Der Sieg der Hoffnung über die Erfahrung – ein Essay über den menschlichen Eigensinn

Es gibt Sätze, die wie mit einem süffisanten Lächeln in die Welt gesetzt wurden. „Die Ehe ist der Sieg der Hoffnung über die Erfahrung“ gehört zweifellos dazu.

Der Spruch klingt, als hätte ihn jemand auf einer Hochzeit nach dem dritten Glas Sekt fallen lassen – halb bewundernd, halb mitleidig, ganz Mensch. Der Charme dieser Wendung liegt darin, dass sie zugleich spöttisch und tröstlich ist: Sie spöttelt über die Wiederholungsfreude des Menschen, der nicht lernt, dass das Glatteis des Lebens stets dünner ist, als es den Anschein hat.

Gleichzeitig tröstet sie, indem sie zeigt, dass wir trotz aller Erfahrung immer wieder bereit sind, das Herz oder den Stift – je nach Vertragssituation – in die Hand zu nehmen – es noch einmal zu wagen.

Die Herkunft dieses Satzes ist so nebulös wie mancher Eheschwur am Ende des Festes. Er taucht in politischem und gesellschaftlichen Zusammenhang auf, zum Beispiel in “Le Monde diplomatique” vom Dezember 2012. Dort wurde er verwendet, um zu beschreiben, warum Wählerinnen und Wähler trotz erlittener Enttäuschungen immer wieder auf dieselben Versprechen hereinfallen.

Auch hier triumphiert die Hoffnung über die Erfahrung – ein stets neu aufgeführtes Stück im Theater der Demokratie. Der Satz ist also weniger ein Zitat eines großen Denkers als vielmehr ein kollektives Seufzen der Menschheit über sich selbst, eine Art literarisches Schulterzucken mit Stil.

Doch bleiben wir nicht bei der Ehe oder den Urnen – beiderlei Art! Der Sieg der Hoffnung über die Erfahrung ist ein universelles Prinzip, das sich wie eine unsichtbare Melodie durch das Leben zieht. Jede neue Liebe, jedes Bewerbungsgespräch, jede Wohnung mit „altem Charme“, deren Heizung erst nach monatelanger Zähmung warm wird – überall triumphiert sie, die unermüdliche Hoffnung. Wir wissen, dass der neue Partner vermutlich auch Schnarchtendenzen entwickelt, der neue Job sich als Ninive der Büroakrobatik entpuppen oder die Traumwohnung ein akustisches Fenster zum Nachbarn bieten wird – und doch hoffen wir. Und das Beste daran: Wir tun es mit einem Lächeln.

Ich habe den Spruch von meinem Vermieter mit auf den Weg bekommen, als ich meine eigene Wohnung nach zwei Jahren aufgab, um mit meiner neuen Partnerin zusammenzuleben.

Goethe, dieser professionelle Beobachter menschlicher Selbsttäuschung, brachte es sanfter, ja beinahe zärtlich auf den Punkt: „Hoffnung ist die zweite Seele der Unglücklichen.“ Das klingt weniger nach Ironie und mehr nach Mitgefühl. Hier wird Hoffnung nicht als törichte Ignoranz gegenüber der Erfahrung verstanden, sondern als unverzichtbarer Überlebensmechanismus.

Ohne Hoffnung wäre Erfahrung bloß der graue Steinbruch des Lebens. Mit ihr wird er wenigstens zum Garten mit Aussicht. Wer hofft, widersetzt sich der reinen Statistik – und das ist vielleicht der letzte kleine Aufstand des Individuums gegen das nüchterne Gesetz der Wahrscheinlichkeit.

So bleibt der Satz vom Sieg der Hoffnung über die Erfahrung letztlich ein Lobgesang auf die innere Unvernunft des Menschen. Wir mögen das gleiche Spiel dutzendfach verlieren – aber der Einsatz, den wir bringen, ist immer ein neuer.

Vielleicht ist es genau diese kleine, trotzig leuchtende Flamme der Hoffnung, die uns unterscheidet von jenen, die gelernt haben, nichts mehr zu erwarten. Denn wer nicht mehr hofft, hat vielleicht zu viel Erfahrung gesammelt – und das ist, bei näherer Betrachtung, die gefährlichste Form der Altersweisheit.
 

Aniella

Mitglied
Hi @JuvenalMarlowe,

ich finde ja, Du hast es am Ende gut zusammengefasst, denn für mich wäre der Satz genauso:

Wer keine Hoffnung mehr hat, der hat zu viel Erfahrung gesammelt – oder noch nicht genug, denn es fehlen die positiven, die ja noch kommen könnten. Die Hoffnungslosigkeit zeigt ja nur die Angst vor einer erneuten Enttäuschung, die man durch eigenes Verhalten verhindern könnte? ;-)

Ich wünsche einen schönen Adventssonntag!

LG Aniella
 



 
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