Der Patientenflüsterer

4,50 Stern(e) 2 Bewertungen

rubber sole

Mitglied
Als Hypochonder hört man nicht nur permanent in sich hinein, man hört auch sonst das sprichwörtliche Gras wachsen. Statt für seine Hypersensibilität bewundert zu werden, wird solch ein Mensch häufig voreilig und unzutreffend als neurotischer Spinner abgetan. Allerdings gibt es darunter welche, deren stark ausgeprägte Sensorik anderen Menschen zunutze sein kann. Von denen bin ich einer. Im Laufe meiner Lebensjahrzehnte habe ich sie alle gehabt, alle die gängigen Krankheiten und Seuchen, sowie jene körperlichen Unwuchten, die gerade en vogue sind. Natürlich litt ich stets nur in meiner Einbildung, rein symptomatisch, denn laut ärztlicher Einschätzung bin ich kerngesund, körperlich jedenfalls.

Mein Leben sollte sich jedoch grundlegend ändern. Im Anschluss an eine Routineuntersuchung erhalte ich die Diagnose eines nicht heilbaren Tumors. Entsetzten macht sich in mir breit, und, fast genauso gravierend für mich war, dass dies der erste Krankheitszustand sein könnte, von dem ich vorab nichts gespürt hätte. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Aber statt in Verzweiflung, stürze ich mich lustbetont ins Leben, komplett ohne Symptome und auch sonst quicklebendig. Ich bringe es in dieser Lage fertig, den ärztlichen Befund ganz einfach auszublenden und beschließe, nicht zu leiden. Und dann kommt's. Nach einigen Wochen erhalte ich die Nachricht, dass die Ergebnisse der Untersuchung durch eine Verwechslung in der radiologischen Administration fälschlicherweise meinen Patientendaten zugeordnet wurden. Große Erleichterung bei mir. Allerdings bedeutet dies, irgendein bedauernswerter Mensch läuft seitdem mit dem irrigen Glauben durchs Leben, kerngesund zu sein, oder auch nicht mehr, weil er bereits an seinem Tumor gestorben ist. Dieser Aspekt bedrückt mich zutiefst, ich falle in eine Sinnkrise, in deren Verlauf ich irgendwann an mir feststelle, wochenlang keinerlei Krankheitssymptome mehr verspürt zu haben, sehr ungewöhnlich für mich. Ich bin offensichtlich durch einen Schrecken der besonderen Art geheilt worden, bin kein Hypochonder mehr, was noch ungewöhnlicher erscheint. Aber um welchen Preis? Das Schicksal des unglücklichen Menschen mit der Diagnose meines Originalzustands verfolgt mich massiv. In mir erwacht nun der dringliche Wunsch, anderen Menschen in gesundheitlichen Krisen beizustehen. Und so suche ich zu diesen Zweck Örtlichkeiten mit einer hohen Dichte an kranken Menschen auf.

Die folgenden Monate und Jahre sehen mich als vermeintlichen Patienten in Wartezimmern diverser Arztpraxen und Ambulanzen. Ich verbringe dort viele Stunden, ohne ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen, ich bin ja gesund. Außer meinem überwundenen Hypochonder-Status habe ich in diesen Situationen, oberflächlich betrachtet, nicht viel medizinisch Verwertbares aufzuweisen. Und so nähere ich mich, anfangs zögerlich, dann immer zielorientierter, den anderen dort Wartenden, besonders denen, die mit ihren Leiden erkennbar zu hadern scheinen, mit einem Anliegen der besonderen Art. Ich werde zu einem Patientenflüsterer, ein verständnisvoller Zeitgenosse, der sich seinen Klienten empathisch widmet. Ich bringe viel in meine Näherungen ein. All die verarbeiteten Erfahrungen mit Symptomen und Diagnosen aus meinem Leben in den Phasen diverser eingebildeter Leiden schaffen eine vertrauensvolle Gesprächsbasis. Ich erreiche auf diese Weise erstaunlich viele gesprächsoffene Menschen. Dies kommt gut an bei den meisten Kranken und Ratsuchenden, denn ich plaudere nicht einfach belanglos drauflos, sondern ich höre auch zu, und zwar anhaltend zugewandt, dabei immer sehr geduldig.

Auf die Dauer bleibt meine Beratungstätigkeit vom medizinischen Personal nicht unentdeckt, was zur Folge hat, dass mich einige von ihnen ihrer Räumlichkeiten verweisen; zusätzlich werde ich als Spinner verunglimpft. Diejenigen unter den Ärzten und Helfern, die meine Vorgehensweise genauer betrachten, stellen irgendwann erfreut fest, dass manch ihrer Patienten, also meinen Klienten, durch mein Einwirken vielfach Ängste genommen werden, sie weniger Nervosität zeigen, und anschließend viel entkrampfter und besser informiert in die Behandlung gehen. Ich weiß es genau, ich wurde anfänglich oftmals nur geduldet, blieb aber beharrlich bei meiner Mission. Und der Erfolg gibt mir recht, ich werde im Laufe der Zeit immer häufiger wertgeschätzt, mein Wirken als Patientenflüsterer hat einen nachhaltig positiven Einfluss auf die Stimmung in vielen Arztpraxen meiner Heimatstadt.
 

Aniella

Mitglied
Hallo @rubber sole,

diese Geschichte zeigt sehr eindringlich, wie man aus einem vermeintlichen Manko eine Tugend machen kann, wenn man es nur versucht. Vermutlich hat sich der Protaginist nicht nur selbst geholfen, sondern auch wirklich und wahrhaftig diesen kranken Menschen. Das würde sicher auch funktionieren ohne Manko und ohne die Beschränkung auf Arztpraxen, wenn man seinen Mitmenschen empatisch und mitfühlend und zuhörend begegnen würde.
Bezüglich der Zeitenwahl bin ich mir nicht sicher, ob sie einheitlich richtig gewählt ist und nicht doch schwankt. Eigentlich im Präsens, dann aber auch Perfekt, wieder woanders Konjunktiv, kann es aber nicht richtig greifen. Vielleicht kann dabei ein anderer helfen.
Insgesamt jedoch:
Gefällt mir!

LG Aniella
 

Tonmaler

Mitglied
Hallo! Zunächst: Die Idee, die in diesem Text zum Vorschein kommt, finde ich originell und passend. Denn, selbst mit viel Krankenhauserfahrung ausgestattet, muss ich sagen: Das ist es, was fehlt. Und dabei ist das doch für Heilung mitentscheidend: Dass jemand mit den Kranken redet. Anteilnahme zeigt. Ängste nimmt, Hoffnung gibt. Dafür ist keine Zeit mehr. Sie reden über dich, nicht mit dir. Du bist als Werkmaterial wichtig, aber ansonsten störst du die Abläufe.

Geschrieben finde ich es allerdings ein wenig sperrig.
Von denen bin ich einer.
Ich bin einer von jenen?

Teilweise schwer zu lesen wegen einiger Verschachtelungen.

Statt für seine Hypersensibilität bewundert zu werden, wird solch ein Mensch häufig voreilig und unzutreffend als neurotischer Spinner abgetan. Allerdings gibt es darunter welche, deren stark ausgeprägte Sensorik anderen Menschen zunutze sein kann.
Da seh ich nicht den Widerspruch, denn der Autor stellt fest, dass diese Menschen unzutreffend neurotisch genannt werden, warum sind sie dann 'allerdings' anderen nützlich? Sie sind das nicht und obwohl sie es sind, sind sie auch nützlich?!

Und so suche ich zu diesen Zweck Örtlichkeiten mit einer hohen Dichte an kranken Menschen auf.
Manchmal gefallen mir die Formulierungen auch sehr. So wie die oben: 'hohe Dichte an kranken Menschen'.


ich erreiche auf diese Weise erstaunlich viele gesprächsoffene Menschen. Dies kommt gut an bei den meisten Kranken und Ratsuchenden, denn ich plaudere nicht einfach belanglos drauflos, sondern ich höre auch zu, und zwar anhaltend zugewandt, dabei immer sehr geduldig.
Genau das ist der Punkt. Da trifft der Text punktgenau die Schwachstelle. Ich diskutiere hier nicht die Gründe. Vielen sollten sie bekannt sein. Aber als ich im Krankenhaus lag, fühlte ich mich in einem Ausmaß allein und hängen gelassen, dass ich mit dem Gedanken spielte, einen Notarzt anzurufen. Wenn der nach der Adresse gefragt hätte, hätt ich ihm die Adresse der Klinik und die Nr der Station nennen müssen. Weiß nicht, ob der gekommen wär.

Ein weiterer Kritikpunkt am Text, meinerseits, so gut ich ihn auch finde: Besonders witzig ist er nicht, und da unter 'Humor' zu finden, muss ich das anmerken; jedenfalls ist es nicht mein Humor.

Gruß
tm
 

rubber sole

Mitglied
Hallo Amelia,

es freut mich, dass dich die Geschichte anspricht - vielen Dank für die Zustimmung und die Wertung. Ja, dieses Thema weist auf ein Manko in unserer Gesellschaft hin, das nicht nur in Arztpraxen anzutreffen ist; ein höheres Maß an Empathie würde vieles erträglicher gestalten: einfach mal zuhören. Den Wechsel der Zeitformen habe ich bewusst so gewählt: den Anfang der Geschichte im Präteritum oder im Perfekt, allgemeine oder zeitlose Fakten im Präsens, was einen Text m. E. lebendiger erscheinen lässt. Die konjunktive Form benutze ich gelegentlich, um Fakten abzuschwächen.

Gruß von rubber sole
 

rubber sole

Mitglied
Hallo Tonmaler,

danke für dein Interesse an meiner Geschichte und deine Anmerkungen dazu. Es freut mich, dass mein fiktionaler Text durch deine Erfahrungen überwiegend bestätigt wird. Mehr Empathie täte not, das Fehlen dieser ist ein markantes Zeichen in unserer Gesellschaft. Die von dir beschriebene Situation in einer Klinik kann ich gut nachvollziehen. Um einem Patienten in solch einer Lage etwas Gutes angedeihen zu lassen, bräuchte es nur jemanden, der zuhört. Die Gedanken, die dich dort umtrieben sind verständlich; sie würden, ausformuliert, Stoff für eine Geschichte bieten. Ja, meine Geschichte könnte in Teilen auch anders formuliert sein - Schreibers Schicksal. Die Veröffentlichung in der Kategorie Humor halte ich für passend - dabei nicht jedermanns Art von Humor zu treffen, war für mich vorhersehbar.

Gruß von rubber sole
 

John Goodman

Mitglied
Moin rubber sole

Ich bin sehr angetan von deiner Story. Sie liest sich wunderbar flüssig runter, hört aber leider auf, wo es eigentlich erst richtig losgeht. Ich würde mich freuen, wenn hierzu eine Fortsetzung käme. Unabhängig davon, gerne mehr in Zukunft von solchem Content.


Gruß

John
 

rubber sole

Mitglied
Hallo John,

deinen Kommentar habe ich gerne gelesen. Vielen Dank dafür - auch für den üppigen Sternenregen. Die Geschichte, in der ich über Auswirkungen von Empathie bzw. deren Nichtvorhandensein geschrieben habe, böte vom Thema her sicherlich weitere Anknüpfpunkte - auch in andere Zusammenhänge verpackt. In der vorliegenden Story habe ich eine bizarre Kurz-Vita als Hintergrund gewählt, die an dieser Stelle nicht zwingend enden müsste. Allerdings neige ich nicht zu Geschichten mit Seriencharakter, eine Fortsetzung ist daher nicht vorgesehen. Ansonsten habe ich vor, mich erzählerisch weiterhin bemerkbar zu machen, in der Hoffnung, interessante Sujets in eingänglichen Texten vorzustellen.

Gruß von rubber sole
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe(r) rubber sole,

ich hatte gar nicht auf die Rubrik geachtet, daher habe ich auch nicht bemerkt, ob ich sie 'lustig' finde. Ich denke aber, sie ist 'schräg' genug, um als Satire durchzugehen.
Interessanterweise hatte ich eher ein Problem damit, zu glauben, dass sich Menschen in einem Wartezimmer mit einem Fremden auf ein Gespräch über ihre Krankheit einlassen - aber das hat ja Tonmaler irgendwie bestätigt. Nun, ich nicht, mir kommt es sogar eher übergriffig vor. So verschieden sind die Menschen. (Ich muss aber dazu sagen, dass ich bisher noch nicht so ernsthaft erkrankt bin und z.B. ohne Beistand im Krankenhaus lag ...)

Eine Stelle schien mir fehlerhaft zu sein. Zunutze ist eher etwas, aber wenn es sich um eine Person handelt, wäre sie eher von Nutzen - so sagt zumindest mein Sprachgefühl.

Insgesamt gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 

rubber sole

Mitglied
Liebe Petra,

ob der Text als schräg oder lustig empfunden wird, ist nicht bedeutsam - ich habe keine passendere Kategorie fürs Posting gefunden. Dass die in der Geschichte beschriebene Gesprächsthematik in Wartezimmern von Arztpraxen in irgendeiner Form so vorkommen könnte, schließe ich nicht aus, wobei eine drohende Übergriffigkeit durch Aufmerksamkeitsverweigerung leicht abzuwehren wäre. Dieses Hindernis hat der Erzähler bereits überwunden. Seine 'Tätigkeit' weist in eine spezielle Richtung: prekäre Leidenssituationen, in denen fehlende menschliche Nähe wie eine 'Strafverschärfung' empfunden werden könnte.
Und ja, die Formulierung zunutze ist in dem verwendeten Zusammenhang nicht optimal gewählt. Danke für dein Interesse und die Anregung.

Gruß von rubber sole
 



 
Oben Unten