Der Tod im Stadtpark

chaton

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Der Tod im Stadtpark

Ein angenehmer Frühsommertag, der alte Herr bewegte sich schwerfällig, doch vergnügt auf seinen Rollator gestützt durch den Stadtpark. Er steuerte seine bevorzugte Bank an, die unweit des Kleinkinderspielplatzes stand, jedoch in einem so großen Abstand, dass sie nicht von den Müttern und – seltener – Vätern genutzt wurde, die ihre Kinder beaufsichtigten. Auch mit Stadtstreichern war nicht zu rechnen, diese versammelten sich zu ihren alkgestützten Palavern in einer anderen Ecke des weitläufigen Parks.

Nein, es war eine typische Rentnerbank unter einer Rotbuche, die ordentlich Schatten spendete. Und am Vormittag, wenn er seine Frührunde drehte, war die Bank zumeist leer. So auch heute, was ihm recht war, denn um diese Tageszeit stand ihm nicht der Sinn nach Gesprächen mit AltersgenossenInnen über all die Gebrechen, die man im Alter bekommt, obwohl man sie gar nicht bestellt hat und auch gar nicht braucht. Seinen Vormittag widmete er der Beschaulichkeit, diesem Dolce far niente des Alters, das so manche Beschwerlichkeit vergessen ließ.

Da und dort rührte sich etwas. Sein Blick verfolgte amüsiert zwei Amseln, die eifrig auf dem kürzlich gemähten Rasen hin- und herliefen, immer wieder stehenblieben, um aufmerksam nach Gewürm oder Krabbeltieren zu spähen. Eine Gruppe junger SchülerInnen zog an ihm vorbei in einer Wolke aus lauten Wortfetzen, Geschrei und Gelächter. Ein Junge versuchte, einer Klassenkameradin an den Po zu packen. Das Mädchen drehte sich um und deutete einen Fußtritt in Richtung seiner Genitalien an. Beide lachten. Ein Mitarbeiter der städtischen Reinigung pickte gleichmütig Kippen und Papier aus dem Rasen oder klaubte sie vom Betonsteinpflaster des Weges und sammelte sie in einem großen Kunststoffbeutel, den er gemächlich neben sich herzog.

Der Tag brachte wieder einmal die gewohnte Zahl bunt gemischter kleinteiliger-Ereignisse hervor, banal oder schwachsignifikant, nicht der Rede wert und doch rührend. Und er dachte, wie schön es doch wäre, wenn jetzt aus dem Strom der bescheidenen Ereignisse, von denen er unzählige in seinem Leben mit seinen Augen gesehen hatte, eine Geschichte herausspringen könnte, lebendig und schön wie ein Delfin.

Doch längst wusste er, dass dies ein Wunsch bleiben würde, und er hielt es für die Eigentümlichkeit des Alters, alles Geschehen allerhöchstens als ein Patchwork der Ereignisse zu sehen, das kaum einmal eine Pointe zustande brachte. Nein, es mochten keine Geschichten entstehen, Anekdoten vielleicht.

Gleich werde gewiss wieder einer daher geschlurft kommen mit seinem Sandsack prall gefüllt mit Erinnerungen und auf der Suche nach einem geneigten Ohr, das sich das Geriesel anhört. Meistens fangen solche Leute ganz harmlos mit dem Wetter an. Damit loten sie aus, ob sie ein geeignetes Opfer für ihren Erinnerungsanschlag gefunden haben. Geht man aus Höflichkeit darauf ein, so ist man ihnen auf den Leim gegangen. Schon hängt man am Haken der eigenen Höflichkeit und kann den Kollegen nicht mehr abschütteln. Komisch, im Alter scheinen Männer und Frauen wieder unter sich zu sein mit ihren Palavern. Manche Kollegen sind kaum noch zu stoppen. Altersbedingte Sprechinkontinenz. Blättern durch ihr Leben, wie durch ein Fotoalbum. Aus den Fotos fallen Anekdoten, wie Fußnoten ihrer Existenz – genau das Richtige fürs Fußvolk des Daseins.

Er selbst war mit zunehmendem Alter noch weniger mitteilsam geworden, als er ohnehin schon gewesen war. Sein Leben war ein Kommen und Gehen von Ereignissen, Geschehen und Vorkommnissen. Und wenn er die Werbung der Reiseveranstalter sah, wie sie mit erlesenen Erlebnissen, spannenden Begegnungen und bleibenden Eindrücken lockten, so konnte er nur milde lächeln. In seinem ganzen Leben hatte er nicht einen Urlaubstag aus dem Reisekatalog verbracht. Sein Erleben der Welt hatte er sich selbst besorgt und oft ging die Reise gleich um die Ecke los. Man muss nur die Augen aufmachen und schon ereignet sich etwas, Geschehen, wohin man blickt, in der Natur oder in der Welt der Menschen. Teils ist man selbst als handelnde Person dabei oder als Betroffener, noch häufiger als Zuschauer.

Freilich ist der Strom der Ereignisse nicht gleichmütig. Immer wieder bäumt er sich auf. Aber hat die Welt je etwas Schönes erlebt, auf einer vergleichbaren Stufe mit der katastrophalen Atombombe über Hiroshima?

Die Christen behaupten, die Geburt Jesu sei ein Ereignis tausendmal schöner als jedes Unglück dieser Welt. Der Beginn einer ungeheuer schönen Geschichte, der Geschichte unserer Erlösung vom Bösen. Eine schwierige Geschichte, niemand kann sie erzählen.

Der Tod seiner Lebensgefährtin hatte ihn hart getroffen und er mochte mit niemandem über seine geliebte Frau sprechen. War ihr gemeinsames Leben eine Geschichte? Möglich, aber nicht für ihn. Sein Leben mit ihr wollte sich ihm nicht als Geschichte zeigen.

Oder erfreuliche Ereignisse, wie kürzlich der Geburtstag seiner Urenkelin. Der Wievielte war es überhaupt? Vier oder fünf. Fünf schon, wie die Zeit vergeht. Dann müsse sie bald in die Schule. Nur nicht zu früh. Ihn hatte man damals schon mit fünf in die Schule gejagt. Viel zu jung war er, wie es ihm später oft schien. Noch viel zu verspielt, noch nicht ausgespielt. Eigentlich hatte er nie aufgehört zu spielen, hatte das Leben nie wirklich ernst genommen, es oft verdächtigt, ein übler Scherz zu sein. Auch vom Sozialleben ließ er sich nicht überzeugen – zu viel Heuchelei, Verlogenheit schon in der Intimität zweier Menschen. Vielleicht war auch dies ein Grund dafür, dass in ihm keine Geschichten heimisch werden wollten und ihm nichts Erzählbares über die Lippen kam.

Eine türkische Mutter, eine Mutter mit türkischen Wurzeln oder Hintergrund, genervt stellte er fest, dass er mit den Sprachregelungen, die in den Medien verbreitet wurden, nicht mehr zurechtkam und es auch gar nicht mehr wollte, jedenfalls eine Frau mit typischem Kopftuch und knöchellangem schwarzen Mantel lief mit ihrem Kinderwagen vorbei, hatte irgendein Kind drin. Welche Geschichten diese Leute hier wohl leben würden? Lebten sie überhaupt Geschichten? Oder setzte sich ihr Leben auch nur aus Ereignissen, freudigen und weniger freudigen, zusammen, die kaum den Grad eines Erlebnisses erlangten. Diese Frau – und nicht nur diese da – schien seltsam ungerührt auf die Welt zu blicken, in ihren Gesichtszügen lag eine eigenartige Starre.

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Wie aus dem Nichts erscholl das Knattern eines Hubschraubers und schwoll an. Schon tauchte er über ihm in niedriger Höhe auf, bewegte sich Richtung Unfallklinik im Osten der Stadt, war hinter einer Häusergruppe verschwunden. Der Motorenlärm erstarb abrupt. Irgendwo ein Unfall, vielleicht auf der Autobahn, dachte er mechanisch. Ein Spatz schaute vorbei, hüpfte näher an ihn heran und schien mit geneigtem Köpfchen fragend zu ihm emporzublicken. Nein, er hatte keine Krumen dabei. Das Tier hüpfte unschlüssig umher und schwirrte wieder davon.

So viele Ereignisse, nahm er den Faden seiner Betrachtung wieder auf. Vielleicht hatte er sich nicht aus dem Strom der Geschehnisse lösen können (oder gar nicht wollen?). Hatte sich sanft treiben lassen, anstatt einen festen Grund zu legen, einen Plan zu verfolgen und sich mit sorgfältig geplanten und kalkulierten Ereignissen seiner Wahl zu umgeben, die übrigen grundsätzlich abprallen zu lassen oder nur an sich heranzulassen, wenn sie in den eigenen Kram passten. Die Leute leben wie Spinnen in ihren Netzwerken. Zu allen Zeiten gab es Netzwerke, irgendwann zerreißen Netze und es müssen neue geknüpft werden. Wo sind ihre Geschichten?

Seine Gefährtin hatte wohl verstanden, dass er höchstens mit einem Bein in der sozialen Realität stand. Er organisierte sein Berufs- und Sozialleben mehr schlecht als recht. Interessierte sich kaum für sein berufliches Fortkommen, ließ Gelegenheiten aus, die er hätte ergreifen müssen, hatte keine „Connections“. Mit dem anderen Bein stand er in seinen Betrachtungen. Aber es waren keine Träumereien, nein, er war kein Traumtänzer. Ihm konnte es durchaus passieren, zu sozialen Ereignissen ein paar Sätze zu sagen, die ruckzuck einen Punkt aufs „i“ der Gesellschaft setzten, wenn es wieder mal darum ging, irgendeine Verlogenheit oder Bösartigkeit beim Namen zu nennen. Aber er war nicht missionarisch, kein Eiferer der Gerechtigkeit.

Sein Blick fiel auf die Biene, die sich der Phaceliagruppe neben der Bank genähert hatte und damit begann, sich in die kleinen Blütenkelche zu drängen, den Nektar zu erbeißen und noch mehr Pollenstaub in den Körbchen ihrer Hinterbeine zu sammeln. Und er konnte sich nicht satt schauen am winzigen und unermüdlichen Geschehen, von einem Blütenkelch zum anderen. Ging die Biene systematisch vor, von der Intensität des Duftes geleitet oder gondelte sie dem Zufall folgend von einer Blüte zur anderen? Manchmal kam sie zurück zu einem zuvor besuchten Kelch, von dem sie sogleich wieder abließ. Offenbar bemerkte sie, dass sie die Blüte schon geleert hatte. Schließlich summte sie in einem weiten Bogen und Höhe gewinnend davon. Ende des Ereignisses. Natürlich könnte er in der Fachliteratur nachlesen, wie die Ereignisse dieser Biene weitergehen und am Ende wäre ein sich wiederholender Kreislauf erforscht und beschrieben. Aber sollte er das bei jedem Ereignis tun, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte? War es nicht für ihn wichtiger, einen Zipfel der allgegenwärtigen Dynamik dieser Welt zu erhaschen?

Wieder erfüllte jäh ein Dröhnen die Luft. Der Rettungshubschrauber schien auf dem Rückflug zur Unfallstelle zu sein, musste wohl noch wen eilig abholen. Gleichzeitig ertönte in der Ferne an verschiedenen Ecken im Norden der Stadt das Geheul von Sirenen. Offenbar rückten zahlreiche Löschzüge der Feuerwehr aus. Oha, da war wohl etwas Größeres passiert, vielleicht ein Werksunfall. Darüber könnte morgen etwas in der Zeitung stehen – mindestens im Lokalteil.

Jetzt hatten Hubschrauber und Sirenen ihn aus seiner Beschaulichkeit gerissen und seine Nachdenklichkeit geweckt. Er dachte: Und wieder ein Unfall aus der Serie „Der Mensch und seine Technik“, eine Episode aus der Geschichte menschlicher und technischer Unzulänglichkeit, die niemand erzählte.

Und mit einem Mal fiel ihm eine Diskussion ein, die er einst mit einem Studienkameraden geführt hatte. Damals waren sie jung und erprobten viele Ideen. In ihrem Eifer sprachen sie über exakte Größen und schlüssige Formeln und Gesetze, die Äonen überdauern. Schon die alten Römer wussten, dass 1 + 1 = 2 ist und alles Geschehen dieser Welt werde daran nichts ändern. Aber alles Gesetzes- und Formelwissen der Menschen kratzt nur an der Oberfläche der Welt, der Materie und der menschlichen Seele. Und in jedem Know-how steckt die „Erbsünde“ der menschlichen Begrenztheit. Alle Vorkehrungen können das Unglück nicht aus der Welt schaffen.

Unsere Erkenntnisse scheitern unvermeidlich am unzureichenden Verstehen der Materie und unser selbst. Jedes Unglück holt uns auf den harten Boden unserer Begrenztheit zurück, schmerzhaft und nicht selten tödlich.

Und selbst wenn — in der theoretisch-illusorischen Annahme — unsere Intelligenz der Materie und der Materialien, die wir ihr für unsere Zwecke entnehmen und formen, absolut perfekt wäre, so könne immer noch ein Mensch unvorhersehbar an die Schwachstelle geraten — als fahrlässiger Bediener oder vorsätzlich als Saboteur. Und aus der Schwachstelle bricht das Unglück hervor, überwindet alle Schranken. Überall hausen Schwachstellen, weil dies so sein muss, angefangen in unserem eigenen Körper …

Hinter den Häusern und Baumgruppen wurden wieder Hubschraubergeräusche laut, sie schwollen an, schienen über ihm stehenzubleiben, das Klatschen der Rotorblätter wurde immer intensiver, bohrte sich förmlich in sein Bewusstsein. Der Kopf sank vornüber, der Körper sackte ergeben in sich zusammen, der Lärm wurde weiche Watte, klang aus und verstummte weit hinten.

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Zügig scrollte der Chef der Lokalredaktion durch die jüngsten Meldungen des Polizeipräsidiums. Die übliche Mischung aus Delikten und Unfällen. Er hielt inne. Die vielleicht, das wäre doch was für eine kleine einspaltige Notiz im Lokalteil, als Füller. Rentner, Stadtpark, Bank, Herzversagen. Kann der Volontär machen.

Der Schwefeldioxidaustritt im Chemiewerk im Norden der Stadt war das beherrschende Thema. Ein dramatisches Unglück, zu dem er selbst einen ausführlichen Bericht schreiben musste. Drei tote und fünf schwer verletzte Mitarbeiter waren zu beklagen. Verätzungen der Haut und der Atemwege. Die Oleumdämpfe hatte die Werkfeuerwehr mithilfe der Berufsfeuerwehr schließlich mit einem Wasserschleier niedergeschlagen. Für die umliegenden Betriebe und die benachbarten Wohnbezirke bestand keine Gefahr. Zur Unfallursache und dem genauen Hergang gab es noch keine Informationen. Anrufe bei der Werksleitung und den zuständigen Behörden waren erforderlich. Die Leute wollen in solchen Dingen Klarheit und keine Verschleierung – weder der Ursachen noch der Verantwortlichkeiten. Traurig für die Angehörigen. Schemenhaft kam ihm noch einmal dieser Parkbank-Rentner in den Sinn. Doch dessen Tod blieb stumm.
 



 
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