Der Schrei am stummen Lebensende

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Wieder erscheint das Trachtenpärchen im Aufenthaltsraum. Beide Frauen sind zierlich, ihre weißen Haare sind zu einer Art Pagenkopf geschnitten. Sie winken und trällern ein Hallo.

Kaum jemand im Aufenthaltsraum grüßt zurück oder hebt den Kopf, schon gar nicht die Oma, die aufrecht auf ihren Sessel sitzt und beharrlich den Mund zu öffnen verweigert. Da kann die kleine Gabel mit dem Schokokuchenstück noch so sehr vor ihrem Gesicht wie eine Biene summen und einen Landeversuch auf ihren Lippen wagen. Manchmal öffnet sie die entzündeten Augen und zeigt ihre Trauer. Oder ist es bloß Gleichgültigkeit oder Entrücktheit? Das Trachtenpärchen macht sich wieder auf den Weg. Eine hinter der anderen, denn der enge Gang erlaubt es nicht, Hand in Hand nebeneinander zu gehen. Matte Farben, blau, grün, hin und wieder auch eine ockerfarbige Tür dominieren die Runde. Der Gang schlängelt sich sanft bergauf, mäandert ein wenig, Türen sind halb offen oder verschlossen. Immer weiter, nun leicht bergab, bis man wieder im Aufenthaltsraum landet. Die lieben Damen winken und werden erneut nicht beachtet. Schon fünfmal sind sie die Runde gegangen, vielleicht sogar noch öfter, aber wer zählt das schon. Dieses Mal setzen sie sich vor Erschöpfung ächzend an den Tisch und schauen die Oma erwartungsvoll an. Ihre Tochter hat es aufgegeben, mit der Gabel vor ihrem Gesicht zu kreisen und summende Geräusche zu machen. Nun drückt sie einen Schnabelbecher an Omas Lippen. Ein guter Tee, sagt sie, Und gar nicht heiß. Hm, gut und gar nicht heiß, stimmt die Frau in der blau geblümten Tracht ein. Lecker, ergänzt die andere im rosa Trachtenrock und fährt mit ihrer auffallend roten Zunge ihre Lippen entlang. Hat sie keinen Durst, fragt die Blaue. Die Tochter hebt die Schultern und lässt sie wieder fallen. Ich weiß es nicht, flüstert sie. Omas Augen sind wieder geschlossen. Ihre immer noch vollen aber rissigen Lippen scheinen nicht aufeinandergepresst zu sein, doch nicht ein zehntel Millimeter passt zwischen Ober- und Unterlippe. Hm, so ein guter Kuchen, sagt die Blaue. Ihr könnt ihn haben. Die Oma isst ihn nicht. Die Tochter schiebt den Teller zum Trachtenpärchen hin, die sich über den Schokokuchen hermachen. Die Blaue füttert die Rosane, denn es gibt nur eine Gabel. Schnell sind sie fertig, die Blaue schleckt die Gabel ab, die Rosane macht mit der Zunge den Teller sauber. Ist sie deine Oma, fragt die Blaue. Nein, sie ist meine Mutter, aber seit der Geburt des ersten Enkels sagen alle Oma zu ihr.

Gleich ob Wochentag, Samstag oder Sonntag ging die Altbäuerin gegen 10 Uhr vom kleinen Haus, das ihr im Ausgedinge zum Wohnen zugedacht worden war, zum mächtigen Haupthaus mit seinen drei Stockwerken. Ungewöhnlich groß war es für ein Bauernhaus in dieser Gegend. Durch die Wohnküche mit dem ausladenden gemauerten Bauernofen gelangte sie in die Speisekammer, in der sich die Gerüche von Gemüse, allerlei Kräutern, großen Stücken Geselchtes und aufgehängten Würsten, Zwiebeln und Kartoffeln vermischten. Sie musste sich nicht lange umsehen, denn sie wusste vom Vortag, welche Vorräte in der Kammer lagerten. Nur manchmal hatte ihre Tochter Maria, die den Hof übernommen und zu einem Reitstall umgebaut hatte, verschrumpeltes Gemüse entfernt oder frische Eier eingelagert. Längst gab es auch einen Kühlschrank, in dem sich Milch, Butter, frisches Fleisch und manch anderes, das in der Speisekammer verderben würde, befand. Sie überlegte, was sie zu Mittag auf den Tisch stellen könnte. Auf alle Fälle würde es eine Suppe geben. Die Einlage – Grießknödel, Eintropf, Rollgerste, zuweilen auch Leberknödel oder Lungenstrudel - entschied sie meist erst beim Kochen, je nachdem, was verbraucht werden sollte. Auch der Käferbohnensalat, der mit Kürbiskernöl mariniert wurde, kam zumindest an drei Tagen einer Woche auf den Tisch. Kartoffeln im Schmalz gebraten gab es ebenso häufig. Selten gab es kein Fleisch, obwohl Maria darum bat, dass abwechslungsreicher und weniger fett gekocht werden sollte. Essen und Kochen war das Lebenselixier der Oma. Die Familie versorgen und um sich versammeln, machte sie glücklich. Besonders wenn die zweite Tochter, die in Wien als Volksschuldirektorin lebte, mit deren Tochter Valerie zu Besuch kam, überlegte sich die Oma ein Festtagsessen. Gebackenes Huhn, Schweinsbraten oder ein gekochtes Rindfleisch mit Semmelkren und Rotkraut wurde dann serviert. Aber auch die Wiener wollten nicht mehr traditionell essen. Mehr Gemüse und weniger Kalorien waren angesagt. So durfte die Oma nicht mehr jeden Tag kochen. Sie versuchte ihren Speiseplan anzupassen, aber es fehlte ihr das Gefühl für die Zubereitung von gegrilltem Fisch oder einer Lasagne ohne Fleisch. Schließlich durfte sie gar nicht mehr für die Familie und die Hilfskräfte kochen. Sie kam immer weniger oft in die Küche und wenn sie in die Speisekammer trat, wurde sie zurückgepfiffen. Längst hatte sie Vorräte in ihrem kleinen Haus angehäuft, denn das neumodische Essen schmeckte ihr nicht.


Ihr achtzigster Geburtstag wurde noch groß gefeiert. Der Enkelsohn, der den Hof einmal übernehmen sollte, gleichwohl er als Manager mehr im Ausland als in der Heimat war, kam mit dem Verteilen der Fleischstücke und Bratwürste vom Highend-Griller kaum nach. Um die Salate und Beilagen hatten sich die beiden Töchter gekümmert, genauso wie um die Torten und Mehlspeisen, die ob der mitgebrachten Bäckereien und Torten der Gäste ein Ausmaß annahmen, wie man es selten zu sehen bekam. Bei den Vorbereitungen war die Oma also ausgeschlossen. Immerhin konnte sie das Fest genießen, auch wenn sie am späteren Nachmittag so schläfrig wurde, dass sie sich in ihr kleines Haus zurückziehen musste.



Auf die Demenzstation ist der Leiter des Pflegeheims in der Bezirkshauptstadt mächtig stolz. Sie ist speziell für Menschen mit Gedächtnisstörungen und fallweiser oder gänzlicher Verwirrtheit eingerichtet worden. Besonders gern führt er Besucher durch den Gang, der im Aufenthaltsraum beginnt und in einem Bogen wieder dorthin führt. So endet die vermeintliche Flucht mancher Bewohner wieder beim Ausgangspunkt. Viele merken es nicht, manche sind sogar zufrieden, wieder in der gewohnten Umgebung anzukommen. Nur die Oma hat sich noch nie auf den Weg gemacht, seit sie hier aufgenommen worden ist. Agnes, ihre Wiener Tochter, hat lange nach einer passenden Station gesucht. Es war nur kein Platz frei und sie musste den Leiter über Wochen beknien, bis er eine Lösung für die Oma fand. Anfangs hat sie noch ein wenig gesprochen, mit dem Pfleger und auch mit den Töchtern, wenn sie zu Besuch gekommen sind. Sie isst nur wenig, so wenig, dass man die Insulinspritzen zunächst reduziert und später sogar abgesetzt hat. Ihre von dem Diabetes geschädigten Augen werden trotzdem nicht mehr besser. Sie sieht alles nur verschwommen, sodass nur Radiohören als Abwechslung bleibt. Die überwiegende Zeit liegt sie in ihrem Bett. Zweimal täglich schiebt sie ein Pfleger in den Aufenthaltsraum, wo er den Rollstuhl an der Stirnseite eines Tisches parkt. Wenn Valerie, ihre Enkeltochter, die Mutter begleitet, gelingt es ihr, der Oma durch wiederholtes Umarmen, Tätscheln und Streicheln den Hauch eines Lächelns und ein „Ist schon gut“ abzuringen. Meistens teilen sich die Töchter die Besuche auf, einmal kommen sie aber zu zweit ins Pflegeheim. Sie sind sich nicht einig, wie man mit der Oma umgehen soll. Agnes verweist auf die kleinen Erfolge ihrer Tochter. Reden alleine sei sinnlos. Da die Oma keine Reaktion zeige, wüsste man nicht einmal, ob sie vom Gesagten etwas versteht. Maria zweifelt insgeheim daran, dass Valerie die Oma zum Lächeln gebracht hat. Sie räumt ein, dass Reden anscheinend nicht helfe, aber man wisse nicht, was im Kopf der Oma vorgeht. Alleine die Anwesenheit könne der Oma ein wenig Freude bereiten, auch wenn sie das nicht zeigen kann. Hand halten, ja, aber Abbusseln und Streicheln sei doch etwas übertrieben. Die Oma habe das nie gewollt. Agnes trägt andererseits einen tiefen Groll in sich, da ihre Schwester die Oma schwer vernachlässigt hat, obwohl sie wegen des Ausgedinges für ihre Pflege zuständig ist.

Und so kommt es, dass die eine Tochter Neuigkeiten aus dem Dorf erzählt, während die andere ihre Mutter streichelt und ihre Hand küsst. Das Trachtenpärchen kommt vorbei, kichert und verschwindet wieder im Gang. Von alldem scheint Oma unberührt zu sein. Ihre Augen sind geschlossen, ebenso der Mund. Sie sitzt reglos in ihrem Rollstuhl, die für dieses Alter ungewöhnlich aufrechte Haltung lässt an eine Wachsfigur denken. Wieder kommt das Trachtenpärchen vorbei. Nun setzen sich die beiden mit an den Tisch. Eine Zeitlang beobachten sie das skurrile Bild, das die entrückte Oma mit den bemühten Töchtern an beiden Seiten abgibt.

Ist sie tot, fragt die Blaue. Maria schüttelt missbilligend den Kopf. Aber, es sieht so aus, beharrt die Blaue. Die Rosane beugt sich mit einer schnellen Bewegung, die ihr niemand zugetraut hat, zur Oma und zwickt sie in die Wange. Die Töchter haben damit nicht gerechnet und können die Rosane nicht rechtzeitig abwehren. Bitte nicht, entfährt es nach einer Schrecksekund der Tochter aus Wien. Geht zu einem anderen Tisch, sagt Maria sichtlich aufgebracht. Sie weint, sagt die Blaue und zeigt auf Omas Gesicht. Und wirklich findet sich eine Träne auf ihrer rechten Wange und eine weitere tritt aus dem linken Auge. Agnes trocknet die Wange mit einem Taschentuch und fängt die zweite Träne damit auf. Maria holt währenddessen eine gläserne Proviantbox aus ihrer Tasche, in der sich ein Käferbohnensalat befindet, der Geruch des dunkelgrünen Kürbiskernöls verbreitet sich im Raum. Schau nur Oma, dein Lieblingssalat, sagt Maria und will sie mit einem kleinen Löffel füttern. Und oh Wunder, Oma öffnet den Mund. Sie reißt ihn geradezu auf. Maria ergreift die seltene Gelegenheit und schiebt der Oma zwei Käferbohnen in den Mund. In der selben Sekunde beginnt die Oma wie ein weidwundes Tier zu schreien. Die Käferbohnen kollern durch die Wucht des Schreis wieder heraus und das Kürbiskernöl rinnt das Kinn hinunter. Nach einer Schrecksekunde wenden sich alle Anwesenden der brüllenden Oma zu, der Pfleger eilt herbei und fragt, was passiert sei. Maria hält den Löffel noch in der Hand, so als könnte sie die Oma weiterfüttern. Erst langsam realisiert sie, dass die innere Not der Mutter ihren Mund sperrangelweit aufgerissen hat und nicht der Wunsch nach Essen. Die andere Tochter ist zunächst mit erhobenen Händen etwas zurückgewichen. Doch nur kurz. Sie umarmt ihre Mutter und spricht in ihr Ohr, dass sie ruhig schreien möge. Sie solle alles rauslassen, sie möge ihre Ängste und Sorgen nicht in sich hineinfressen. Dann wird es wieder still, bis auf das aufkommende Geschnatter des Trachtenpärchens und von den anderen Tischen. Hat es diesen Schrei gegeben oder ist er einer kollektiven Sinnestäuschung entsprungen? Als sei nichts passiert, sitzt die Oma mit geschlossenen Augen und geschlossenem Mund aufrecht in ihrem Rollstuhl. Nur Spuren des Kürbiskernöls auf ihrem Kinn bleiben als Zeugnis für das Vorgefallene. Agnes streichelt die Hand der Mutter und flüstert, wie lieb sie die Oma habe. Sie möge ruhig wieder schreien, wenn sie das Bedürfnis habe. Noch besser wäre es, wenn sie wieder reden könne. In der Zwischenzeit ist ein Arzt herbeigeeilt. Er kann nichts Ungewöhnliches feststellen. Seine Fragen, ob es ihr gut gehe und warum sie denn geschrien habe, verhallen im Raum. Ob sie zu der alten Frau im Rollstuhl dringen, kann niemand wissen, auch der Arzt nicht.

Einige Wochen später entscheiden die Töchter, dass die Oma nicht künstlich ernährt werden soll. Die einst stattliche Frau ist abgemagert, die Wangenknochen sind nur mehr von dünner bläulicher Haut überzogen. Sie kann nicht mehr zum Aufstehen überredet werden. Nur ihrer Enkeltochter Valerie gelingt es noch einmal, der Oma einen gehauchten Laut zu entlocken. Einen Tag später stirbt sie im Schlaf.


Zwei Jahre davor war sie weitgehend auf sich alleine gestellt. Maria kaufte für sie ein und wusch ihre Wäsche. Zeit zum Reden hatte sie nicht, da der neue Liebhaber besucht werden musste. Er war auch Bauer, sein Hof lag gute zwei Stunden von Marias Bauernhof entfernt. Zwar war der Enkelsohn mit Frau und Kind in das große Bauernhaus gezogen, aber auch er nahm sich kaum Zeit, nach der Oma zu sehen. Sie kam nur selten aus ihrem kleinen Haus. Und wenn, dann fiel ihr verwahrloster Zustand auf den ersten Blick auf. Ihre Haare waren ungekämmt. Sie hatte keine Schuhe an, nur Socken. Die Kleidung war fleckig. Wenn sie Maria so sah, was selten vorkam, steckte sie die Oma in die Badewanne und gab ihr neues Gewand. Sie schimpfte mit ihr, dass sie sich nicht so gehen lassen solle. Es war nicht klar, ob die alte Frau mit ihren Medikamenten und den Insulinspritzen zurechtkam. Maria behauptete ihrer Schwester gegenüber, dass die einsortierten Medikamente auch verbraucht wurden und sogar das Büchlein mit den Blutzuckermessungen von der Oma geführt wurde. Andererseits wirkte sie immer öfter orientierungslos und sprach wirres Zeug. Beim österlichen Besuch der Wiener Verwandtschaft begann die Oma vor dem Mittagessen am ganzen Körper zu zittern. Sie rutschte vom Stuhl und blieb bewusstlos liegen. Nachdem der Notarzt ihr Glukagon gespritzt hatte, erholte sie sich wieder. Er riet dringend zu einer Durchuntersuchung im Spital. Am Abend gerieten die Schwestern in einen veritablen Streit. Man dürfe die Oman nicht tagelang sich selbst überlassen, warf Agnes ihrer Schwester vor. Sie habe leicht reden, sagte Maria. Sie müsse die ganze Last tragen, während sie es sich in Wien gut gehen ließ. Agnes schlug ihr vor, eine Pflegerin zu engagieren. Sie würde sich an den Kosten beteiligen. Es kam nie dazu.
 



 
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