Der Schmied

Stalker

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Muchnara 12
Der Schmied

Missmutig warf Keron einen dicken Ast der auf dem Boden sitzenden Sylissa in den Schoß.
„Hier, nimm den oder wirf ihn weg“, knurrte er.
Sylissa hob den Ast auf und betrachtete ihn kritisch.
„Der ist gut genug“, meinte sie knapp und fing an, mit einem Messer seine Zweige zu entfernen.
Keron drehte sich mit einem stillen Seufzer zu Samara um. Die zuckte mit ihren Schultern.

Während Sylissa weiter an ihrem Stock herumschnitzte, suchten Keron und Samara Laub und Bruchholz zusammen. Bereits hier, nur knapp unterhalb des Grates, zeigte sich die Wetterscheide durch den Wassergipfel. Während es auf der anderen Seite stark geregnet hatte, war es hier absolut trocken geblieben. Sie warfen alles auf einen Haufen und zündeten ihn mit einem Feuerzeug an, das Sylissa am Gürtel trug. Keron und Samara stellten sich um die aufzüngelnden Flammen, die zum Tal hin von einem dichten Busch abgeschirmt wurden, und genossen die wachsende Hitze. Als das Holz zu knacken anfing, stemmte sich Sylissa auf ihrem inzwischen fertigen Stock in die Höhe und gesellte sich ebenfalls zu ihnen.
„Dem Schmied können wir vertrauen, ich kenne ihn schon länger. Er heißt Deogenes und wird uns helfen“, sagte sie und hielt ihre Schuhe näher an das Feuer. „Vor allem brauche ich einige Kräuter.“
„Für dein Knie?“
„Ja“, nickte sie. „Aber auch für Askar.“ Sie dehnte sich seufzend, um dann Keron und Samara ernst anzusehen. „In einem offenen Kampf würden wir unterliegen.“
„Was sollen wir dann machen?“, fragte Keron.
„Wir vergiften ihn, und dann soll er sein Leben gegen das von Farah eintauschen.“ Sylissa grinste matt. „Dafür brauche ich die Kräuter.“

*​

Der Abstieg in das Tal führte sie zu einem schmalen Pfad, der sich den Hang in unregelmäßigen Serpentinen hinabschlängelte. Die Steigung ließ immer weiter nach, bis der Weg geradlinig durch einen dichten Wald verlief. Sylissa konnte ihr verletztes Knie nicht beugen, so stützte sich bei jedem Schritt mit beiden Armen auf ihrem Stock ab, um dann das Bein nachzuziehen. Samara und Keron blieben hinter ihr. Beide waren noch nie auf der Rückseite des Wassergipfels gewesen und unterhielten sich leise über den verblüffenden Unterschied der Landschaft auf beiden Seiten des Berges, die hier nahezu paradiesisch wirkte.

Als der Wald vor ihnen heller zu werden schien, hob Sylissa den Arm. Keron und Samara hielten sofort an.
„Wir sind gleich da“, sagte Sylissa mit gedämpfter Stimme.
Sie atmete hörbar schwerer, und ihr Rücken glänzte vor Schweiß.
„Wartet hier, ich sehe nach, ob die Luft rein ist“, fügte sie hinzu und humpelte weiter.

Samara sah ihr nach, bis sie außer Sicht war, dann wandte sie sich Keron zu.
„Erstaunlich, dass sie es bis hier geschafft hat.“
„Manche Leute treibt der Hass mehr an als alles andere“, erwiderte Keron. Nachdenklich führte er hinzu: „Obwohl das für eine Zauberin ungewöhnlich sein soll. Angeblich soll es eine ihrer drei Haupttugenden sein, nicht dem Hass zu verfallen. Sie schwören es bei ihrer Vereidigung, hörte ich.“
„Du meinst das Promissum?“, fragte Samara.
„Dem was?“
„Promissum heißt ‚das Versprechen’ in ihrer alten Sprache. Das ist ihr Schwur gegen Neid, Gier, Hass und Unwissenheit. Nur wer ihn ablegt, darf als Kampfzauberin ihr Land verlassen.“
„Das mit der Unwissenheit höre ich zum ersten Mal. Es klingt sonderbar, von einer Kriegerin Bildung zu verlangen.“
„Es geht nicht um Bildung, sondern um den Missbrauch ihrer Kräfte.“
Ein leiser Ruf unterbrach ihr Gespräch. Sylissa winkte ihnen von einer Buschinsel aus zu.
„Sylissa unterliegt aber nicht mehr dem Promissum, denn sie ist eine Ausgestoßene“, raunte Samara noch, dann ging sie auf die Zauberin zu.

Hinter der Buschinsel öffnete sich die Landschaft zu einem weiten Tal. Die Schmiede war in der Wiesenlandschaft gut zu erkennen, lag aber noch mehr als eintausend Schritte entfernt.
„Woher weißt du, dass es keine Falle ist?“, fragte Keron misstrauisch.
„Ich habe mit Deogenes einige geheime Zeichen vereinbart“, antwortete Sylissa.
„Du kennst ihn schon länger?“, fragte Keron.
„Schon immer ...“, antwortete sie und prüfte den Sitz ihres Haares. Plötzlich unterbrach sie sich und packte wieder den Stock mit beiden Händen. Sie warf Keron und der auf der anderen Seite neben ihr gehenden Samara einen ernsten Blick zu. „Das ist geheim, selbst Askar weiß nichts davon. Ich habe es euch nur verraten, weil es nicht anders ging.“

Beim Näherkommen hörten sie ein plätscherndes Knarren. Die Schmiede hatte an der Seite ein Wasserrad, das von einem kleinen Bach angetrieben wurde. Das Rad schien altersschwach zu sein und gab dem emsig strömendem Wasser nur mit stockendem Knarren nach. Dann erklang das dumpfe Hämmern von Eisen. Sylissa legte ihren Zeigefinger gegen die Lippen, straffte sich und schritt ihrer Verletzung zum Trotz betont gleichgültig um die Hauskante.
„Dein Wasserrad knarrt. Und du willst ein Schmied sein?“

Samara sah, wie der Mann seinen schweren Hammer auf den Amboss legte und sich langsam umdrehte. Er war bereits älter, sichtlich über fünfzig, doch von aufrechter Gestalt und mit breiten Schultern. Mit einem offenen Lächeln ging er auf Sylissa zu, die ihn mit strahlend blauen Augen anlächelte, und umarmte sie mit seinen kräftigen Armen.
„Heh! Nicht so fest!“, protestierte Sylissa schwach.
„Ach was!“, dröhnte er dumpf und hob sie hoch, um sie wie ein Kind umherzuschaukeln. „Seit wann so empfindlich?“ Er sah zu Samara und Keron hinüber. „Wen hast du da mitgebracht?“ Er stellte Sylissa wieder auf ihre Füße und ließ sie los.
„Wir arbeiten zusammen“, antwortete sie. „Du kannst ihnen vertrauen.“
„Das sind nicht zufällig Farahs Vater und Samara?“ Er grinste über Sylissas Gesichtsausdruck. „Ich weiß alles über die Sache mit Askar.“
„Du hast wohl überall deine Nase drin stecken?“
„Nicht unbedingt die Nase.“ Deogenes Grinsen wurde breiter. „Eine von Askars leichten Mädchen ist hier vorbeigekommen und hat sich bei mir ausgeweint.“
Sylissa lachte. „Armer Askar. Jetzt verlassen ihn auch die Huren.“
„Ja“, er klopfte ihr kräftig auf die Schulter. „Seine Bande löst sich immer weiter auf.“ Er wurde ernst. „Aber sie ist immer noch stark.“
„Ich weiß, mit roher Gewalt kommen wir nicht zum Ziel. Aber ich habe bereits einen Plan. Ich brauche dafür Geposporen und ...“
„Du brauchst zuerst ein Bett“, unterbrach Deogenes sie sanft aber bestimmt. Er legte einen Arm um ihre Schultern und drehte sie in Richtung des Hauseingangs. „Leg dich hin, ich kümmere mich um unsere Gäste.“
Sylissa sträubte sich noch etwas, doch Deogenes schob sie weiter zur Tür.

„Was ist mit ihrem Bein passiert?“, fragte Deogenes, nachdem Sylissa im Gebäude verschwunden war.
„Sie ist in der Klamm auf das Knie gestürzt“, antwortete Keron.
„Ihr seid durch die Klamm gelaufen?“ Er schüttelte den Kopf. „Das war bestimmt Sylissas Idee. Um diese Jahreszeit riskiert das kein normaler Mensch.“
„Wir haben es überlebt.“
Der Schmied lachte. „Ihr gefallt mir! Kommt, ich mache uns etwas zu essen, dabei können wir uns unterhalten.“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Geposporen ... woher sollte ich dieses Teufelszeug denn haben?“, murmelte er und ging in das Haus.

Im Haus bot er Keron und Samara zwei Plätze an einem großen Tisch an. Der Raum erinnerte Keron an die Küche seiner Eltern, er war ebenfalls groß und strahlte jene unerklärliche Aura aus, die jene Räume charakterisierten, die wirklich bewohnt wurden. Kaum waren seine Gedanken in die Vergangenheit abgeglitten, da brachte ihn ein erhaschter Blick in den linken Nebenraum, aus dem Deogenes einen weiteren Stuhl herbeiholte, zurück in die Gegenwart. Er schien allerlei merkwürdige Behälter aus Glas und anderen, ebenfalls exotisch erscheinenden, Materialien zu beherbergen. Der Schmied ging anschließend in die Küche und kam mit einem Laib Brot und einem Schmalztopf zurück zum Tisch.
„Sylissa schläft“, meinte er und schnitt eine dicke Scheibe Brot ab. Er reichte sie Samara und deutete auf das Schmalz. „Nur zu! Leider habe ich nichts Besseres da, doch es ist frisch.“ Er schnitt weitere Scheiben ab und forderte Keron auf, sich ebenfalls zu bedienen.

Sie aßen zunächst schweigend, bis Keron endlich seine Scheu vor dem fremden Mann überwinden konnte.
„Hat dieses Mädchen euch etwas über meine Tochter erzählt?“, fragte er.
„Sie wusste nicht viel darüber“, antwortete Deogenes. „Nur, dass Herl sie in einen geschlossenen Wagen gesperrt hat und außer sich selbst Niemanden zu ihr lässt.“
Keron wurde blass.
„Sie meinte, er sei misstrauisch geworden, vor allem gegenüber seinen eigenen Leuten. Es wäre zu bösen Streitereien gekommen, und schließlich wäre die Stimmung unerträglich geworden. Deswegen wäre sie auch abgehauen“, erzählte der Schmied weiter.

Samara bemerkte, wie betroffen Keron war. Sie wollte ihm etwas Beruhigendes sagen, fürchtete jedoch, er könne ihre eigenen Ängste durchschauen, und so alles nur noch schlimmer machen. Sie dachte noch nach, als sich die rechte Tür öffnete und Sylissa hereinhumpelte. Sie machte einen sehr erschöpften Eindruck auf sie, offensichtlich kamen jetzt, wo die Anspannung nachließ, ihre Strapazen verstärkt zum Durchbruch.
„Was willst du denn hier?“, fragte Deogenes sie tadelnd.
Die Zauberin warf ihm einen undefinierbaren Blick zu und setzte sich neben ihm an den Tisch.
„Ich kann nicht schlafen“, meinte sie. „Zuerst müssen wir die Befreiung planen.“
„Du kannst es nicht erwarten?“, fragte Samara.
„Nein, das kann ich nicht. Und du solltest es auch nicht. Spätestens der Hinterhalt sollte deutlich gemacht haben, wie gefährlich die Lage ist. Ich verstehe zwar nicht, wieso die Grenzkommandanten dermaßen plump handeln, anstatt alles möglichst geräuschlos zu vertuschen, doch wenn Askar davon erfährt, könnte er die Nerven verlieren.“
„Du meinst, er könnte endgültig untertauchen?“
Sylissa nickte. „Genau.“
„Dann könnest du dich nicht mehr rächen.“

Sylissas Augen blitzten grünlich auf. „Ja!“, fuhr sie Samara an. „Wenn dieser Blödmann abhaut, ist alles verloren.“ Verärgert schlug sie auf den Tisch. „Jetzt hört doch endlich auf zu fressen! Jemand muss das Lager ausspionieren, und ...“
„Jetzt beruhige dich wieder“, unterbrach Deogenes sie sanft. „Du bist doch sonst auch vernünftig.“
Sie sah ihn erst verärgert, dann fragend an.
„Das Freudenmädchen ist in der letzten Nacht geflohen“, erklärte Deogenes. „Sie hat mir über das Lager mehr erzählt, als jeder von uns ausspionieren könnte. Und bis Morgen haben wir noch genügend Zeit, uns vorzubereiten.“ Er schob ihr das Brot zu. „Mit leerem Magen kann man nicht denken. Du musst ausgeruht sein, sonst machst du noch einen Fehler, den du dir nicht verzeihen würdest.“

*​

Nach der kleinen Mahlzeit half Keron dem Schmied bei seiner Arbeit. Er trieb mit den Beinen zwei Blasebälge an, um die Glut in der Esse weiter anzuheizen. Die Anstrengungen des Vortages steckten ihm noch gehörig in den Knochen und der beständige Wiegetritt schmerzte in den Oberschenkeln, doch es half ihm, seine Anspannung abzubauen. Um sich noch mehr von den Sorgen um seine Tochter abzulenken, ließ er sich erneut Sylissas Erklärungen während des Essens durch den Kopf gehen.

Sylissa hatte ihnen während des Essens ihren Plan erklärt, und er war allen einleuchtend vorgekommen. Nur an einer Stelle hatte es eine Auseinandersetzung gegeben, als Samara feststellte, dass Keron das gesamte Risiko tragen müsse. Er hatte den aufkommenden Streit zwischen den beiden Frauen beendet, indem er behauptet hatte, er wolle es so, denn nur so könne er seinen Stolz als Vater bewahren.
„Immer diese Streiterei!“, knurrte er unbewusst.
„Frauen sind nun mal so“, antwortete der Schmied und unterbrach sein Hämmern.
„Leider“, seufzte Keron. „Dabei könnte eine ehrliche Entschuldigung viel helfen.“
„Ihr meint Sylissa?“, fragte Deogenes. Als Keron sichtlich zögerte, machte er eine zustimmende Geste. „Nehmt es nicht persönlich. Sylissa hält Entschuldigungen für leeres Geschwätz.“
„Ihr scheint sie sehr gut zu kennen.“
„Wir sind mehr als nur Freunde.“ Er lachte, als Keron ihn anstarrte. „Nein, nicht so. Ich könnte ihr Vater sein.“
„Aber Ihr müsst zugeben, dass es nach mehr als nur einer Freundschaft aussieht, wenn man euch Beide zusammen sieht.“
„Das ist es auch.“ Er wandte sich wieder seinem Werkstück zu.

Samara machte sich währenddessen in der Küche nützlich und bereitete ein kräftiges Essen vor. Deogenes hatte ihr ein Huhn gegeben, welches sie rupfte und ausnahm, um es in einem Topf kochen zu können. Das Gewissen plagte sie, ein solches Mahl zuzubereiten, während Farah in irgendeinem Karren litt, doch Deogenes hatte sie darum gebeten.

„Du bereitest ein kleines Festmahl vor?“, sagte Sylissas Stimme hinter ihr.
Samara drehte sich um. Sie hatte die Zauberin trotz ihres Humpelns nicht bemerkt.
„Deogenes hat mich darum gebeten“, erklärte sie.
Sylissa sah sie einen Moment nachdenklich an und nickte. „Ja, das dachte ich mir.“ Sie stellte ihren Stock in eine Ecke und zog sich einen Stuhl heran, auf den sie sich schwerfällig setzte.
„Deinem Knie geht es nicht gut?“, fragte Samara und sah kritisch Sylissa an. Ihr Gesicht war von einer tiefen Erschöpfung gezeichnet, die in den letzten Stunden nicht abgenommen, sondern noch gewachsen zu sein schien. Samara fragte sich, ob das sichtlich angeschwollene Knie die einzige Ursache dafür war.
„Morgen musst du mir den Rücken freihalten, Samara. Ich muss mich ganz auf Askar konzentrieren können, dabei kann ich nicht gleichzeitig auf die Umgebung achten, verstehst du?“, sagte Sylissa, ohne auf die Frage einzugehen.
„Du kannst dich auf mich verlassen.“
Sylissa schien den Worten nachzulauschen, als ob sie nach einem Vorwurf darin suchte, den sie erwartet hätte. Mit einem unmerklichen Nicken zog sie zwei kleine Fläschchen aus einer ihrer Rocktaschen und stellte sie auf den Tisch. „Dies ist das Gegenmittel für die Geposporen. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber wir könnten sie ebenfalls abbekommen. Die Anderen habe ich bereits damit versorgt.“

Die Fläschchen waren aus Glas und enthielten eine blaue Flüssigkeit. Sylissa bemerkte Samaras misstrauischen Blick.
„Eine für dich und eine für mich. Suche die heraus, die ich trinken soll“, forderte sie Samara auf.
Die nahm eines der Fläschchen, zog den Korken heraus und trank sie in einem Zug aus.
„Eigentlich hättest du mich zuerst trinken lassen müssen“, meinte Sylissa und trank das andere Fläschchen leer.
Samara zuckte mit ihren Schultern. „Sag mir lieber, was für ein Gift diese Geposporen sind.“
„Es sind Pilzsporen. Wenn man sie einatmet, entwickeln sie sich zu Fadenpilzen, die den ganzen Körper durchwachsen. Das Opfer stirbt schließlich einen grässlichen Tod, der Tage andauert.“
Samara erblasste.
„Das ist teuflisch!“, stieß sie hervor. „Genügt es dir nicht, Askar einfach zu töten?“, fragte sie verächtlich.

Sylissas wurde nicht, wie von Samara erwartet, zornig. Stattdessen sah sie Samara lange an, bis sie zu einer Antwort ansetzte.
„Askar wäre leicht zu töten. Ich könnte mich zum Beispiel zusammen mit einem Söldner an sein Lager anschleichen und aus dem Hinterhalt erledigen. Ich kenne Amazonen, die für Gold jeden töten würden.“ Sie holte etwas Atem. „Aber, falls du es vergessen haben solltest, wir haben eine Abmachung: Ihr helft mir bei Askar, und ich helfe euch bei Farah.“ Sylissa stand auf. „Ich halte immer mein Wort“, sagte sie, während sie die Küche wieder verließ.
 



 
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