die zweite Flasche erledigte den Rest. Pierre war ein zärtlicher und einfühlsamer Liebhaber.
Bis weit nach Mitternacht blieben sie zusammen, dann huschte Sabrina notdürftig bekleidet über den Hausflur in ihre Wohnung.
Sie warf sich auf ihr Bett und die Schmetterlinge in ihrem Bauch wirbelten wie verrückt.

Für Sonntagnachmittag waren sie gleich wieder verabredet. Im Stadtpark fand eine “Klassik Open Air“ Veranstaltung statt. Pierre hatte zwar keine Karten, kannte aber den Dirigenten.
Unter einem Pavillon war eine Bühne für das Orchester aufgebaut, gegenüber Stuhlreihen für die Upperclass der Stadt. Sabrina und Pierre setzten sich wie selbstverständlich in die erste Reihe und der Dirigent begrüßte sie beide per Handschlag.
Nach dem Konzert aßen sie in einem noblen Restaurant zu Abend und verabschiedeten sich danach im Hausflur. Er musste am nächsten Tag früh raus, bis Mittwochabend wollte er zurück sein.
Sabrina schloss die Türe hinter sich, schaltete das Radio ein und tanzte durch ihre Wohnung. Immer wieder ließ sie den letzten Tag Revue passieren, der ihr Leben so verändert hatte, das alles war für sie unfassbar.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich ausgeruht und frisch. Beim Ankleiden im Badezimmer fiel ihr auf, dass ihr die Kleidung, die sie gewöhnlich im Büro trug, plötzlich viel zu weit war. Tatsächlich, sie hatte über das Wochenende mehr als drei Kilo abgenommen. Wie war das möglich?
Überhaupt, ihr Haar wirkte voll, der Teint makellos, die Haut straff, als wäre sie um Jahre jünger geworden. Sie wühlte in ihrem Schrank nach Anziehsachen, die sie schon seit langem abgelegt hatte, die passten plötzlich wieder. Was so eine neue Liebe ausmachte …

„Bestimmt hat der zu Hause Frau und Kinder und in jeder Stadt sein Liebchen“, meinte Iris, die sich in Sachen Männer eine gehörige Portion Skepsis zugelegt hatte. Sie war frisch geschieden und arbeitete am Schreibtisch nebenan.
„Das ist mir egal, solange ich ihn habe, wenn er hier ist.“
Die Arbeit ging Sabrina wie Butter von der Hand und im Nu war Feierabend, auch der nächste Tag verlief ähnlich. Sie strotzte vor Energie.
Abends lag vor ihrer Tür ein großer Blumenstrauß, den ein Bote gebracht haben musste. Auf dem beigefügten Kärtchen war zu lesen, “Mittwoch, halb acht bei mir?“
Wenn das so weitergeht, gehen mir bald die Vasen aus, dachte sie lachend und stellte ihn neben dem anderen auf die Anrichte.

Endlich, Mittwoch, halb acht. Sie hielten sich nicht lange auf und landeten gleich in seinem Bett.
Eine Stunde später, als sich die Gemüter etwas beruhigt hatten, kuschelte sich Sabrina in seine Arme und ihre Glückshormone schwappten fast über.
Sie verbrachten die ganze Nacht zusammen. Er musste am Donnerstag erst um elf Uhr los und wollte zum Wochenende wieder zurück sein. Ohne ihn zu wecken schlich sich Sabrina früh morgens hinüber in ihre Wohnung, machte sich frisch und ging zur Arbeit.

Ab Freitagnachmittag war es erst einmal vorbei mit Rückenwind. Sie hatte Kopfweh, leichtes Fieber, ihre Gelenke schmerzten und sie fühlte sich insgesamt elend. Das blieb auch noch am Samstag so. Als Pierre nachmittags bei ihr klingelte, öffnete sie im Morgenmantel.
„Was ist denn los, bist du krank?“
„Es scheint so“, antwortete sie betrübt und legte sich wieder hin. Er saß an der Bettkante und hielt ihre Hand. „Ich habe für morgen Abend zwei Musicalkarten, ’Hair’, ich hoffe, es geht dir dann schon besser.“
„Das hoffe ich auch, das wäre wunderschön.“
Bis Mittag wurde es nicht besser und bis zum Abend schon gar nicht. Sie musste schweren Herzens absagen.

Am Montagmorgen meldete sie sich krank und ging zum Arzt. Der konnte zwar nichts feststellen, schrieb sie trotzdem für eine Woche arbeitsunfähig. Sie solle sich schonen und dreimal täglich die Vitamintabletten nehmen, die er ihr verschrieb.
Zwei Tage später war Pierre zurück, der zwischenzeitlich seinen Geschäften nachgegangen war. Leider gab es noch immer keine Besserung. „Hör mal, Schatz, ich kenne da einen Heiler, der könnte dir sicherlich helfen.“
„Einen Heiler?“
„Ja, er ist zwar, sagen wir mal, ein bisschen ungewöhnlich, aber ein Versuch könnte ja nicht schaden. Wenn du möchtest, fahren wir jetzt noch bei ihm vorbei.“
„Wie? Jetzt noch? Es ist schon nach sieben.“
„Er praktiziert erst nach Sonnenuntergang. Ich sagte ja, er ist ein bisschen ungewöhnlich.“

Die beiden machten sich in seinem Jaguar auf den Weg und landeten nach einer wahren Irrfahrt ein Stück außerhalb der Stadt vor einer Industrieruine.
„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Sabrina verunsichert.
„Klar, ich lasse mich doch auch von ihm behandeln.“
Der Trampelpfad, der um das halbverfallene Gebäude führte, war in der Dämmerung kaum auszumachen.
Sie stiegen eine Treppe hinunter und bogen rechts ab in ein feuchtes Kellergewölbe. Sabrina hatte sich bei ihm eingehakt, weil ihr das Gehen schwerfiel. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, ein seltsames Umfeld für einen Heiler! An einer der vielen Türen klopfte Pierre an.
„Es ist offen!“, schallte es heraus.

Der Raum war fensterlos, durch Kerzen matt beleuchtet und vollgestopft mit unzähligen Fläschchen, Ampullen, einem Totenkopf, alten Büchern und ausgestopften Tieren. Sabrina wusste gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte. Am liebsten wäre sie gleich rückwärts wieder hinausgegangen, so mulmig war ihr zumute.
Gegenüber an der Wand saß ein Mann, dessen Alter unmöglich abzuschätzen war. Er konnte fünfunddreißig, genauso fünfundsiebzig Jahre alt sein. Fettige Strähnen fielen ihm über die Schultern und sein Vollbart verbarg fast sein ganzes Gesicht. Die Kleidung war ihm viel zu groß und an mehreren Stellen dilettantisch geflickt. Sabrina konnte seinem stechenden Blick kaum standhalten.

Der Heiler ignorierte Pierre völlig und richtete das Wort sogleich an Sabrina. „So, dir geht es also nicht sehr gut.“
„Nein, leider nicht.“
Ohne sich nach Art und Weise der Beschwerden zu erkundigen, ergriff er ein Schnapsglas und füllte es zur Hälfte mit einer zähen, farblosen Flüssigkeit.
„Wenn du es willst, werde ich dich behandeln. Als Gegenleistung erwarte ich kein Geld, ich möchte den zehnten Teil deines ICH´s. Bist du damit einverstanden?“
Im Hintergrund nickte Pierre auffordernd, um ihr das “ja“ zu erleichtern.
„J… ja!“
Der Heiler stand auf, holte ein dunkles Fläschchen aus dem Regal und gab einen einzigen Tropfen davon in das Schnapsglas hinzu. Augenblicklich verfärbte sich der Inhalt honiggelb. „Dann trink!“
Sabrina zögerte, doch dann überwand sie sich und stürzte den Inhalt hinunter.
Die Tinktur war ohne Geschmack, wie Wasser!
„Ihr könnt jetzt gehen“, sagte der Heiler, legte ein dickes Buch auf den Tisch und widmete sich, ohne noch einmal aufzublicken, seinen Studien.
Nachdem sie die Treppe hochgestiegen waren, atmeten sie erst einmal die frische Luft ein.
„Puh, so etwas habe ich auch noch nicht erlebt“, meinte Sabrina, „ganz schön unheimlich! Wo hast du den denn aufgetan?“
„Das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich dir ein andermal.“
„Schauerlich, ich hab´ schon gedacht, mir fällt das Glas aus der Hand. Und das soll ein Heiler sein?“
„Warte ab.“

Daheim angekommen, verabschiedeten sie sich vor ihren Wohnungstüren und er versprach, am nächsten Vormittag bei ihr vorbeizuschauen.
In der Nacht schlief Sabrina schlecht, geplagt von wirren Albträumen, aber als sie erwachte, hatte sie das Gefühl, als könne sie Bäume ausreißen. All ihre Beschwerden waren wie weggeblasen.
Am Vormittag zeigte sich Pierre erfreut über die plötzliche Genesung. „Ich mache dir einen Vorschlag. Ich habe ein paar Tage Zeit. Wir nehmen heute Abend die Linienmaschine nach Rom, ich habe dort eine kleine Unterkunft. Wir könnten uns die Stadt anschauen, ein bisschen shoppen und Sonntagabend wären wir wieder zu Hause.“
Wer könnte da schon nein sagen, jedenfalls nicht Sabrina. Innerlich vollführte sie einen Luftsprung. Ein Wochenende in Rom, mit Pierre, irre!
Die Katze landete kurzerhand bei ihrer Mutter und nachmittags wartete das Taxi vor der Tür.

Das Appartement war gediegen im mediterranen Stil eingerichtet. Sie stellten nur das Reisegepäck ab und spazierten gleich los. Die Nacht war mild und die Luft würzig. In einem feinen Restaurant in der Nähe des Tibers aßen sie auf der Terrasse. Sabrina liebte die italienische Küche und das Essen war köstlich.
Zu Hause, nachdem sie die Aktivitäten im Schlafzimmer abgeschlossen hatten, planten sie für den nächsten Tag eine Sightseeing-Tour in Verbindung mit einem Einkaufsbummel. Ausgelassen schlenderten sie durch die Stadt und Pierre, der übrigens perfekt italienisch sprach, schleppte die Tüten.
Der Samstag war einem Ausflug an den Lago de Bolsena vorbehalten, hundert Kilometer nördlich von Rom. In der Tiefgarage stand dafür ein nagelneues Cabriolet zur Verfügung. Kleine, kurvenreiche Straßen führten rund um den See. Das Wetter war herrlich. Sabrina genoss die Fahrt und trug den italienischen Chic, den sie am Vortag eingekauft hatten.
Phantastisch! So könnte das Leben ewig weitergehen.
Abends ließen sie sich in einem sehr edlen Strandrestaurant bei Kerzenlicht verwöhnen.

Bedauerlicherweise startete die Maschine schon am Sonntagmittag. Sie bummelten noch ein wenig durch die Straßen, genossen die Sonne und tranken Kaffee, für mehr blieb leider keine Zeit. In Deutschland stand der Winter vor der Tür und hier hatten sie noch mal 25 Grad und blauen Himmel. Sabrina verkniff sich die Ansichtskarte für Iris, schließlich war sie die Woche zuvor krank und nicht in der Arbeit gewesen.
Am Abend verabschiedeten sie sich im Hausgang voneinander. Sein Flieger startete schon um halb sieben und auch Sabrina musste ins Büro. Bestimmt war aus der vergangenen Woche eine Menge liegen geblieben.
Dem war auch so und Sabrina stürzte sich in ihre Arbeit. Iris guckte ganz komisch und sagte: „Du siehst aber nicht sehr leidend aus!“ Mit einem Lächeln überging Sabrina diese Bemerkung. Anscheinend hatte sie etwas zu viel Sonne erwischt.
Zwei Tage später war der Stoß auf ihrem Schreibtisch abgearbeitet. Sie fühlte sich großartig und Iris staunte nicht schlecht über ihre Motivation.
Nach Feierabend kam der Rückfall. Sabrinas ganzer Körper schmerzte und sie konnte die Nacht über kaum schlafen. Der Arzt verschrieb stärkere Medikamente und riet ihr, in Zukunft ein bisschen weniger zu arbeiten. Sie erhielt eine Krankschreibung bis zum Wochenende.
Die Schmerzmittel halfen leider gar nicht. Abends erschien dann endlich Pierre und sie beschlossen, noch einmal den Heiler aufzusuchen.

Alles war wie beim ersten Mal und wieder forderte der für die Behandlung den zehnten Teil des ICH´s, den ihm Sabrina gewährte. Jetzt träufelte er zwei Tropfen in das Glas mit der seltsamen Flüssigkeit.
In der Nacht darauf wurde sie erneut von schweren Albträumen geschüttelt. Das Gesicht ihrer innig geliebten und viel zu früh verstorbenen Großmutter erschien ihr, wie unter Wasser. Die Wellen verzerrten ihr Antlitz und ließen es verschwimmen, aber ihre Stimme war deutlich zu vernehmen:

Sabrina … halte dich fern … rette dich … rette dich …

Als Sabrina erwachte, fühlte sie sich wieder ausgeruht, schmerzfrei und fit, und dennoch, irgendetwas war anders. Der Traum hing ihr schwer in den Knochen.
Ach was, der zehnte Teil des ICH´s, was soll das schon sein?
Sabrina war eine Versicherungsfachfrau und solche Menschen denken rational. Etwas, das sich nicht mit einer bestimmten Geldsumme definieren ließ, das konnte es auch nicht geben. Ihre neue Liebe wollte sie sich nicht kaputt machen lassen und von sich selber schon gar nicht.
Gegen Nachmittag ging sie mit Pierre auf die Pferderennbahn. Sie hatten Plätze ganz nahe an der Ziellinie. Es gab mehrere Vorläufe und einen Hauptlauf. Sabrina setzte eine kleinere Summe auf irgendeine Startnummer, und wen wundert es noch? Das Pferd war krasser Außenseiter und gewann. Sie bekam das Fünfzigfache ihres Einsatzes ausbezahlt. Dennoch hielt sich ihre Freude in Grenzen. Es war der Traum, den sie nicht abschütteln konnte.

Sonntagmittag musste Pierre aufbrechen und verabschiedete sich mit einer zärtlichen Umarmung von ihr. Sabrina blieb den Rest des Tages in ihrer Wohnung, spielte mit der Katze und dachte über Pierre nach. Ein paar Sachen fand sie schon seltsam an ihm.
Wie konnte es sein, dass jemand in seiner Position kein Laptop und kein Handy besaß, jedenfalls hatte sie noch nichts dergleichen bei ihm gesehen.
Sie hatte auch noch nie bemerkt, dass er mal einkaufen musste, oder saubermachen, waschen, bügeln … Alles war immerzu perfekt, was gebraucht wurde, war da und Geldmittel anscheinend ohne Ende. Na ja, bestimmt gab es dafür eine logische Erklärung, danach fragen wollte sie ihn nicht.

Montagmorgen, Iris hatte eine Woche Urlaub und Sabrina erledigte deren Arbeit gleich mit, zu dem, was sich seit Mittwoch auf ihrem eigenen Schreibtisch angesammelt hatte und was zusätzlich noch anfiel. Das schaffte sie problemlos, alles gelang und abends war sie nicht mal sonderlich müde.
Pünktlich zum Wochenende trudelte Pierre ein und den Freitagabend verbrachten sie zusammen in seinem Bett.
Leider erfolgte Samstagfrüh schon wieder ein Zusammenbruch. Bis zum Abend musste Sabrina aushalten, dann fuhren sie zu dem Heiler. Schon seltsam, dachte sie sich, nachdem sie ihre Tinktur mit den drei Tropfen eingenommen hatte, der hat Pierre noch nicht eines einzigen Blickes gewürdigt, das ist doch komisch. Jetzt hatte sie ihm schon dreimal den zehnten Teil ihres ICH´s versprochen und ein Ende war nicht in Sicht. Der Flow hält jedes Mal gerade eine Woche, dann kommt der nächste Rückfall. Wie sollte das eigentlich weitergehen, vor allem, wenn sie kein ICH mehr besaß? Hatte sie vielleicht am Ende Teile ihrer Seele verkauft? Ein Gruselschauer lief ihr über den Rücken. Aber hallo! Wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert! So etwas gibt es doch gar nicht!

Auf dem Rückweg redete ihr Pierre gut zu, der ihre sorgenvolle Mine bemerkte. Sie bräuchte einfach ein wenig Geduld und die Behandlung würde doch gut anschlagen, schlimmstenfalls müsse sie eben das eine oder andere Mal wiederholt werden.
„Und was, wenn ich kein ICH mehr habe?“, jammerte Sabrina.
„Ach, lass´ dich doch von so einem Spinner nicht ins Bockshorn jagen“, meinte er etwas belustigt und sie wurde wieder ruhiger. Er war der Ansicht, sie solle die Nacht alleine bei sich zu Hause verbringen, um sich mal richtig auszuruhen. Sie hatte eine stressige Woche hinter sich und bräuchte einfach etwas Erholung.
In ihrer Wohnung angekommen, genehmigte sie sich noch einen Schlummertrunk und ging zeitig zu Bett.
Wieder erschien ihre Oma im Traum. Ihr Abbild war kaum richtig zu erkennen, weil ständig Nebelfetzen vor ihrem Gesicht vorbeizogen, ihre Stimme aber war klar und deutlich:

Sabrina … hüte dich … er ist ein Dämon … hüte dich … hüte dich …

Schlagartig war sie wach und ihr Herz hämmerte. Draußen war es noch dunkel. Sie stand auf, zog sich an, packte ihren Rucksack und verließ die Wohnung. Jetzt wollte sie endlich klaren Kopf bekommen. War sie in großer Gefahr, oder nur hysterisch?
Sabrina nahm die erste Straßenbahn und fuhr Richtung Stadtrand bis zur Endstation. Von dort gingen Wanderwege in alle Richtungen ab. Sie wollte laufen, am besten bis zur Erschöpfung.
Als viel später der Waldweg in eine Landstraße mündete, erblickte sie ein Hinweisschild zu einem nahen Gasthof. Langsam wurden ihr die Beine schwer und sie entschied sich, dort einzukehren und zu rasten. Ein einziges Auto stand auf dem Parkplatz, ein eleganter, silberner Jaguar.
Sabrina erschrak. Aber halt, der hat ein anderes Kennzeichen! Ich glaube, ich werde wirklich langsam verrückt.

Erfrischt und gestärkt durch eine deftige Brotzeit erblickte sie auf der anderen Straßenseite eine Bushaltestelle. Zweimal musste sie umsteigen und nach einer Stunde war sie wieder daheim.
Nicht lange, und Pierre klingelte an ihrer Türe. „Sabrina, wo warst du denn, ich habe mir schon Sorgen gemacht.“
„Tut mir leid, Pierre. Ich bin heute ganz früh raus und war wandern. Ich wollte einfach einen klaren Kopf bekommen. Das war ganz spontan.“
Er umarmte sie. „Du Dummerchen, du musst dir doch keine Sorgen machen.“
Die Wanderung hatte ihr bei der Wahrheitsfindung nicht geholfen, doch jetzt fasste sie wieder etwas Vertrauen.
Er musste am Montag, wie schon so oft, sehr früh los und kündigte seine Rückkehr für den Freitagabend an.

Im Büro litt Iris unter Jetlag und war hocherfreut, dass Sabrina in der Woche zuvor die ganze Arbeit für sie mit erledigt hatte. Sabrina fragte sich, was sie wohl bei einem neuerlichen Rückfall tun sollte, wenn Pierre einmal nicht bei ihr war. Diese Krisen wurden von Mal zu Mal schlimmer. Ob sie dann wohl den Weg zu dem Heiler finden würde? Die Strecke dorthin war ja so verzwickt. Die andere Frage war, ob sie den Mut hätte, alleine hinunter in diesen Keller zu gehen?
Dienstag nach Feierabend war sie bei ihrem Friseur angemeldet. Gelangweilt blätterte sie in einem Magazin, bis sie an der Reihe war.
Eine halbe Stunde später war das Werk vollendet und Sabrina betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Spontan entschied sie sich, mal probehalber den Weg bis zu dem Heiler abzufahren. Im Falle eines Anfalls musste das ja auch gelingen.
Aber so schwierig war das gar nicht. Erst fuhr sie auf die Ausfallstraße, dann ein paar Mal links und rechts, durch das kleine Wäldchen und schon sah sie das Industriegebäude vor sich. Inzwischen war es dunkel geworden.
Sie rollte noch ein Stück die Straße entlang, um weiter hinten bequemer wenden zu können, als plötzlich ein Scheinwerferpaar in ihrem Rückspiegel auftauchte. Der Wagen hielt genau vor dem Eisentor, durch das sie selbst schon mehrmals mir Pierre gegangen war.
Als sie auf dem Rückweg an dieselbe Stelle kam, erkannte sie Pierres Jaguar. „Nanu, ich dachte, der wäre geschäftlich unterwegs?“ Ein paar Meter weiter erspähte sie eine Nische in der Mauer, die die Industriebrache umgab, da hinein parkte sie ihren Kleinwagen, da war er in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen.
Nach wenigen Minuten kam Pierre zusammen mit einer Frau heraus. Sie stiegen ein und brausten los.

Sabrina fühlte sich, als würde ihr jemand langsam den Hals zudrehen, nur mit Mühe konnte sie sich etwas beruhigen.
Der hatte noch eine Andere, die er auch in diesen grauenvollen Keller hinunterschleppte.
Wieder dachte sie an den letzten Traum mit ihrer Großmutter. Ein Dämon! Jeglicher Optimismus und alle Zuversicht waren verflogen. Mit zittrigen Händen drehte sie den Zündschlüssel und startete ihren Wagen.
Zuhause versuchte sie, telefonisch ihren Pfarrer zu erreichen. Eine Kirchgängerin war sie nicht, aber immerhin katholisch. Es gelang ihr, für den nächsten Tag nach Feierabend einen Gesprächstermin mit ihm zu vereinbaren.
Im Pfarrhaus saß ihr ein junger Mann in Jeans und T-Shirt gegenüber. Er trug Pferdeschwanz, Nickelbrille und wirkte nicht wie ein Geistlicher, eher wie ein Streetworker.
Schon während sie ihm von den Erlebnissen im Keller und den Träumen von der Oma erzählte, bemerkte sie die Skepsis in seinem Gesicht.
In der katholischen Kirche sei die Existenz von Dämonen und ähnlichen Geisterwesen sehr umstritten, meinte er. Er selbst halte solcherlei Unwesen bestenfalls für Erfindungen aus dem Mittelalter. Sie sei wahrscheinlich einem Scharlatan aufgesessen und solle froh sein, wenn sie noch keine finanziellen Einbußen zu beklagen hätte. Selbstverständlich aber würde er ihren Bericht protokollieren und an seinen Bischof weiterleiten.

Sabrina musste sich eingestehen, dass sie keinen einzigen handfesten Beweis hatte. Träume von der Oma waren ein bisschen dünn und wenn schon der Pfarrer die Existenz von Dämonen absprach … Trotzdem, ein flauer Magen blieb.
Am besten ging es ihr noch im Büro. Die Arbeit lenkte sie ab und sie kam auf andere Gedanken.
So vergingen Donnerstag und Freitag. Gegen Abend hatte Pierre die Rückkehr von seiner angeblichen Geschäftsreise angekündigt, und richtig, um halb neun klingelte es an ihrer Wohnungstür.
Gut gelaunt trat er ein und umarmte sie sogleich. Sabrina versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und log ihm vor, sie hätte ihre Tage. Sie tranken ein Glas Wein, danach zog er sich zurück. Für das Wochenende hatten die beiden noch nichts geplant. Da das Wetter wieder etwas besser wurde, unternahmen sie ausgiebige Spaziergänge und besuchten den Zoo. Insgeheim erwartete Sabrina ihren nächsten Anfall.

Am Montag auf dem Heimweg vom Büro war es dann so weit. Sie war schon in der Tiefgarage, als sie plötzlich von unerträglichen Krämpfen gepeinigt wurde. Mit Mühe erreichte sie den Lift, fuhr hoch in ihre Etage und schleppte sich in ihre Wohnung.
Kurze Zeit später erschien Pierre und zeigte sich sehr besorgt. Eineinhalb Stunden musste Sabrina noch ausharren, denn der Heiler praktizierte ja erst nach Sonnenuntergang. Als es dämmerte, fuhren sie los.
Sabrina schaffte es nur mit großer Anstrengung in den Keller. Inzwischen war schon der vierte Teil ihres ICH´s fällig. Wieder war sie einverstanden, was sollte sie denn tun.
Ganz langsam verbesserte sich ihr Zustand nach der Einnahme und die beiden begaben sich auf den Heimweg.
Sabrina ging zu Bett und erwartete ihren Albtraum. Der kam, auch dieses Mal erschien ihr die Großmutter. Sie war jetzt ganz klar zu erkennen und sah genauso aus, wie Sabrina sie als zehnjähriges Mädchen in Erinnerung hatte. Beschwörend hob die Oma ihre Hände und machte ein fast schon verzweifeltes Gesicht:

Sabrina … Sabrina … Der fünfte Tropfen wird dein Untergang sein … Dann besitzt er die Hälfte von dir und er ist stärker als du … Dann bist du ihm verfallen … verfallen …

Immer kleiner und unschärfer wurde ihr Bild, immer leiser die Stimme.

Als Sabrina erwachte, stand ihr kalter Schweiß auf der Stirn und sie empfand lähmende Angst. Eigentlich hatte sie gedacht, dass das Spielchen bis zum zehnten Tropfen ging, aber klar, die Hälfte reicht. Sie glaubte einfach nicht daran, dass irgendein Arzt ihr helfen könne, wenn die Schmerzen wieder losgingen und die würden kommen, mit Sicherheit!
Noch eine Woche hatte sie Gnadenfrist, danach blieben ihr zwei Möglichkeiten: Entweder sie riskierte es und nahm die Gabe mit den fünf Tropfen ein, oder sie rettete ihre Seele dadurch, dass sie vom Balkon sprang. Das konnte sie sich jetzt bis zum nächsten Anfall überlegen.
Sabrina beschloss, heute nicht ins Büro zu gehen, es war ja sowieso schon egal. Sie vertrödelte den Morgen, versank in Agonie und hing übelsten Gedanken nach, doch plötzlich durchzuckte es sie. Dieses Magazin, kürzlich bei ihrem Friseur! Da stand doch irgendetwas darin, was sie damals achtlos überblättert hatte.

In Windeseile zog sie sich an und fuhr hin. Der Salon hatte soeben geöffnet. Der übliche Flow war da und alles lief wie am Schnürchen. Sie trat ein. Auf dem Tisch mit den Zeitschriften lag es ganz oben. „Guten Morgen, darf ich mir das mal ausborgen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff sie das Heft und eilte zu ihrem Wagen. Hastig blätterte sie, bis sie den Artikel fand.
Es ging um Robert Mahoma, einem Meister, der in Accra, der Hauptstadt Ghanas, eine lokale Berühmtheit war. Ein Magier, der sich in der Beseitigung von okkulten Besitzergreifungen, Besessenheit, bösen Geistern und ähnlichen Unannehmlichkeiten verstand und sich darin einen Namen gemacht hatte. War der ihre letzte Chance?
Sie rief sofort am Flughafen an. Am Abend sollte eine Maschine der Maroc Air starten, Flugdauer dreizehn Stunden. Als nächstes fuhr sie zur Bank und hob Dreitausend Euro von ihrem Konto ab.
Zuhause packte sie eine kleine Tasche mit allem, was sie dort zu brauchen glaubte und jetzt hieß es nur noch: Warten, bis es endlich soweit war.

Pünktlich, morgens um neun Uhr landete das Flugzeug auf Kotoka, dem internationalen Verkehrsflughafen von Accra. Als alle Formalitäten erledigt waren und sie dem Ausgang zustrebte, wurde sie sogleich von fliegenden Händlern, Kofferträgern und anderen Dienstleistern bestürmt. Sabrina benötigte ein Taxi, aber auch das war unmittelbar zur Hand. Sie steckte dem Fahrer einen Hunderteuroschein in die Brusttasche seines Hemdes. „Please, take me to Robert Mahoma.“
Er hielt ihr die Beifahrertür auf, sie stieg ein und die Fahrt ging los.

Nach einer guten Stunde hielt das Taxi an.
„Please wait for a moment“, meinte der Fahrer und stieg aus. Er lief direkt in das Elendsviertel hinein. Nach fünfzehn Minuten kam er zurück und öffnete ihr die Autotür. „Please come.“
Sie schritt ihm nach. Der Boden war vom letzten Regen matschig und nach kurzer Zeit zogen sie eine Traube an Kindern hinter sich her. Vor einer windschiefen Sperrholztüre blieb der Fahrer stehen. „Here you must go in. I wait for you.”
Sabrina klopfte und trat ein. Innen sah es gar nicht mehr schlimm aus. Der Fußboden war mit Teppichen ausgelegt und eine ältere Frau kam herbei, bückte sich und half ihr, die Schuhe auszuziehen. Dann geleitete sie Sabrina in einen Nebenraum. In dem saß ein alter Mann im Lendenschurz auf einem Kissen. Er hatte wache Augen und ein verschmitztes Gesicht.
„You are Robert Mahoma? Please help me“, sagte sie mit vibrierender Stimme.
Er deutete ihr mit einer Geste an, ihm gegenüber auf dem Fußboden Platz zu nehmen. „So, dann erzähle mir mal alles ganz in Ruhe.“
Sabrina brauchte zwei Sekunden, bis sie es begriff. Der sprach akzentfrei Deutsch!
„Ich habe als junger Mann fünf Jahre in Deutschland studiert“, meinte er schmunzelnd. „Nun sag´, was führt dich zu mir?“

Sabrina fasste sofort Vertrauen und berichtete alles von Anfang an. Mehr und mehr umspielte ein wissendes Lächeln die Lippen des klugen Mannes. „So, van Meullendonk heißt der, hihihi. Du kannst wirklich froh sein, dass du so eine taffe Oma hast.“
Sabrina entkrampfte sich zusehends.
„Dann will ich dir mal die Zusammenhänge erklären: Der im Keller ist der Dämon und der ist ein gefährlicher Bursche. Vor ihm musst du dich hüten. Ich weiß zwar nicht genau, wie er heißt, aber ich kenne ihn. Er kann allerdings nicht so ohne weiteres aus seinem Keller heraus und er hasst Tageslicht. Diesen sauberen van Meullendonk brauchst du nicht zu fürchten, der ist nur sein Knecht. Er hat die Aufgabe, ihm die Seelen zuzuführen. Deine Oma hatte recht, sobald er die Hälfte deines ICH´s hat, ist es um dich geschehen, dann gehörst du ihm, aber das konntest du ja gerade noch mal abwenden.“
„Und wie soll es jetzt weitergehen?“ fragte Sabrina und tupfte sich einige Tränen aus den Augenwinkeln.
„Als erstes müssen wir den Fluch brechen, der auf dir liegt.“ Er klatschte zweimal in die Hände und sofort erschien die ältere Frau, die Sabrina beim Schuhe ausziehen behilflich war.
Der Meister gab ihr eine kurze Anweisung und sie brachte ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit, das mit einem blechernen Schraubdeckel verschlossen war. Allerlei Pflanzenteile schwammen darin herum. „Davon trinkst du die Hälfte heute Abend und die andere Hälfte morgen früh. Dann wirst du keine Schmerzen mehr bekommen. Dieser van Meullendonk wird natürlich weiter versuchen, dich in den Keller zu locken. Das darf auf keinen Fall geschehen. Vor dem kannst du dich auch nicht verstecken, der findet dich überall, selbst in einem Iglu auf dem Nordpol.“
„Und was kann ich denn dagegen tun?“
„Dabei kann dir niemand helfen, das musst du selber schaffen, aber ich erkläre dir, wie.“ Er klatschte erneut in die Hände und die Frau brachte einen Stoffbeutel, in dem sich ein weißes Amulett aus Ton mit einem seltsamen Symbol darauf befand. „Das musst du ihm auf die nackte Haut drücken. Dann wirst du sehen, was passiert, hihihi. Er wird dich danach nicht mehr belästigen und auch die andere Frau, die du gesehen hast, wird erlöst sein. Bedenke, er ist kein Mensch, er wurde nur von dem Dämon erschaffen.“

Damit war die Beratung zu Ende. Der Meister verrechnete Zwanzig Euro für seine Dienste und gab ihr einen Zettel mit einer Bankverbindung.
„Ist das denn nicht viel zu wenig?“, wollte Sabrina wissen und Tränen der Erleichterung rannen ihr über das Gesicht.
„Eigentlich nicht, aber alles, was du darüber hinaus überweisen möchtest, kommt einem Hilfsprojekt zugute, das zu Gunsten der Kinder in diesem Slum gegründet wurde.“
Er begleitete sie hinaus und nannte dem noch immer wartenden Taxifahrer ein Hotel, in dem sie sich einquartieren sollte.
Jetzt stand nur noch die Auseinandersetzung mit Pierre bevor und davor war ihr bange. Wahrscheinlich hatte sie noch drei Tage Zeit, ab dann musste sie jede Minute mit ihm rechnen und sie malte sie sich die scheußlichsten Szenarien aus: Zum Beispiel ein Gerangel mit ihm, oder das Amulett fällt herunter und zerbricht … Das alles durfte auf keinen Fall passieren!
Zu lesen hatte sie nichts, aber im Fernsehen gab es einen englischsprachigen Nachrichtensender. Der musste als Zerstreuung genügen, bis zu dem Moment X.

Der Mittwoch war vorüber, der Donnerstag ging vorbei und auch der Freitag. Langsam wurde es ernst. Sie saß im Sessel, vor sich in Griffweite das Amulett. Jedes Mal, wenn der Boy kam, klopfte und das Essen brachte, lagen ihre Nerven blank.
Was eigentlich, wenn der Trank nicht wirkt und diese furchtbaren Schmerzen wieder einsetzten, oder wenn Pierre nach einer Woche immer noch nicht aufgetaucht war?
Vielleicht hatte der Pfarrer doch Recht, dass es gar keine Dämonen gäbe und der echte Scharlatan hieß am Ende Robert Mahoma? Das wollte sie sich gar nicht ausmalen. Sie hatte jetzt alles auf diese Karte gesetzt.

Am Samstag passierte nichts und inzwischen war es schon Sonntagmittag. Es klopfte. Wie jedes Mal nahm sie das Amulett in die linke Hand und öffnete die Tür. Der Boy kam herein, nahm alles Geschirr mit und gerade, als er wieder hinausgehen wollte, drängte sich van Meullendonk an ihm vorbei und stand im Zimmer.
Er schloss die Türe hinter sich. „Sabrina, was sind denn das für Sachen?“ fragte er milde vorwurfsvoll. „Was willst du denn hier machen, wenn wieder ein Anfall kommt? Ich habe einen Privatjet gechartert, in einer halben Stunde können wir schon in der Luft sein.“ Langsam ging er auf sie zu.
Sabrinas Herz schlug wie der Hammer einer Dampfschmiede. Schritt für Schritt wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Zimmerwand stieß.
„Ja, Pierre - du hast recht - ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht“, stammelte sie. Gedankenfetzen rasten ihr durch den Kopf. Ging es jetzt um Leben und Tod? Oder vielleicht noch um viel mehr?
Nun stand Pierre schon ganz nah. „Komm, sei doch vernünftig, unten wartet das Taxi auf uns.“
Gerade, als er sie an die Schulter fassen wollte, nahm sie seine rechte Hand und presste ihm mit der Linken das Amulett auf den Unterarm.
Er zuckte nur kurz. Für Sekunden war ein eigentümliches Zischen zu hören. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze und plötzlich zerfiel seine ganze Gestalt zu Staub, der sich vor ihren Füßen zu einem Häufchen ansammelte. Mittendrin das Amulett, jetzt pechschwarz und rissig.

Sabrina stand noch minutenlang bewegungslos auf der Stelle. Ihr Blick ging starr ins Leere. Schließlich wurde ihr Atem ruhiger und es schien, als würde sie erst jetzt alles begreifen. Bevor sie Pierre kennenlernte, hätte sie nie an die Existenz von Dämonen geglaubt.
Nun kam langsam etwas Bewegung in ihren Körper. Sie ging zum Tisch, packte ihre Sachen in die Tasche, zog den Reißverschluss zu und verließ das Zimmer.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Thomas, na da hast Du Dir ja wieder was einfallen lassen....Diesmal gehts vom charmanten Van M. bis nach Afrika zum Magier......Ich gebe 4 Sterne für die tolle Erzählweise und die Sprache. Diese lange Geschichte, gespickt mit all den Details...Und ich habe sie in fünfzehn Minuten runtergelesen. Das will für mich schon was heissen.
Flüssig, schön geschrieben, angenehm zu lesen.
Drei Sterne gebe ich für die Story, da sie meiner Meinung nach nichts neues ist. Und zwei Sterne für das Ende. Nach dieser endlosen langen Geschichte, die keinesfalls langweilig war, hatte ich ein etwas originelleres, oder gar unerwartetes Ende erwartet.
Am Ende verstand ich nicht wieso Van M. plötzlich in Afrika auftaucht. Denn sie wer ja im Hotel. Oder habe ich irgendetwas übersehen?
Das könnte sein. Lese und schreibe im Augenblick auf dem Handy, was sehr anstrengend ist, weil mein PC im Eimer ist. Deshalb auch die Kürze.
Mit Gruss, Ji
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Jirina, hallo Seize,
zuerst mal vielen Dank für die großzügige Sternchenvergabe.

Jirina, wie schön, dass du dich wieder in der Lupe tummelst.
In der Geschichte geht es mir in erster Linie darum, den Konflikt aufzuzeigen, den Sabrina mit sich selbst austrägt. Gefühl gegen Verstand.
Warum hätte van Meullendonk am Ende nicht in dem Hotel auftauchen sollen? Sein Job ist es, Sabrina so oft wie möglich in den Keller zu locken.
Ich finde die Idee übrigens prima, Sternchen für verschiedene Teilaspekte einer Geschichte zu verteilen. Gab´s ja früher bei Neobooks auch schon. Ein bis fünf Sternchen für die Idee und ein bis fünf Sternchen für die sprachliche Ausarbeitung hatten die damals, wenn ich mich richtig erinnere.
Da könnte man vielleicht mal darüber nachdenken.

Viele Grüße,

Thomas
 



 
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