Der Theaterbesuch

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Farzana

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Da saß ich also, mitten im Theater, umgeben von einem Hauch von Drama, das weit über die Bühne hinausging. Vor mir: Eine Frau mit Hijab, die den nackten Mann auf der Bühne mit einer Mischung aus Neugier und Faszination betrachtete. „Ich habe viele Männer gesehen, aber so einen noch nie,“ flüsterte sie, als wäre sie plötzlich zur Kunstkritikerin geworden. Neben ihr eine andere Frau mit Kopftuch, die völlig schockiert die Moralkeule schwang: „Er ist nicht beschnitten, haram, schau nicht hin!“ Und das war mein Abendessen-Theater: Ein moralischer Schlagabtausch über die Anatomie eines Fremden.

Doch dann betrat die Bühne ein anderer Mann. Kein gewöhnlicher Mann, nein, ein Chinese mit einer Stimme, die man eher bei einem Opernsänger erwarten würde. Als ich ihn ansah, war es um mich geschehen – Liebe auf den ersten Blick. Ja, wirklich, als wäre ich in einem kitschigen Roman gelandet, und mein Herz machte einen Satz, der nicht bloß nach Liebe, sondern nach einer akuten Herzrhythmusstörung klang. Aber nein, ich durfte nicht panisch auffallen. Keine panischen Atemzüge, keine Ohnmacht. Ich tauchte stattdessen mit ihm in eine Fantasiewelt ein, die mich mit jedem Atemzug tiefer in den Wahnsinn zog.

Plötzlich befand ich mich mit meinem chinesischen Adonis auf der Bühne, tanzte mit ihm, als gäbe es kein Morgen. Freude? Pah! Das war kein einfaches Glücksgefühl, das war pure Ekstase, die mein Herz höher schlagen ließ. Und da war es – nicht bloß ein Organ mit vier Kammern, das Blut durch meinen Körper pumpt. Nein, das Ding konnte tatsächlich fühlen! Es war, als hätte ich eine neue Dimension des Daseins entdeckt. Ein 250-Kilo-Körper, der sich plötzlich so leicht fühlte, als wäre er aus Feder. Ich fühlte mich wie ein eleganter Araberhengst, der über die Bühne galoppiert, während ich in seine Augen sah und mich fragte: Wer bist du, fremder Vertrauter, der in meine Fantasie eingedrungen ist und den ich dennoch so sehr vertraue?

Der Mann, der mir vorher aufgefallen war? Vergessen. Er existierte nicht mehr. Es gab nur noch mich und meinen chinesischen Traummann, allein in einer Welt, die für uns geschaffen war.

Dann kam die Theaterpause, und ich ging – nicht weil ich musste, sondern weil ich die reichen und schönen Frauen beobachten wollte. Eine Frau, die gerade ihre Perücke zurechtgerückt und ihren Push-up-BH neu befüllt hatte, sprach mich an. „Der Mann mit Glatze hat Bio-Eier, er ernährt sich gesund,“ sagte sie, als würde sie das Geheimnis des Universums preisgeben. Ich starrte sie an, fasziniert und verwirrt, was genau das für mich bedeuten sollte. Aber, um ehrlich zu sein, es interessierte mich nicht im Geringsten. Meine Gedanken waren bei meinem chinesischen Schwarm.

Und als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte die Frau: „Du bist verliebt.“ Ich verneinte sofort, „Nein, ich bin nicht verliebt.“ Doch innerlich wusste ich, dass ich mit jedem Herzschlag tiefer in eine Fantasie eintauchte, aus der ich vielleicht nie wieder auftauchen würde.
 

Mimi

Mitglied
Hallo Farzana,
Deine Kurzprosa lässt mich teilweise etwas ratlos zurück, weil das Ganze irgendwie ins Absurde bis Groteske kippt, aber gleichzeitig (oder merkwürdigerweise?) gefällt mir genau das eigentlich ganz gut.

Hier ein Beispiel aus dem Text für das, was ich meine:

Neben ihr eine andere Frau mit Kopftuch, die völlig schockiert die Moralkeule schwang: „Er ist nicht beschnitten, haram, schau nicht hin
Es ist ja für "fromme" Muslimas generell "haram" sich entblößte (männliche) Geschlechtsteile anzugucken. Da spielt es auch keine Rolle, ob nun beschnitten oder nicht.

Ich frage mich beim Lesen, was ist das bloß für eine Theatervorstellung?

Gruß
Mimi
 

petrasmiles

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Hallo Farzana,

da hat Mimi auf den Punkt gebracht, was ich beim Lesen Deines Textes empfand.
Deine 'Schreibe' ist so souverän, als würde das Verständnisproblem tatsächlich beim Leser liegen :)
Wer hat denn den 250 kg Körper - die Betrachterin (?), oder der Chinese?
Und ja, um Himmels Willen - was ist das für ein Theater?

Liebe Grüße
Petra
 

Farzana

Mitglied
Vielen Dank für eure Meinungen und Anmerkungen. Zu dem Text gehören noch 2 weitere Teile, aber die sind noch nicht soweit. Ich bin noch ganz am Anfang. Das "absurde" ist so gewollt. Mein Mann sagt, ich hätte da einen ganz eigenen Stil - was auch immer er damit meint. Ich hoffe es verstößt nicht gegen die Forenregeln, aber hier ist der 1. und der 2. Teil zusammen.


Der auffallend glatte Kopf: Ein Abend voller Überraschungen

Ich, mit meinen majestätischen 250 Kilo, rolle ins Theater der Reichen und Schönen – in meiner besten Jogginghose, weil man sich schließlich nicht verstecken sollte. Neben mir die Anwältin, die mich schon seit Ewigkeiten kennt, und mit einem wissenden Lächeln flüstert: „Das Stück heute Abend ist klug und tiefsinnig.“ Perfekt, dachte ich, während ich mich innerlich darauf vorbereitete, die intellektuelle Elite mit meinem scharfen Verstand zu beeindrucken – oder zumindest so zu tun.

Doch das wahre Drama spielte sich in der Pause ab. Eine Dame, bestimmt über hundert Jahre alt, thronte in der ersten Reihe mit einer Coco Chanel-Tasche, die mehr Glanz versprühte als der Kronleuchter über uns. Und was macht sie? Sie schleicht sich ans Buffet, füllt ihre Luxus-Tasche bis zum Rand mit 30-Cent-Brezeln – eine wahre Meisterin der Effizienz. Aber als wäre das nicht genug, greift sie noch eine Rolle Toilettenpapier und eine Klobürste aus dem Theaterbad und lässt sie verschwinden. Offensichtlich bereitet man sich in diesen Kreisen auf alles vor.

Doch dann kommt der Höhepunkt: Der Mann, den ich schon zuvor bemerkt hatte, tritt auf die Bühne – nackt. Ja, vollkommen entblößt, als hätte er beschlossen, die Welt mit seiner Glatze und noch mehr zu erleuchten. Seine Glatze glänzt im Scheinwerferlicht wie eine Vision aus einer anderen Welt, und sein skeptischer Blick trifft mich direkt: „Was machst du hier?“ Eine berechtigte Frage, während ich zum ersten Mal einen nackten Mann sehe, und dann auch noch in dieser edlen Umgebung. Doch anstatt peinlich berührt zu sein, tauche ich in eine Art tranceartigen Staunen, als würde dieser Anblick mir eine völlig neue Dimension des Theaters eröffnen.

Ein Abend voller Überraschungen, bei dem Brezeln, Klobürsten und eine glänzende Glatze alles in den Schatten stellten. Wer hätte gedacht, dass ich inmitten der Elite so viel „Enthüllendes“ erleben würde?


Da saß ich also, noch immer im Bann des Theaters, in dem das Drama nicht nur auf der Bühne, sondern auch in meinem eigenen Kopf tobte. Vor mir stand dieser chinesische Mann mit blauen Augen – eine Mischung aus einem Märchenprinzen und einem Opernsänger, der sich mühelos in meine Fantasie schlich. Seine glatten, langen Haare wirkten wie aus Seide, und sein schlanker Körper hätte jede Modenschau dominieren können. Während ich tief in dieser imaginären Welt versank, lehnte sich eine elegante Anwältin neben mir näher heran und flüsterte in einer verschwörerischen Stimme: „Er ist der Chef einer Firma mit 6000 Mitarbeitern, sehr gebildet und reich.“

Reich, gebildet, Chef von Tausenden? Jackpot! Mein Herz hüpfte vor Freude, und mein Verstand – immer so zuverlässig, wenn es darum geht, mich in absurde Tagträume zu stürzen – spielte wunderbar mit. War das wirklich real? Konnte es sein, dass alle um mich herum wussten, was in meinem Kopf vorging? Konnte man meine Gedanken lesen, meine Gefühle spüren? Ich begann mich selbst zu fragen und gleichzeitig mit mir selbst zu reden, als wäre ich plötzlich meine eigene Therapeutin.

„Wenn das nicht der Hauptgewinn ist, dann weiß ich auch nicht,“ dachte ich. „Danke, lieber Gott! Nicht nur, dass ich im Fett schwimme (ganze 250 Kilo), nein, jetzt werde ich auch noch reich verheiratet. Wer hätte das gedacht?“

In nur einem Abend, ja, in nur wenigen Augenblicken, verliebte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben – und das in einen reichen, gebildeten Chinesen mit blauen Augen. Ein Szenario, das wohl selbst in den kitschigsten Filmen kaum zu glauben wäre. Aber hier war ich, in meinem ganz persönlichen Film, in dem ich nicht nur die Hauptrolle spielte, sondern auch das Drehbuch schrieb.

Das Theater, dieses magische Theater, ermöglichte es mir, mich vollkommen in meine Fantasie zu stürzen. Die Figuren auf der Bühne verschwammen, wurden eins mit meinen Gedanken, meinem Herzen, meiner Seele und meinem Geist. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich, wie alles in mir in perfekter Harmonie zusammenkam – als ob das Universum nur auf diesen Moment gewartet hätte.

Und da saß ich, der glücklichste Mensch der Minute, vielleicht sogar des gesamten Abends. Aber nur eine Minute, denn Sarkasmus, mein ständiger Begleiter, klopfte an. „Wirklich?“, fragte er, „Du, die noch vor einer Stunde bei der Aussicht auf einen nackten Mann in moralische Schockstarre verfielst, bist jetzt bereit, dich mit einem blauäugigen Chinesen in eine Fantasie zu stürzen, die vermutlich in einem kitschigen Liebesfilm enden würde?“

Ja, wirklich. Warum nicht? Schließlich passiert so etwas nicht jeden Tag. Und während ich mich weiter in diesen Gedanken verliebte, wartete ich nur noch auf den Abspann meines inneren Films – oder zumindest auf die nächste Szene, in der ich vielleicht endlich herausfinden würde, ob der chinesische Mann mit den blauen Augen tatsächlich real war… oder ob er, wie so vieles in meinem Leben, nur eine schillernde Fantasie blieb, die mich für einen kurzen Moment zur glücklichsten Frau der Welt machte.
 

Vitelli

Mitglied
Hallo,

ja, ich muss Mimi ebenfalls beipflichten:
"Deine Kurzprosa lässt mich teilweise etwas ratlos zurück, weil das Ganze irgendwie ins Absurde bis Groteske kippt, aber gleichzeitig (oder merkwürdigerweise?) gefällt mir genau das eigentlich ganz gut."

Mir gefällt der erste Teil richtig gut, und eigentlich mag ich Absurdes sehr, aber irgendwie finden die beiden Ansätze keinen Einklang.

Trotzdem gerne gelesen.

VG,
V
 



 
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