Olaf Euler
Mitglied
Fräulein Zweifel küsst mich mitten ins Gesicht. Sie setzt einen Schmatzer direkt auf meine Nase. Ich zucke zurück, räuspere verlegen und ein klein wenig Sehnsucht von den „Tagen davor“ kommt hoch und sucht sich einen Weg durch die Nacht. Ich drücke sie leicht von mir, schließe die Augen und atme tief ein…
Der Geruch von Seife steigt mir in die Nase, Opas Seife, und ich schmunzle. Meine Augen erblicken das Waschbecken im Bad meiner Großeltern und ich versuche das Zahnpasta-Speichel-Gemisch genau auf den Abfluss auszuspucken. Die Zahnbürste beiseitegelegt, greife ich nach meinem Zahnputzbecher und spül mir den Mund aus, während ich rüber zu Opa schau. „Jetzt zeige ich dir mal was, mein Junge.“ meint er und greift in seinen Mund. Auf einmal hält er mir sein Gebiss entgegen. „Schau mal, wie ich mir die Zähne putze.“ Er lässt seine Prothese in ein Glas plumpsen. Ich blicke ihn mit weit geöffneten Augen an, meine Hände fest um den Zahnputzbecher geklammert. Mein sieben Jahre junger Kopf ringt um Erklärungen und schlussfolgert, wieso auch immer, dass er wohl früher sicherlich ein Pirat gewesen ist. Die Angst trotzt der Bewunderung und so eile ich fassungslos in einem großen Bogen um den kichernden Piraten-Opa aus dem Bad. Völlig außer Puste schließe ich die Augen und atme tief ein...
Es riecht nach frisch gebackenem Kuchen und ich erinnere mich, wie Oma den selbstgebackenen Kuchen vorsichtig aus dem Ofen holt, eine Ecke abbröckelt und mich kosten lässt. „Aber nicht zu viel, denn sonst kriegst du Bauchschmerzen.“
Die Gruppe versammelt sich um den Psycho-Onkel, der erneut um Aufmerksamkeit bittet. „Wir backen hier Kuchen und Brot selbst und das nicht ohne Grund. Der Geruch von frisch Gebackenem erinnert die Patienten an schöne Situationen aus ihrer Kindheit, meistens an die Großeltern, die noch selbst zu backen pflegten. Es löst in ihnen unbewusst ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit aus, was ihnen wiederum hilft die schwere Zeit der Therapie durchzustehen und sich hier wohlzufühlen.“
Ich bin erstmals während des einstündigen Vortrags begeistert, da es bei mir funktioniert. Ich denke bei frisch gebackenem Kuchen sofort an Oma. Der Psychologe der Drogenreha setzt seinen Monolog fort und nach seiner ausführlichen Einführung darf ich meinen alten Kollegen, der hier Patient ist, wieder sehen. Wir sitzen gemeinsam an einem Tisch im Garten und essen von diesem leckeren Kuchen, während wir uns über die alten Zeiten austauschen und voller Optimismus in seine Zukunft blicken.
Mein Daumen streift sanft über das Display meines Handys. Ich schließe die Augen und atme tief ein...
Ich stehe an einer dicht befüllten Bahnhaltestelle, umgeben von Leuten, die auch auf die Linie 13 warten. In Gedanken versunken höre ich Musik und blicke plötzlich auf. Ich drehe mich um und sage: „Hey Maria. Ich habe dich eben gar nicht gesehen.“
„Woher wusstest du, dass ich dich erschrecken will?“ antwortet sie und gibt mir einen Begrüßungskuss.
„Ich wusste es nicht, aber ich habe dich gerochen. Ich wollte sehen, ob Du auch hier stehst und wartest.“
„Wie, du hast mich gerochen? Stinke ich etwa?“
Während wir in die Bahn einsteigen, erkläre ich ihr, dass ich den Eigengeruch von Menschen recht stark wahrnehme und sie mir daher aufgefallen ist. „Du riechst wirklich angenehm, finde ich.“
Sie schaut mich mit kritischem Blick an und lenkt von ihrer Scham ab, indem sie mich schelmisch „Zwerg Nase“ nennt.
„Mmhh, Maria,“ flüstere ich und blicke auf mein IMotion. Die „Smell-App“ auf meinem Handy ist wirklich gut. So eine präzise Wiedergabe von individuellen Gerüchen war vor einiger Zeit noch nicht denkbar. Sie hilft mir Erinnerungen viel besser festzuhalten, wiederzuentdecken und mich anderen besser mitzuteilen. I SMELL @ APPLE VIA MASTODON TO THE WORLD! Vor allem bewahrt sie mich vorm Vergessen.
Und dann dieser plötzliche Kuss von Fräulein Zweifel, der mich zurückschrecken lässt. Wie sie sich mir in ihrer Schlichtheit aufdrängt. Ich drücke sie leicht von mir und schaue in ihr Gesicht. Sie blickt mir lächelnd in die Augen. Ich bin irritiert und ihr doch für einen Moment erlegen.
„Meinst du wirklich, es gab eine Zeit, in der Gerüche nicht gezähmt und festgehalten, von uns, den Medien und der Werbung benutzt wurden? In der sie geradezu einmalig und kaum vermittelbar waren? Eine Zeit, in der man schmunzelnd zu seiner Schwester sagte: »Da hat‘s wie früher gerochen!« Und es wusste sonst niemand Bescheid, was gemeint war? Eine Zeit, in der Gerüche etwas so Intimes und Eindrucksvolles waren? Meinst du, ich kann meinen Eltern glauben, die mit romantischem Blick von »ihrem Lied« sprechen, während ich zigtausend Lieder in Beziehung zu zigtausend Menschen setze und wir immer wieder neu von »unserem Lied» reden, ohne daran zu glauben oder eine Idee von dieser Einzigartigkeit zu haben? Meinst du wirklich, es war so viel anders als heute, wenn sich das Bild einer Situation, wie z.B. ein Sonnenuntergang an der portugiesischen Küste, nur bei Dir und deiner Urlaubsgefährtin in die Netzhaut brannte, ohne später andere Menschen per Insta oder Fotoalbum daran Anteil nehmen zu lassen? Glaubst du an dieses »auf ewig vereint im Augenblick«? Und meinst du wirklich, dass unsere Sinne früher viel sensibler waren, dass uns die Flut an Bildern, Geräuschen und Gerüchen letztlich abgestumpft haben?“
Sie fixiert meinen Blick und ich inhaliere ihren Atem. Dabei räuspere ich mich, so dass mein Handy mir aus der Hand gleitet und scheppernd zu Boden fällt. Ein klein wenig Sehnsucht von den »Tagen davor« kommt hoch und sucht sich einen Weg durch die Nacht.
Hoffnung ist geboren – oder gestorben?
Fräulein Zweifel küsst jedenfalls gut.
Der Geruch von Seife steigt mir in die Nase, Opas Seife, und ich schmunzle. Meine Augen erblicken das Waschbecken im Bad meiner Großeltern und ich versuche das Zahnpasta-Speichel-Gemisch genau auf den Abfluss auszuspucken. Die Zahnbürste beiseitegelegt, greife ich nach meinem Zahnputzbecher und spül mir den Mund aus, während ich rüber zu Opa schau. „Jetzt zeige ich dir mal was, mein Junge.“ meint er und greift in seinen Mund. Auf einmal hält er mir sein Gebiss entgegen. „Schau mal, wie ich mir die Zähne putze.“ Er lässt seine Prothese in ein Glas plumpsen. Ich blicke ihn mit weit geöffneten Augen an, meine Hände fest um den Zahnputzbecher geklammert. Mein sieben Jahre junger Kopf ringt um Erklärungen und schlussfolgert, wieso auch immer, dass er wohl früher sicherlich ein Pirat gewesen ist. Die Angst trotzt der Bewunderung und so eile ich fassungslos in einem großen Bogen um den kichernden Piraten-Opa aus dem Bad. Völlig außer Puste schließe ich die Augen und atme tief ein...
Es riecht nach frisch gebackenem Kuchen und ich erinnere mich, wie Oma den selbstgebackenen Kuchen vorsichtig aus dem Ofen holt, eine Ecke abbröckelt und mich kosten lässt. „Aber nicht zu viel, denn sonst kriegst du Bauchschmerzen.“
Die Gruppe versammelt sich um den Psycho-Onkel, der erneut um Aufmerksamkeit bittet. „Wir backen hier Kuchen und Brot selbst und das nicht ohne Grund. Der Geruch von frisch Gebackenem erinnert die Patienten an schöne Situationen aus ihrer Kindheit, meistens an die Großeltern, die noch selbst zu backen pflegten. Es löst in ihnen unbewusst ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit aus, was ihnen wiederum hilft die schwere Zeit der Therapie durchzustehen und sich hier wohlzufühlen.“
Ich bin erstmals während des einstündigen Vortrags begeistert, da es bei mir funktioniert. Ich denke bei frisch gebackenem Kuchen sofort an Oma. Der Psychologe der Drogenreha setzt seinen Monolog fort und nach seiner ausführlichen Einführung darf ich meinen alten Kollegen, der hier Patient ist, wieder sehen. Wir sitzen gemeinsam an einem Tisch im Garten und essen von diesem leckeren Kuchen, während wir uns über die alten Zeiten austauschen und voller Optimismus in seine Zukunft blicken.
Mein Daumen streift sanft über das Display meines Handys. Ich schließe die Augen und atme tief ein...
Ich stehe an einer dicht befüllten Bahnhaltestelle, umgeben von Leuten, die auch auf die Linie 13 warten. In Gedanken versunken höre ich Musik und blicke plötzlich auf. Ich drehe mich um und sage: „Hey Maria. Ich habe dich eben gar nicht gesehen.“
„Woher wusstest du, dass ich dich erschrecken will?“ antwortet sie und gibt mir einen Begrüßungskuss.
„Ich wusste es nicht, aber ich habe dich gerochen. Ich wollte sehen, ob Du auch hier stehst und wartest.“
„Wie, du hast mich gerochen? Stinke ich etwa?“
Während wir in die Bahn einsteigen, erkläre ich ihr, dass ich den Eigengeruch von Menschen recht stark wahrnehme und sie mir daher aufgefallen ist. „Du riechst wirklich angenehm, finde ich.“
Sie schaut mich mit kritischem Blick an und lenkt von ihrer Scham ab, indem sie mich schelmisch „Zwerg Nase“ nennt.
„Mmhh, Maria,“ flüstere ich und blicke auf mein IMotion. Die „Smell-App“ auf meinem Handy ist wirklich gut. So eine präzise Wiedergabe von individuellen Gerüchen war vor einiger Zeit noch nicht denkbar. Sie hilft mir Erinnerungen viel besser festzuhalten, wiederzuentdecken und mich anderen besser mitzuteilen. I SMELL @ APPLE VIA MASTODON TO THE WORLD! Vor allem bewahrt sie mich vorm Vergessen.
Und dann dieser plötzliche Kuss von Fräulein Zweifel, der mich zurückschrecken lässt. Wie sie sich mir in ihrer Schlichtheit aufdrängt. Ich drücke sie leicht von mir und schaue in ihr Gesicht. Sie blickt mir lächelnd in die Augen. Ich bin irritiert und ihr doch für einen Moment erlegen.
„Meinst du wirklich, es gab eine Zeit, in der Gerüche nicht gezähmt und festgehalten, von uns, den Medien und der Werbung benutzt wurden? In der sie geradezu einmalig und kaum vermittelbar waren? Eine Zeit, in der man schmunzelnd zu seiner Schwester sagte: »Da hat‘s wie früher gerochen!« Und es wusste sonst niemand Bescheid, was gemeint war? Eine Zeit, in der Gerüche etwas so Intimes und Eindrucksvolles waren? Meinst du, ich kann meinen Eltern glauben, die mit romantischem Blick von »ihrem Lied« sprechen, während ich zigtausend Lieder in Beziehung zu zigtausend Menschen setze und wir immer wieder neu von »unserem Lied» reden, ohne daran zu glauben oder eine Idee von dieser Einzigartigkeit zu haben? Meinst du wirklich, es war so viel anders als heute, wenn sich das Bild einer Situation, wie z.B. ein Sonnenuntergang an der portugiesischen Küste, nur bei Dir und deiner Urlaubsgefährtin in die Netzhaut brannte, ohne später andere Menschen per Insta oder Fotoalbum daran Anteil nehmen zu lassen? Glaubst du an dieses »auf ewig vereint im Augenblick«? Und meinst du wirklich, dass unsere Sinne früher viel sensibler waren, dass uns die Flut an Bildern, Geräuschen und Gerüchen letztlich abgestumpft haben?“
Sie fixiert meinen Blick und ich inhaliere ihren Atem. Dabei räuspere ich mich, so dass mein Handy mir aus der Hand gleitet und scheppernd zu Boden fällt. Ein klein wenig Sehnsucht von den »Tagen davor« kommt hoch und sucht sich einen Weg durch die Nacht.
Hoffnung ist geboren – oder gestorben?
Fräulein Zweifel küsst jedenfalls gut.
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