Fastrada
Mitglied
Abschied von gestern
Lido di Venezia, 13. Juni 1256
Mit dem ersten Grau der Dämmerung vertäute Joran sein Boot neben Jacopos Sandolo am Kai, stieg an Land und machte sich auf den Weg zum Haus seines Dieners.
Jacopo bewohnte das ehemalige Haus der Ferroni auf dem Lido. Ordelaf Ferroni hatte immer davon geträumt, ein Grundstück am Rialto zu erwerben und dort den neuen Stammsitz der Familie zu errichten. Was er mit zähem Willen und eiserner Entschlossenheit auch geschafft hatte. Wie stolz er gewesen war, als er Frau und Tochter über die Schwelle der Ca´Ferroni hatte führen können! Joran hatte dieses Ereignis verpasst, was ihm zu dem Zeitpunkt nicht sonderlich tragisch erschienen war. Wie hätte er auch ahnen sollen, welches Unheil ihm bevorstand?
Er war vollauf damit beschäftigt gewesen, seine Habe zu packen. Sein Vater hatte ihm erlaubt, nach Akkon überzusiedeln, um dort eine Zweigniederlassung für den Handel mit der Levante zu errichten, die allein seiner Verantwortung unterstehen sollte. Er hatte in eine Zukunft geblickt, die sich glänzend und verführerisch vor ihm erstreckt hatte. Bis er Lucca begegnet war und seine Träume in tausend Splitter zerborsten waren.
Joran schnaubte. Lucca war tot und stellte kein Problem mehr da.
In seiner Schultertasche trug er die Reliquie aus Akkon. Er war sich noch nicht sicher, welchen Preis er dafür verlangen sollte. Der Diebstahl war riskant gewesen und hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Bis heute wusste er nicht, welchem glücklichen Zufall er die Gelegenheit zur Flucht verdankte. Im Grunde war ihm das Warum auch gleichgültig, einzig der Erfolg zählte. Allerdings hatte der Vorfall dazu geführt, dass ihm die Lust auf weitere Abenteuer dieser Art erst einmal gründlich vergangen war. Das Dumme daran war nur, dass alles, womit er sich bisher beschäftigt hatte, weit weniger profitabel war, als er es sich gewünscht hätte. In einer Stadt wie Venedig, wo die Handelsrouten der ganzen bekannten Welt zusammenliefen, war er nichts weiter als eine winzige Ameise im großen Volk der Händler und Kaufleute. Sicher, er war jung für einen Händler, aber weder hatte er ein Vermögen im Rücken, noch verfügte er über die Ressourcen und Kredite alteingesessener Handelshäuser.
Folglich musste er aus dem Verkauf genügend Profit herausschlagen, um einerseits freies Kapital zu haben, mit dem er sich in lukrative Unternehmungen einkaufen konnte und andererseits den Unterhalt seiner Schwester zu sichern. Leocadia lebte auf der Burg eines Freundes, ein Arrangement, über das sie keineswegs glücklich war. Aber daran ließ sich nichts ändern, bevor er nicht als Kaufmann Fuß gefasst hatte. Gleich morgen würde er den Kommissionär seines Auftraggebers aufsuchen und dann - dann begann sein neues Leben.
Langsam schritt er den Trampelpfad entlang, um auf die dem Meer zugewandte Seite des Hauses zu gelangen. Eine hüfthohe Mauer aus Ziegelsteinen umschloss das Grundstück und Joran stemmte sich kurzerhand auf die Mauerkrone hoch. Zuerst konnte er seinen Arm kaum belasten, doch er begrüßte den Schmerz in der noch nicht vollständig verheilten Wunde, weil er seine Gedanken beschäftigte, die sonst anderswo gewesen wären. Ein wenig vorsichtiger ließ er sich auf der anderen Seite ins Gras gleiten und sah sich um.
Das Haus erschien ihm kleiner, als er es in Erinnerung hatte, niedriger und gedrungener, mehr wie ein Arbeiterhaus. Dafür war der Feigenbaum, auf halbem Weg zur Hintertür, jetzt so hoch gewachsen, dass er die Hälfte des Gartens überschattete.
Es war kein Licht zu sehen. Doch Jacopo würde sicher schon aufgestanden sein und seine Morgensuppe verzehren, bevor er wie gewöhnlich seinen Rundgang machte, um die Schweine, Hühner und Gänse in den Gehegen entlang der Mauer zu füttern.
Jorans Herz raste und sein Atem ging schneller, während er zwischen den sorgfältig gejäteten Gemüsebeeten hindurch zur Hintertür des Hauses schritt. Was würde ihn erwarten?
Er drückte mit dem Unterarm gegen die Tür und diese wich knarrend zurück.
»Jesus!«
Jacopo schoss von seinem Schemel hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Eindringling. »Joran! Va all´inferno! Könnt Ihr nicht klopfen?«
Joran trat in die Küche und schloss die Tür. »Ich habe dir doch geschrieben, dass ich komme.«
»Oh ja, das habt Ihr. In der Tat. Ohne Datum und so vage, dass ich nicht einmal wusste, ob Ihr dieses Jahr meint oder vielleicht erst das Nächste.«
Joran zuckte die Schultern, schlenderte betont lässig zum Herd und inspizierte den Topf mit Suppe, der dort leise vor sich hin köchelte. Er nahm eine Schale vom Wandbord, füllte sie mit Suppe und trug sie zum Tisch. »Sei so gut und gib mir ein Stück von deinem Brot. Ich bin hungrig.«
Jacopos Blick sprach Bände. Doch er griff nach dem halben Laib Brot auf dem Tisch und schnitt mehrere dicke Scheiben davon ab, die er Joran zuschob.
»Ihr seht aus wie ein Pirat«, bemerkte er gallig. »Und Ihr riecht auch so.«
»Ich war vier Wochen auf See.«
Jacopo schnaubte. »Euer Vater würde sich in seinem Grab herumdrehen, könnte er Euch so sehen.«
Joran griff nach einer Brotscheibe. »Lucca? Wohl kaum.«
»Ich rede nicht von Lucca, wie Ihr sehr wohl wisst. Ihr solltet Euch wirklich abgewöhnen, den Bastard zu erwähnen. Besonders in Gegenwart von Monna Marliana. Es wäre ihrer Gesundheit nicht zuträglich.«
Joran starrte auf seine Finger hinunter, die kaum merklich zitterten. Eilig legte er den Löffel in die Schale und versteckte die Hände im Schoß. »Wo ist meine Mutter?«
»Oben. Ich habe sie in ihrer alten Kammer untergebracht. Sie schläft noch.«
Joran sprang auf. »Ich muss zu ihr.«
»Halt!« Jacopo griff nach seinem Arm und hinderte ihn daran, die Treppe ins obere Stockwerk hinaufzustürmen. »So könnt Ihr Euch bei Eurer Mutter unmöglich sehen lassen, Messèr Joran. Eure verwilderte Erscheinung würde sie nur unnötig in Aufregung versetzen. Was Ihr besser nicht riskieren solltet.«
Joran erstarrte. »Was willst du damit sagen, Jacopo?«
Der Alte seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«
»Jacopo! Raus mit der Sprache! Was ist mit meiner Mutter?«
Der Diener wies mit einer Handbewegung Richtung Tisch. »Setzt Euch und esst Eure Suppe, bevor sie kalt wird. Ich werde inzwischen Wasser heißmachen, damit ihr Euch waschen und rasieren könnt.«
»Du weichst mir aus. Seit wann bist du ein solcher Feigling?«
»Es besteht keine Veranlassung, mich zu beleidigen«, gab der Alte zurück. »Messèr Contarini konnte mir für den Fall Eurer Rückkehr keine Empfehlung geben und hat mir geraten, meinem Gefühl zu folgen.«
Wütend machte Joran einen Schritt auf ihn zu. »Was soll das bedeuten?«
Jacopo musterte ihn kühl. »Es bedeutet, dass ich versuche, Monna Marliana vor dem Schock zu bewahren, den sie zweifellos erleiden würde, bekäme sie Euch so zu Gesicht«, antwortete er. »Ihre Gesundheit ist angegriffen. Sie fürchtet sich entsetzlich vor allem Fremden und dieses Ziegenfell, das Ihr Euch habt stehen lassen, macht Euch nahezu unkenntlich. Sie müsste nur einen Blick auf Euch werfen und der Tag wäre für sie verloren, bevor er auch nur begonnen hätte. Das kann ich nicht zulassen.«
»Mit anderen Worten, sie hat den Verstand verloren.«
»So würde ich es nicht bezeichnen«, widersprach Jacopo. »Es ist nur sehr leicht, sie aus der Fassung zu bringen. Oft weint sie dann und weigert sich zu essen.«
»Weigert sich, zu essen ...« Joran fand, er müsse erschüttert sein, doch er stellte fest, dass er für Erschütterung zu erschöpft war. Er ging zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Wie hast du sie gefunden?«
Jacopo trat zum Herd, schürte das Feuer und setzte einen Kessel mit Wasser auf.
»Das war nicht mein Verdienst«, sagte er. »Diese Ehre gebührt Renier Contarini.«
»So, so.«
»Die näheren Umstände kenne ich nicht. Messèr Renier hat einen Brief für Euch hinterlassen, der erklärt, was Ihr wissen müsst. Ich hole ihn gleich. Esst derweil Eure Suppe.«
Jacopo eilte aus der Küche. Joran nahm den Löffel in die Hand und tauchte ihn in die Suppe, doch dann konnte er nichts essen. Sein Magen, der vor kurzem noch hungrig geknurrt hatte, schien sich zu einem unlösbaren Knoten verschlungen zu haben. Er legte den Löffel auf den Tisch und erhob sich. Etwas drängte ihn, sich zu bewegen, etwas Zorniges und Wildes, das ihn innerlich aufheulen ließ, aber es war einfach zu übermächtig, als dass er sich dagegen wehren konnte. Seine Faust bewegte sich fast ohne sein Zutun und sauste auf den Tisch nieder, dass die Schüsseln sprangen. Schmerz schoss durch seinen Arm und brachte ihn wieder einigermaßen zur Besinnung. Er sank erneut auf seinen Stuhl, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und verschränkte die Hände unter dem Kinn. Auch ohne Reniers Brief zu lesen, wusste er, was drinstehen würde. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit es ihnen gemeinsam gelungen war, seine kleine Schwester Leocadia aus dem Hurenhaus des Bischofs zu befreien. Von seiner ebenfalls gefangen gehaltenen Mutter hatten sie jedoch keine Spur entdeckt und Joran hatte sich mit dem Wissen abgefunden, dass sie nicht mehr am Leben war. Irgendwann war ihm der Gedanke sogar tröstlich erschienen und hatte geholfen, seine Empfindungen in Schach zu halten. Bis jetzt. Doch nun überschwemmte ihn erneut dieses grauenhafte Gefühl der Hilflosigkeit. Seine Mutter hatte gelitten, so sehr, dass ihr Verstand sich weigerte, dem Schrecken noch länger standzuhalten. Und er war daran schuld.
Jacopo betrat die Küche, den linken Arm mit Gewändern behängt, die er vor Joran auf den Tisch legte. »Ich habe einige Sachen Eures Vaters herausgesucht, die Euch passen dürften. Und hier ist der Brief.«
Joran nahm die Botschaft entgegen und legte sie ungeöffnet auf den Tisch. »Ich lese sie später. Hilf mir lieber, das Ziegenfell loszuwerden.«
»Mit Vergnügen«, murmelte Jacopo. Er holte Rasiermesser und Schere, füllte eine Schüssel mit dampfender Lauge und machte sich an die Arbeit.
Joran ertrug die Prozedur schweigend. Nur als Jacopo die frische Narbe auf seiner Wange berührte, entfuhr ihm ein unmutiges: »Pass doch auf!«
»Cavolo, was ist Euch denn zugestoßen! Ihr habt Euch doch nicht etwa auf eine Messerstecherei eingelassen?«
»Schwertkampf«, knurrte Joran und brachte Jacopo damit nachhaltiger zum Verstummen, als ein Befehl es gekonnt hätte. Der Alte fragte auch nicht nach der Herkunft der Verletzung an seinem Arm, sondern ging ihm wortlos beim Waschen und später beim Anlegen der sauberen Gewänder zur Hand.
»Ich denke, so seid Ihr präsentabel«, verkündete er schließlich. »Ich werde hinaufgehen und Euch anmelden.«
Joran erhob keine Einwände. Er folgte dem Alten die Treppe hinauf, blieb jedoch auf dem Treppenabsatz stehen, während Jacopo die Kammer betrat. Joran hörte Schritte und murmelnde Stimmen, ohne dass er verstehen konnte, was gesprochen wurde.
Endlich öffnete sich die Tür und Jacopo bat ihn mit einer Geste, einzutreten. Joran machte einige Schritte in den Raum und blieb stehen, als sei er gegen eine Mauer gelaufen. Auf dem Treppenabsatz hatte er sich ein paar Worte zurechtgelegt, die er seiner Mutter sagen wollte, doch nun brachte er keinen Ton heraus. Die Frau, die von Kissen gestützt, vor ihm im Bett saß, erkannte er kaum wieder. Marliana war dünn geworden. Doch das war es nicht, was die Veränderung ausmachte. Seine Mutter war nie eine auffallend schöne Frau gewesen, doch sie hatte von innen heraus gestrahlt. In ihren Augen hatten Wärme und Liebe gelegen und wann immer sie ihn angesehen hatte, hatte er sich geliebt und geborgen gefühlt. Doch nun war da - nichts mehr.
Sie musterte ihn desinteressiert, bevor sie sich Jacopo zuwandte: »Du hast mir Ordelaf versprochen, Jacopo. Wo ist er? Wo ist mein Gemahl?«
Jacopo seufzte. »Ich habe Euch Euren Sohn gebracht. Joran. Freut Ihr Euch nicht, ihn zu sehen, Monna?«
»Ich habe keinen Sohn«, sagte Marliana. »Was hast du dir dabei gedacht, einen fremden Mann in meine Schlafkammer zu bringen?«
»Aber ...«
»Kein aber. Befiehl dem da, er soll verschwinden. Und dann sag der Köchin, wenn sie mir noch einmal so ein minderwertiges Frühmahl vorsetzt, kann sie sich eine neue Anstellung suchen.«
Joran wollte widersprechen, irgendetwas sagen, doch er konnte es nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Blick glitt am Gesicht seiner Mutter ab und suchte Jacopo.
Der Alte sah ihn an und die freudige Anspannung in seinen Augen war erloschen und hatte einem Ausdruck tiefer, ehrlich empfundener Trauer Platz gemacht. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Sie hat heute einen ihrer schlechteren Tage.«
Joran schloss die Augen, blieb einige Herzschläge lang reglos und zitternd stehen und atmete hörbar aus. Jacopo sagte nichts, aber er sah ihn auf eine Art an, die Joran begreifen ließ, dass er Bescheid wusste.
Langsam drehte er sich um und verließ die Kammer.
Lido di Venezia, 13. Juni 1256
Mit dem ersten Grau der Dämmerung vertäute Joran sein Boot neben Jacopos Sandolo am Kai, stieg an Land und machte sich auf den Weg zum Haus seines Dieners.
Jacopo bewohnte das ehemalige Haus der Ferroni auf dem Lido. Ordelaf Ferroni hatte immer davon geträumt, ein Grundstück am Rialto zu erwerben und dort den neuen Stammsitz der Familie zu errichten. Was er mit zähem Willen und eiserner Entschlossenheit auch geschafft hatte. Wie stolz er gewesen war, als er Frau und Tochter über die Schwelle der Ca´Ferroni hatte führen können! Joran hatte dieses Ereignis verpasst, was ihm zu dem Zeitpunkt nicht sonderlich tragisch erschienen war. Wie hätte er auch ahnen sollen, welches Unheil ihm bevorstand?
Er war vollauf damit beschäftigt gewesen, seine Habe zu packen. Sein Vater hatte ihm erlaubt, nach Akkon überzusiedeln, um dort eine Zweigniederlassung für den Handel mit der Levante zu errichten, die allein seiner Verantwortung unterstehen sollte. Er hatte in eine Zukunft geblickt, die sich glänzend und verführerisch vor ihm erstreckt hatte. Bis er Lucca begegnet war und seine Träume in tausend Splitter zerborsten waren.
Joran schnaubte. Lucca war tot und stellte kein Problem mehr da.
In seiner Schultertasche trug er die Reliquie aus Akkon. Er war sich noch nicht sicher, welchen Preis er dafür verlangen sollte. Der Diebstahl war riskant gewesen und hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Bis heute wusste er nicht, welchem glücklichen Zufall er die Gelegenheit zur Flucht verdankte. Im Grunde war ihm das Warum auch gleichgültig, einzig der Erfolg zählte. Allerdings hatte der Vorfall dazu geführt, dass ihm die Lust auf weitere Abenteuer dieser Art erst einmal gründlich vergangen war. Das Dumme daran war nur, dass alles, womit er sich bisher beschäftigt hatte, weit weniger profitabel war, als er es sich gewünscht hätte. In einer Stadt wie Venedig, wo die Handelsrouten der ganzen bekannten Welt zusammenliefen, war er nichts weiter als eine winzige Ameise im großen Volk der Händler und Kaufleute. Sicher, er war jung für einen Händler, aber weder hatte er ein Vermögen im Rücken, noch verfügte er über die Ressourcen und Kredite alteingesessener Handelshäuser.
Folglich musste er aus dem Verkauf genügend Profit herausschlagen, um einerseits freies Kapital zu haben, mit dem er sich in lukrative Unternehmungen einkaufen konnte und andererseits den Unterhalt seiner Schwester zu sichern. Leocadia lebte auf der Burg eines Freundes, ein Arrangement, über das sie keineswegs glücklich war. Aber daran ließ sich nichts ändern, bevor er nicht als Kaufmann Fuß gefasst hatte. Gleich morgen würde er den Kommissionär seines Auftraggebers aufsuchen und dann - dann begann sein neues Leben.
Langsam schritt er den Trampelpfad entlang, um auf die dem Meer zugewandte Seite des Hauses zu gelangen. Eine hüfthohe Mauer aus Ziegelsteinen umschloss das Grundstück und Joran stemmte sich kurzerhand auf die Mauerkrone hoch. Zuerst konnte er seinen Arm kaum belasten, doch er begrüßte den Schmerz in der noch nicht vollständig verheilten Wunde, weil er seine Gedanken beschäftigte, die sonst anderswo gewesen wären. Ein wenig vorsichtiger ließ er sich auf der anderen Seite ins Gras gleiten und sah sich um.
Das Haus erschien ihm kleiner, als er es in Erinnerung hatte, niedriger und gedrungener, mehr wie ein Arbeiterhaus. Dafür war der Feigenbaum, auf halbem Weg zur Hintertür, jetzt so hoch gewachsen, dass er die Hälfte des Gartens überschattete.
Es war kein Licht zu sehen. Doch Jacopo würde sicher schon aufgestanden sein und seine Morgensuppe verzehren, bevor er wie gewöhnlich seinen Rundgang machte, um die Schweine, Hühner und Gänse in den Gehegen entlang der Mauer zu füttern.
Jorans Herz raste und sein Atem ging schneller, während er zwischen den sorgfältig gejäteten Gemüsebeeten hindurch zur Hintertür des Hauses schritt. Was würde ihn erwarten?
Er drückte mit dem Unterarm gegen die Tür und diese wich knarrend zurück.
»Jesus!«
Jacopo schoss von seinem Schemel hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Eindringling. »Joran! Va all´inferno! Könnt Ihr nicht klopfen?«
Joran trat in die Küche und schloss die Tür. »Ich habe dir doch geschrieben, dass ich komme.«
»Oh ja, das habt Ihr. In der Tat. Ohne Datum und so vage, dass ich nicht einmal wusste, ob Ihr dieses Jahr meint oder vielleicht erst das Nächste.«
Joran zuckte die Schultern, schlenderte betont lässig zum Herd und inspizierte den Topf mit Suppe, der dort leise vor sich hin köchelte. Er nahm eine Schale vom Wandbord, füllte sie mit Suppe und trug sie zum Tisch. »Sei so gut und gib mir ein Stück von deinem Brot. Ich bin hungrig.«
Jacopos Blick sprach Bände. Doch er griff nach dem halben Laib Brot auf dem Tisch und schnitt mehrere dicke Scheiben davon ab, die er Joran zuschob.
»Ihr seht aus wie ein Pirat«, bemerkte er gallig. »Und Ihr riecht auch so.«
»Ich war vier Wochen auf See.«
Jacopo schnaubte. »Euer Vater würde sich in seinem Grab herumdrehen, könnte er Euch so sehen.«
Joran griff nach einer Brotscheibe. »Lucca? Wohl kaum.«
»Ich rede nicht von Lucca, wie Ihr sehr wohl wisst. Ihr solltet Euch wirklich abgewöhnen, den Bastard zu erwähnen. Besonders in Gegenwart von Monna Marliana. Es wäre ihrer Gesundheit nicht zuträglich.«
Joran starrte auf seine Finger hinunter, die kaum merklich zitterten. Eilig legte er den Löffel in die Schale und versteckte die Hände im Schoß. »Wo ist meine Mutter?«
»Oben. Ich habe sie in ihrer alten Kammer untergebracht. Sie schläft noch.«
Joran sprang auf. »Ich muss zu ihr.«
»Halt!« Jacopo griff nach seinem Arm und hinderte ihn daran, die Treppe ins obere Stockwerk hinaufzustürmen. »So könnt Ihr Euch bei Eurer Mutter unmöglich sehen lassen, Messèr Joran. Eure verwilderte Erscheinung würde sie nur unnötig in Aufregung versetzen. Was Ihr besser nicht riskieren solltet.«
Joran erstarrte. »Was willst du damit sagen, Jacopo?«
Der Alte seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«
»Jacopo! Raus mit der Sprache! Was ist mit meiner Mutter?«
Der Diener wies mit einer Handbewegung Richtung Tisch. »Setzt Euch und esst Eure Suppe, bevor sie kalt wird. Ich werde inzwischen Wasser heißmachen, damit ihr Euch waschen und rasieren könnt.«
»Du weichst mir aus. Seit wann bist du ein solcher Feigling?«
»Es besteht keine Veranlassung, mich zu beleidigen«, gab der Alte zurück. »Messèr Contarini konnte mir für den Fall Eurer Rückkehr keine Empfehlung geben und hat mir geraten, meinem Gefühl zu folgen.«
Wütend machte Joran einen Schritt auf ihn zu. »Was soll das bedeuten?«
Jacopo musterte ihn kühl. »Es bedeutet, dass ich versuche, Monna Marliana vor dem Schock zu bewahren, den sie zweifellos erleiden würde, bekäme sie Euch so zu Gesicht«, antwortete er. »Ihre Gesundheit ist angegriffen. Sie fürchtet sich entsetzlich vor allem Fremden und dieses Ziegenfell, das Ihr Euch habt stehen lassen, macht Euch nahezu unkenntlich. Sie müsste nur einen Blick auf Euch werfen und der Tag wäre für sie verloren, bevor er auch nur begonnen hätte. Das kann ich nicht zulassen.«
»Mit anderen Worten, sie hat den Verstand verloren.«
»So würde ich es nicht bezeichnen«, widersprach Jacopo. »Es ist nur sehr leicht, sie aus der Fassung zu bringen. Oft weint sie dann und weigert sich zu essen.«
»Weigert sich, zu essen ...« Joran fand, er müsse erschüttert sein, doch er stellte fest, dass er für Erschütterung zu erschöpft war. Er ging zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Wie hast du sie gefunden?«
Jacopo trat zum Herd, schürte das Feuer und setzte einen Kessel mit Wasser auf.
»Das war nicht mein Verdienst«, sagte er. »Diese Ehre gebührt Renier Contarini.«
»So, so.«
»Die näheren Umstände kenne ich nicht. Messèr Renier hat einen Brief für Euch hinterlassen, der erklärt, was Ihr wissen müsst. Ich hole ihn gleich. Esst derweil Eure Suppe.«
Jacopo eilte aus der Küche. Joran nahm den Löffel in die Hand und tauchte ihn in die Suppe, doch dann konnte er nichts essen. Sein Magen, der vor kurzem noch hungrig geknurrt hatte, schien sich zu einem unlösbaren Knoten verschlungen zu haben. Er legte den Löffel auf den Tisch und erhob sich. Etwas drängte ihn, sich zu bewegen, etwas Zorniges und Wildes, das ihn innerlich aufheulen ließ, aber es war einfach zu übermächtig, als dass er sich dagegen wehren konnte. Seine Faust bewegte sich fast ohne sein Zutun und sauste auf den Tisch nieder, dass die Schüsseln sprangen. Schmerz schoss durch seinen Arm und brachte ihn wieder einigermaßen zur Besinnung. Er sank erneut auf seinen Stuhl, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und verschränkte die Hände unter dem Kinn. Auch ohne Reniers Brief zu lesen, wusste er, was drinstehen würde. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit es ihnen gemeinsam gelungen war, seine kleine Schwester Leocadia aus dem Hurenhaus des Bischofs zu befreien. Von seiner ebenfalls gefangen gehaltenen Mutter hatten sie jedoch keine Spur entdeckt und Joran hatte sich mit dem Wissen abgefunden, dass sie nicht mehr am Leben war. Irgendwann war ihm der Gedanke sogar tröstlich erschienen und hatte geholfen, seine Empfindungen in Schach zu halten. Bis jetzt. Doch nun überschwemmte ihn erneut dieses grauenhafte Gefühl der Hilflosigkeit. Seine Mutter hatte gelitten, so sehr, dass ihr Verstand sich weigerte, dem Schrecken noch länger standzuhalten. Und er war daran schuld.
Jacopo betrat die Küche, den linken Arm mit Gewändern behängt, die er vor Joran auf den Tisch legte. »Ich habe einige Sachen Eures Vaters herausgesucht, die Euch passen dürften. Und hier ist der Brief.«
Joran nahm die Botschaft entgegen und legte sie ungeöffnet auf den Tisch. »Ich lese sie später. Hilf mir lieber, das Ziegenfell loszuwerden.«
»Mit Vergnügen«, murmelte Jacopo. Er holte Rasiermesser und Schere, füllte eine Schüssel mit dampfender Lauge und machte sich an die Arbeit.
Joran ertrug die Prozedur schweigend. Nur als Jacopo die frische Narbe auf seiner Wange berührte, entfuhr ihm ein unmutiges: »Pass doch auf!«
»Cavolo, was ist Euch denn zugestoßen! Ihr habt Euch doch nicht etwa auf eine Messerstecherei eingelassen?«
»Schwertkampf«, knurrte Joran und brachte Jacopo damit nachhaltiger zum Verstummen, als ein Befehl es gekonnt hätte. Der Alte fragte auch nicht nach der Herkunft der Verletzung an seinem Arm, sondern ging ihm wortlos beim Waschen und später beim Anlegen der sauberen Gewänder zur Hand.
»Ich denke, so seid Ihr präsentabel«, verkündete er schließlich. »Ich werde hinaufgehen und Euch anmelden.«
Joran erhob keine Einwände. Er folgte dem Alten die Treppe hinauf, blieb jedoch auf dem Treppenabsatz stehen, während Jacopo die Kammer betrat. Joran hörte Schritte und murmelnde Stimmen, ohne dass er verstehen konnte, was gesprochen wurde.
Endlich öffnete sich die Tür und Jacopo bat ihn mit einer Geste, einzutreten. Joran machte einige Schritte in den Raum und blieb stehen, als sei er gegen eine Mauer gelaufen. Auf dem Treppenabsatz hatte er sich ein paar Worte zurechtgelegt, die er seiner Mutter sagen wollte, doch nun brachte er keinen Ton heraus. Die Frau, die von Kissen gestützt, vor ihm im Bett saß, erkannte er kaum wieder. Marliana war dünn geworden. Doch das war es nicht, was die Veränderung ausmachte. Seine Mutter war nie eine auffallend schöne Frau gewesen, doch sie hatte von innen heraus gestrahlt. In ihren Augen hatten Wärme und Liebe gelegen und wann immer sie ihn angesehen hatte, hatte er sich geliebt und geborgen gefühlt. Doch nun war da - nichts mehr.
Sie musterte ihn desinteressiert, bevor sie sich Jacopo zuwandte: »Du hast mir Ordelaf versprochen, Jacopo. Wo ist er? Wo ist mein Gemahl?«
Jacopo seufzte. »Ich habe Euch Euren Sohn gebracht. Joran. Freut Ihr Euch nicht, ihn zu sehen, Monna?«
»Ich habe keinen Sohn«, sagte Marliana. »Was hast du dir dabei gedacht, einen fremden Mann in meine Schlafkammer zu bringen?«
»Aber ...«
»Kein aber. Befiehl dem da, er soll verschwinden. Und dann sag der Köchin, wenn sie mir noch einmal so ein minderwertiges Frühmahl vorsetzt, kann sie sich eine neue Anstellung suchen.«
Joran wollte widersprechen, irgendetwas sagen, doch er konnte es nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Blick glitt am Gesicht seiner Mutter ab und suchte Jacopo.
Der Alte sah ihn an und die freudige Anspannung in seinen Augen war erloschen und hatte einem Ausdruck tiefer, ehrlich empfundener Trauer Platz gemacht. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Sie hat heute einen ihrer schlechteren Tage.«
Joran schloss die Augen, blieb einige Herzschläge lang reglos und zitternd stehen und atmete hörbar aus. Jacopo sagte nichts, aber er sah ihn auf eine Art an, die Joran begreifen ließ, dass er Bescheid wusste.
Langsam drehte er sich um und verließ die Kammer.