Der Stüzpunkt

Stalker

Mitglied
Muchnara 8
Der Stützpunkt

Langsam beruhigte Keron sich. Er wischte sich schwer mit der Hand über das Gesicht und stand auf. Sein Blick fiel auf Aylene. Die hagere Frau stand scheinbar unberührt an der Wand und sah starr an ihm vorbei. Scham kam in ihm hoch, vor ihr geweint zu haben. Mit schmerzhafter Gewalt riss er sich zusammen.
„Ich gehe jetzt zum Stützpunkt“, sagte er.
Aylene sah ihn jetzt an. „Kann ich mitkommen?“, fragte sie.
„Natürlich, aber ich will dich nicht zwingen. Wenn sie es auf meine Familie abgesehen haben, werden sie bestimmt alle beseitigen wollen, auch dich.“
„Ich komme mit.“
„Danke. Ohne deine Ruhe würde ich das alles nie schaffen.“
„Ich ...“
„Schon gut“, unterbrach Keron mit sanfter Stimme Aylene. „Ich erkenne deinen Schmerz jetzt. Du unterdrückst ihn nur, so wie es damals Janina tat. Und ich versuche es nun ebenfalls.“ Er übersah Aylenes fragenden Blick und holte Luft. „Jetzt lass uns zum Stützpunkt gehen.“

Im Freien bemerkte Keron die tief stehende Sonne. Sie müssten sich beeilen. Der Weg zum Stützpunkt war schwierig und im Dunkeln gefährlich zu gehen. Er blickte zu der Frau hinüber, die scheinbar gelassen neben ihm stand. Vorhin noch hatte er sie unter einem Vorwand aus der Küche geschickt und gehofft, sie würde verschwinden, und war dann erleichtert, als sie wieder kam. Keron schüttelt den Kopf über sich selbst, dann ging er mit stapfenden Schritten voran.

*​

Als der Stützpunkt in Sicht kam, hatte die Abenddämmerung längst begonnen. Es war nur eine einsame Hütte, die am Ende des lang gezogenen Felsgrates stand, über den sie zum Gipfel hinaufgestiegen waren. Noch konnte man von ihr nicht viel mehr als einen dunklen Kasten erkennen. Mit bedächtigen Schritten balancierten sie sich über den immer schmaler werdenden Grat, der zu beiden Seiten hin steil abfiel, auf die Behausung zu.

Die Hütte stand auf einem kleinen Plateau, das von einem einfachen Holzzaun umfasst war. Dieser bestand aus eingerammten Pfosten, an denen eine waagerechte Lattenreihe entlanglief. Der Zaun machte bereits aus der Entfernung einen ungeplanten und primitiven Eindruck, und als sie das Gatter in ihm erreichten, war seine unfachmännische Bauweise nicht mehr zu übersehen.
„Sei vorsichtig mit den Füßen“, mahnte Keron. „Die Ebene ist tückisch, überall geht es tief nach unten, auch um die Hütte herum.“ Er deutete auf die etwa zehn Schritte entfernte Behausung.

Aylene hörte nur halb zu. Sie kniff ihre Augen zusammen und sah sich die Hütte genauer an. Die Tür schien von außen verriegelt zu sein, aber sie war sich bei dem schlechten Licht nicht sicher. Auf jeden Fall machte die Hütte einen deutlich solideren Eindruck als der Zaun, auch wenn sie schon einige Jahrzehnte alt erschien. Sie löste ihr Blick von ihr und suchte die Umgebung ab.
„Mein Vater hat mir erzählt, dass früher manchmal sogar die hier stationierten Soldaten verunglückt sind, bis sie sich den Zaun bauten“, drang Kerons Stimme in ihre Überlegungen.

Als er das Gatter öffnen wollte, hielt Aylene seinen Arm fest.
„Warte!“, stieß sie leise aber scharf hervor und streckte ihren anderen Arm aus. „Schau dir den Zaun links neben der Hütte an.“
„Wo ... ja, er ist dort zerbrochen.“ Keron hatte ebenfalls seine Stimme gesenkt.
„So, wie die Bruchstücke an den Pfosten hängen, kann es nicht lange her sein“, meinte Aylene.
„Stimmt, der nächste kräftige Windstoß würde sie abbrechen. Ob da jemand abgestürzt ist? Ich werde nachsehen.“
„Nein, lass mich das machen“, sagte Aylene. „Du bist zu groß.“

Ehe Keron etwas erwidern konnte, legte Aylene sich flach auf den Boden und schob sich elegant unter dem Zaun hindurch. Verblüfft sah er ihr zu, wie sie weiter kroch, und zum ersten Mal verstand er, was sie meinte, wenn sie von ihrer Ausbildung sprach.

Er verfolgte vom Gatter aus, wie Aylene bis zu der Bruchstelle kroch und sie untersuchte. Dann schob sie sich vorsichtig über die Kante und blickte in die Tiefe. Sie blieb dabei völlig lautlos, und Keron spürte, wie eine ihm unbekannte Spannung ihn ergriff. Doch nichts geschah, und schließlich stand Aylene auf und huschte zur linken Hüttenwand. Dort sah sie durch eines ihrer kleinen Fenster hinein. Danach schlich sie an der Wand entlang zurück zum Eingang der Hütte. Keron konnte nicht erkennen, was sie dort machte, doch dann winkte sie ihm auffordernd zu.

Keron stieg über den Zaun und lief zu ihr. Aylene deutete auf ein großes Vorhängeschloss.
„Die Hütte ist leer und von außen verschlossen“, sagte sie. „Vielleicht ist tatsächlich jemand durch den Zaun gebrochen, und jetzt holt sein Kamerad Hilfe.“
„Hast du unten etwas entdecken können?“
Aylene schüttelte ihren Kopf.
„Nein, es ist zu dunkel um etwas zu erkennen.“

Keron ging zu der Bruchstelle und sah hinunter. Unten waren die Wipfel eines Waldes zu erkennen, der bis auf wenige Schritte an die Felswand heranreichte. Doch es war zu dunkel, um etwas gut genug erkennen zu können, an dem er eine Entfernung hätte abschätzen können.
„Stimmt, das ist die Ostwand, die liegt jetzt im Schatten,“ meinte er.
„Wie tief geht es dort runter?“, fragte Aylene.
„Ich weiß es nicht. Leider war ich noch nie hier oben. Soll ich rufen?“

Aylene bemerkte erst jetzt, dass sie immer noch flüsterten. Der zerbrochene Zaun und der verlassene Stützpunkt kamen ihr immer merkwürdiger vor. Doch es könne unmöglich einer der Mörder abgestürzt sein, dachte sie, denn dann hätten seine Komplizen ihn geborgen. Und von einer Bergung waren keine Spuren zu erkennen.
„Ja, aber sei vorsichtig“, meinte sie.
„Mir ist auch nicht wohl bei der Sache“, nickte Keron. „Irgendetwas stimmt hier nicht.“ Er ging in die Knie, beugte sich weit vor und legte die Hände trichterartig um den Mund.
„Hallo? Ist dort unten jemand?“, rief er unterdrückt.

Er wartete etwas ab, dann rief er wieder: „Hallo? Ist dort unten jemand?“

„Wer fragt das?“, kam es überraschend aus der Tiefe zurück.

Aylene zuckte zurück. Diese Stimme!
„Sylissa!“, rief sie unwillkürlich aus. Sofort dämpfte sie wieder ihre Stimme. „Vorsicht, Keron, das ist Sylissa Chamal, Askar Herls rechte Hand. Sie ist gefährlich.“
„Von deiner Bande?“, fragte er.
„Meiner ehemaligen Bande. Sie haben mich verraten, und Sylissa ganz besonders.“

Ihre Stimme war zunehmend lauter und zorniger geworden, jetzt beugte sie sich über den Abgrund.
„Fahr zur Hölle, verräterische Hexe! Ihr habt die Ragnars umgebracht und Farah geraubt!“, rief sie wütend hinunter.
„Nein!“, kam es ebenso kräftig zurück. „Das habe ich nicht getan.“ Sylissas Stimme klang fest. „Natürlich musst du das glauben, Samara, doch so ist es nicht gewesen. Ich kann das erklären.“
„Alte Lügnerin!“
„Ich mag eine Hexe sein und manche halten mich für verräterisch, aber ich bin weder alt noch eine Lügnerin“, kam es gelassen und etwas spöttisch zurück. „Ich verstehe deine Wut auf mich, ich wäre es auch, doch du solltest mich anhören. Lasse mir ein Seil herab, damit ich die Wand hochklettern kann.“
„Ich soll dir helfen? Damit du uns anschließen umbringen kannst?“

Ein undeutlicher Schatten trat unten aus der Schwärze der Bäume. In der Dunkelheit waren ihre Umrisse nur schwer zu erahnen, doch dann winkte Sylissa mit beiden Armen nach oben.
„Hier bin ich!“

Aylene beugte sich wieder über den Abgrund, um Sylissa genauer zu erkennen. Plötzlich riss eine starke Kraft Aylene aus dem Gleichgewicht nach vorne, und wenn nicht eine ebenso große Kraft sie wieder zurückgeschleudert hätte, wäre sie nach unten gestürzt. So fiel sie lediglich zu Boden.

„Ich bin weder ernsthaft verletzt noch hilflos“, rief Sylissa nach oben. „Wenn ich gewollt hätte, würdest du jetzt hier unten liegen und dein Begleiter ebenfalls. Ich könnte auch weggehen, denn das hier ist ein Hang, der bis in das Tal reicht.“ Sie machte eine kurze Pause, und sprach dann mit noch etwas kräftigerer Stimme weiter. „Aber das will ich nicht! Ich will euch nichts anhaben, sondern möchte mit euch reden.“ Sie dämpfte ihre Stimme. „Doch wenn wir hier weiter so herumschreien, könnten Leute zu euch kommen, mit denen ihr bestimmt nichts zu tun haben wollt. Also helft mir endlich nach oben, damit wir vernünftig miteinander reden können.“

Keron verstand nicht, welche Kraft Aylene umhergeworfen hatte, doch er wollte keinesfalls die einzige Möglichkeit verlieren, die ihn vielleicht zu seiner Tochter führen könnte.
„Was wollt ihr für meine Tochter?“, rief er nach unten.
„Verdammt! Reicht mir endlich ein Seil runter! Dann sage ich es dir.“

Aylene war inzwischen wieder aufgestanden. Keron erhob sich ebenfalls, er erkannte deutlich die Ablehnung in ihrem Gesicht.
„Bitte!“, sagte er. Wir haben keine Wahl.“
Sie starrte ihn düster an und antwortete nicht.
„Was sollen wir sonst machen? Ich weiß nicht weiter. Bitte, ...“
„Na gut“, unterbrach Aylene ihn. „Ich traue ihr zwar nicht, aber wenn sie oder Askar uns hätten umbringen wollen, hätten sie es längst getan.“
Keron atmete auf und beugte sich wieder über den Abgrund.
„Warte, ich suche nach einem Seil“, rief er Sylissa zu.
„In der Hütte ist eines“, antwortete Sylissa.

Keron ging zur Hütte. Er hob einen Stein auf und schlug damit das Vorhängeschloss von der Tür. Es hätte Sylissas Hinweis nicht bedurft, denn er war schon öfters im Gebirge gewesen und hatte gelernt, wie gleich die Menschen sich hier verhielten. Insbesondere fand sich in nahezu jeder Hütte ein kräftiges Seil in der Nähe der Tür, um im Notfall nicht lange danach suchen zu müssen. So war es auch hier. Er nahm es von seinem Haken und eilte zurück zur Absturzstelle. Das eine Seilende band er um einen der Zaunpfähle, das andere Ende ließ er nach unten hinab.
„Soll ich dich nach oben ziehen?“, fragte er.
„Nein, es geht schon“, kam es zurück, dann straffte sich das Seil.

Er beobachtete gespannt, wie in unregelmäßigen Abständen ein kleiner Ruck durch das Seil lief, dann tauchten zwei zierliche Hände auf. Keron bückte sich, packte einen der Arme und zog die Fremde mit einem kräftigen Ruck ganz nach oben. Er hatte offensichtlich ihr Gewicht überschätzt, so kam sie etwas unsanft auf ihre Beine, doch es gelang ihr scheinbar mühelos das Gleichgewicht zu wahren. Keron trat einen Schritt zurück, um sie besser ansehen zu können.

Sylissa war eine knapp mittelgroße Frau von zierlichem Körperbau. In der zunehmenden Dunkelheit war ihr Gesicht kaum zu erkennen, doch auffällig waren ihre langen schwarzen Haare. Auch sie sah sich zunächst um, wobei sie der etwas abseits stehenden Aylene kurz zunickte, die aber nicht darauf reagierte. So wandte sie sich wieder Keron zu.
„Bist du der Vater von dem Mädchen?“, fragte Sylissa.
„Ja“, antwortete Keron. Er war von der direkten Anrede etwas verwirrt, übernahm sie aber unwillkürlich. „Was willst du für Farah haben?“
Sie schüttelte ihren Kopf. „Ich habe sie nicht entführt. Im Gegenteil, ich bin hier, weil ich bei der Sache nicht mitmachen wollte.“
„Aber du bist doch Herls rechte Hand?“
„Ich war es, bis er mich umbringen wollte“, antwortete Sylissa trocken.
„Askar wollte dich töten?“, fragte Aylene dazwischen uns stellte sich neben Keron.
„Allerdings!“, erwiderte Sylissa empört. „Ich wollte ihn und seine Bande verlassen. Dass er mich deswegen gleich würde umbringen wollen, hätte ich nicht gedacht. Er beauftragte diesen schleimigen Margor damit, doch Janon warnte mich vor ihm.“ Sie deutete zu der Bruchstelle im Zaun. „Dort wollte Margor mir sein Messer in den Rücken stoßen, doch ich konnte dem Stoß ausweichen und habe ihn stattdessen mit dem eigenen Schwung durch den Zaun brechen lassen.“ Sie machte eine verärgerte Handbewegung. „Diese Ratte hat mich aber noch irgendwie gepackt und mit in die Tiefe gerissen. Wir krachten zusammen durch die Bäume und auf den Boden. Vielleicht hätte er es überlebt, hätte er mich nicht mit in die Tiefe gerissen. Doch so diente er mir als Polster. Jetzt ist er tot und ich nicht einmal verletzt.“
„Und was machten die Anderen?“
Sylissa zuckte mit den Schultern. „Ich habe mich tot gestellt. Vermutlich glaubt Askar das auch, vielleicht aber auch nicht. Seinen Leuten wird er vermutlich irgendeine Geschichte über einen ‚Unfall’ erzählt haben. Außerdem waren sie in großer Eile.“
„Und weshalb wolltest du Askar verlassen?“, fragte Aylene.
„Wegen seines Kindes“, antwortete Sylissa und deutete mit dem Kinn auf Keron. „Askar wollte es entführen, ich war dagegen.“
„Du wolltest Farah nicht entführen und deshalb wollte Herl dich beseitigen?“, fragte Keron erstaunt.
„Das sollen wir dir glauben?“, ergänzte Aylene zweifelnd.

Sylissa schüttelte ihren Kopf. Leider war ihr Gesicht nicht zu erkennen, aber ihre Stimme klang ironisch.
„Nein, natürlich nicht. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorgegangen ist. Ich glaubte einmal, es zu wissen, doch dann dieser wahnsinnige Plan, das Mädchen zu entführen.“ Als Aylene zum Widerspruch ansetzte, machte sie eine abwehrende Handbewegung. „Natürlich nicht, weil ich niemanden entführen würde. Sondern weil ich das Risiko für viel zu hoch halte. Darüber haben wir uns gestritten, und ...“
„Das Risiko, eine Bauernfamilie zu ermorden und ein Kind zu rauben?“, unterbrach Aylene sie.

Sylissa schwieg.
„Sie haben seine Großeltern umgebracht? Das war unnötig ...“, sprach sie schließlich weiter, und es fand sich weder Ironie noch Bedauern in ihren Worten.
„Unnötig?“, rief Keron aufgebracht und schritt auf die Fremde zu. Er hob seine Faust, und blickte in den Schatten des Gesichts hinab, wo aber nichts außer Dunkelheit zu erkennen war. Langsam ließ er die Faust wieder sinken. „Wie kann man nur so denken?“
„Ich meinte, ich hätte es vermieden. Es ging nur um das Kind, nicht um seine Großeltern.“
„Was ist Askar an Farah so wichtig, dass er sie entführte?“, fragte Aylene rasch dazwischen. „Die Baragnars sind nicht reich.“
„Es geht nicht um die Baragnars, sondern um den Überfall von damals“, erwiderte Sylissa. Sie deutete auf die Hütte. „Das ist etwas verwickelt. Lasst uns dieses Verhör beenden und stattdessen in der Hütte weiterreden, dort erzähle ich alles von Anfang an.“ Sie wartete keine Antwort ab und ging voran in die Hütte.
 



 
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