Der Prokurist

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Morfy

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Es ergab sich also, dass ich mich alleine im Büro befand, als ich aus dem Nichts ein stumpfes Prallen hörte, begleitet von einem Schmerzensschrei. Rasend lief ich zur Quelle dieses Aufruhrs. Im verschatteten Treppenhaus spähte ich rechts aus der Ecke hinunter, wo der im Anzug gekleidete Prokurist auf der letzten Stufe hockte – mir den Rücken zugewandt (er hatte meine Ankunft nicht bemerkt) – und weinte.

Der Treppengang war von ungewöhnlicher Länge, sodass uns eine große Entfernung trennte. Ich weiß nicht, wie lange ich den Weinenden beobachtete; wie lange kann ein Mensch denn weinen? Er hing an der linken Wand, als hätten ihn Knochen und Muskeln verlassen. Schluchzend zitterte sein Körper und mit seiner geringen Kraft strengte er sich an, möglichst leise zu trauern. Die rechte Hand bedeckte dabei seinen Mund. Ich schlussfolgerte, dass er gestürzt war, doch seine Tränen schienen über diese Ursache hinauszuragen. Als bedrückte diesen Mann etwas Überirdisches.

Es könnte sein, dass ich an jenem Tage die Tiefen stillen Gewässers sah. Welche Dinge waren es, die in einem solchen Menschen eine Träne gebaren? Ich fühlte mich dem Prokuristen plötzlich so nah; ich wollte ihn in meinen Armen umschließen und ihm sanfte Worte zuflüstern. Ein großer Mann war unser Prokurist, der größte in jedem Raum; mit seinem gekämmtem Haar, strammem Bart und strengem Ton bewies er ausnahmslos seine Obrigkeit, die er durch jahrelangem Kämpfen und Schwitzen errungen hatte; von keiner Fliege ließ er sich ärgern; sein seltenes Wort fiel mit einer derart unschlagbaren Macht, dass man sich fürchten musste; seine Größe kam der der Götter nahe.

Doch den, den ich an jenem Morgengrauen am Fußende der dunklen Treppe erblickte, war ein Spiegelbild dieser Beschreibung: ein heulender alter Lumpen – wie weggeschmissen. So schlich die Vermutung an mich, dass es nicht unmöglich war, dass er ausschließlich aufgrund der Schmerzen weinte, die er beim Sturz erlebt hatte und aus keinem anderen Grund. Ein einfaches Stolpern und schon hatte der Prokurist flennend in der Ecke gelegen. Wie peinlich. Sogar ich hätte dies ohne weiteres wegstecken können. Besaß er keinerlei Selbstbeherrschung?

Als ich mich ihm stufenweise näherte, um ihm eine Hand über die Schulter zu legen, da hörte er meinen vierten Schritt, schluckte mit einem Atemzug alle seine Tränen hinunter und brüllte mich blutrünstig an (weiterhin ohne mich anzusehen): „Verschwinde!“, und ich tat wie befohlen. Ich glaubte, einen Hauch liegen gebliebener Traurigkeit in seiner Wut gehört zu haben.
 
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Rachel

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Guten Tag, Morfy. Hat mir sehr gefallen. Feinfühlige Geschichte, schön erzählt. Ich hab ein wenig rumgefeilt, hier und da, sieh es dir an, vielleicht gefällt dir der eine oder andere Vorschlag. Liebe Grüße

Der Prokurist

Es ergab sich also, dass ich mich alleine im Büro befand, als ich aus dem Nichts einen stumpfen Aufprall hörte, begleitet von einem Schmerzensschrei. Rasend lief ich zur Quelle dieses Aufruhrs. Im verschatteten Treppenhaus spähte ich rechts aus der Ecke hinunter, wo der im Anzug gekleidete Prokurist auf der letzten Stufe hockte – mir den Rücken zuwandte (er hatte meine Ankunft nicht bemerkt) – und weinte.

Der Treppengang war von ungewöhnlicher Länge, sodass uns eine große Entfernung trennte. Ich weiß nicht, wie lange ich den Weinenden beobachtete; wie lange kann ein Mensch denn weinen? Er hing an der linken Wand, Komma als hätten ihn Knochen und Muskeln verlassen. Schluchzend zitterte sein Körper und mit seiner gedämpften/gedrosselten Kraft strengte er sich an, möglichst leise zu trauern. Seine rechte Hand bedeckte dabei seinen Mund. Ich nahm an, dass er gestürzt war, doch seine Tränen schienen über diese Ursache hinauszuragen. Als bedrückte diesen Mann etwas Überirdisches.

Es könnte sein, dass ich an jenem Tage in die Tiefen eines stillen Gewässers sah. Welche Dinge/Beweggründe/Empfindungen waren es, die in einem solchen Menschen eine Träne gebaren? Ich fühlte mich dem Prokuristen plötzlich so nah; ich wollte ihn in meinen Armen umschließen und ihm sanfte Worte zuflüstern. Ein großer Mann war unser Prokurist, der größte in jedem Raum; mit gekämmtem Haar, akkuraten/ strammem Bart und einem strengen Ton bewies er ausnahmslos seine Obrigkeit, die er durch jahrelanges Kämpfen und Schwitzen errungen hatte. Von keiner Fliege ließ er sich ärgern. Seine sparsamen Sätze/ Wörter fielen mit einer derart unschlagbaren Macht, dass man sich fürchten musste. Seine Größe kam der der Götter nahe.

Doch den, den ich da, an jenem Morgengrauen, am Fußende der dunklen Treppe erblickte, Komma war ein Spiegelbild dieser Beschreibung: Ein heulender alter Lumpen – wie weggeschmissen. So schlich die Frage in mich, ob es sein konnte, dass er ausschließlich aufgrund der Schmerzen, die er beim Sturz erlebt hatte, weinte. Oder gab es einen weiteren Grund? Ein einfacher dumpfer Sturz/Zusammenstoß und schon hatte der Prokurist flennend in der Ecke gelegen. Wie peinlich. Sogar ich hätte dies ohne weiteres wegstecken können. Besaß er keinerlei Selbstbeherrschung?

Als ich mich ihm stufenweise näherte, um ihm eine Hand über die Schulter zu legen, da hörte er meinen vierten Schritt und schluckte im gleichen Moment alle seine Tränen hinunter und brüllte mich lautstark/blutrünstig an (ohne sich zu mir umzudrehen): „Verschwinde!“, und ich tat wie befohlen. Ich glaubte, einen Hauch liegen gebliebener Traurigkeit in seiner Wut gehört zu haben.


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Nachtrag: Ich setze Doppelpunkt und Strichpunkt gern sparsam ein.
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo Morfy,
du schießt auf der Suche nach treffenden Wörtern sehr oft übers Ziel hinaus. Ich kommentiere mal einen Absatz:

Es könnte sein, dass ich an jenem Tage (besser Tag) die Tiefen eines stillen Gewässers sah. Welche Dinge waren es, die in einem solchen Menschen eine Träne gebaren (gebaren? Das ist arg überzogen für etwas, das ganz schnell und ohne Geburtswehen über die Wange fließt). Ich fühlte mich dem Prokuristen plötzlich so nah; ich wollte ihn in meinen Armen umschließen (falsches Wort. Besser: in die Arme nehmen oder umarmen) und ihm sanfte Worte zuflüstern (sanfte Worte zuflüstern - das passt hier nicht. Du meinst tröstende Worte?). Ein großer Mann war unser Prokurist, der größte in jedem Raum (körperlich der größte? und warum in jedem Raum? Was meinst damit?); mit gekämmtem Haar, strammem Bart (stramm ist falsches Wort) und einem strengen Ton bewies er ausnahmslos (ausnahmslos? du meinst in jeder Lage?) seine Obrigkeit (Obrigkeit ist das falsche Wort. Besser: Macht oder Dominanz)), die er durch jahrelanges Kämpfen und Schwitzen errungen (Obrigkeit durch Kämpfen und Schwitzen erringen? Das geht nur im Western) hatte. Von keiner Fliege ließ er sich ärgern (das begründet keine Macht! Bestenfalls Beherrschung). Seine seltenes Wort (falsche Formulierung) fiel mit einer derart unschlagbaren Macht (unschlagbare Macht - falsches Wort), dass man sich fürchten musste. Seine Größe kam der der Götter nahe (das ist für einen Prokuristen ziemlich heftig).

Die beste Schulung, um solche Schwächen zu überwinden, ist das akribische und selbstkritische Korrekturlesen, bei dem man im Grunde jedes Wort hinterfragt. Ist jetzt weder bös noch lehrerhaft gemeint. Wäre nur mein ganz persönlicher Tip.
Gruß Bo-ehd
 



 
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