Der Traum

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Er verfluchte das Rasseln seines Weckers. Schlimm genug, dass er ihn aus den wildesten Träumen, in denen zumeist seine neue Nachbarin vorkam, riss und ihn unerbittlich daran erinnerte, dass ihm ein weiterer trister Arbeitstag im Versicherungsbüro bevorstand, doch sein schrilles Geräusch auch noch nach einer durchzechten Nacht mit seinen Kegelbrüdern zu hören, hielt Markus für undankbar gegenüber den sauer erarbeiteten 49,90 DM, die ihn dieses historische Etwas gekostet hatte.

Viel lieber war ihm da schon der Radiowecker, denn um Punkt 7 begann Frau Schönbrecht mit ihrer liebreizenden Stimme, die so völlig im Gegensatz zu ihrem Nachnamen stand, mit der Durchsage der aktuellen Nachrichten. Zärtlich raunte sie seinem Wecker und somit ihm die Uhrzeit und den Wetterbericht zu, und kein Flugzeugabsturz und keine Geiselnahme dieser Welt konnte ihrer Stimme die unvergleichliche Erotik nehmen.

Markus war erstaunt, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte, ihre Stimme überhaupt auch nur entfernt vernommen zu haben an diesem Morgen und so fiel sein Blick sogleich auf den Radiowecker.

Die Stromzufuhr war offenbar tadellos, der Wecker schien die korrekte Uhrzeit wiederzugeben. Er überprüfte die Einstellung, doch auch sie war richtig: Weckruf mit Radio. Der leuchtend rote Punkt war noch immer in der linken Ecke der Digitalanzeige zu sehen, also hatte er ihn nicht ausgeschaltet. Irritiert und zu dieser Stunde von dem Problem völlig überfordert, rückte er den Schalter in alle Richtungen, doch auch die Einstellung “Radio” ließ keinen Ton verlauten.

“Miststück!” fluchte er, riss den Wecker aus der Steckdose und warf ihn gegen die Wand.

Natürlich würde er sich heute Nachmittag darüber ärgern, ihn zertrümmert zu haben, doch damit konnte er sich jetzt nicht befassen und genaugenommen wollte er das auch gar nicht.

Als er sich aufrappelte und unter die Dusche stellte, zwang ihn der plötzlich dröhnende Kopfschmerz dazu, sich an den vergangenen Abend zu erinnern.

Natürlich war er es wieder gewesen, der am Ende des Abends eine Pudelmütze auf dem Kopf hatte zum Zeichen, dass er der unbegabteste Kegler von ihnen gewesen war. Und beim anschließenden Skat mit den Kumpels hatte er satte 30DM verloren. Nun, da kam es wohl kaum noch auf einen kaputten Radiowecker an.

Nach der Dusche zog er seinen Anzug an, zog einige Falten glatt und prüfte den Krawattenknoten sorgfältig vor dem Spiegel, dann ging er missmutig aus dem Haus und trat auf die Strasse. Sie war menschenleer.

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Teils amüsiert, teils verwundert, wachte Markus auf. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er genau fünf Minuten vor 7 wachgeworden war. Sehr schön, dachte er. So konnte er seine Wecker ausstellen, ohne sich ihrem Rasseln und Piepen auszusetzen. Als er den Radiowecker ausstellte, verharrte er einen Augenblick. Ein sehr merkwürdiger Traum, den er da gehabt hatte. Im Leben war er noch nie kegeln gewesen und auch Kartenspiele jeder Art waren ihm zuwider. Doch die Traumszene mit der netten Nachbarin hatte ihm gefallen. Er kicherte. Sie war schon attraktiv, doch dass er gar von ihr träumte ...

Gutgelaunt schwang er sich aus dem Bett und trat unter die Dusche, bevor er voller Elan in seinen Anzug schlüpfte und laut pfeifend vor dem Spiegel den Krawattenknoten band.

Ein kurzer Blick auf die nagelneue Rolex am rechten Handgelenk verriet ihm, dass er noch Zeit genug hatte, in der Bahnhofsbuchabteilung zu stöbern, bevor seine Bahn ging, wenn er jetzt sofort das Haus verließe. Er nahm zwei Stufen auf einmal, doch als er auf die Strasse trat, stutzte er, denn sie war menschenleer.

Irritiert sah Markus sich um. Um diese Zeit war sonst schon die Hölle los! Hatte er einen Feiertag vergessen oder war gar samstags im Begriff, zur Arbeit zu gehen? Verwundert setzte er seinen Weg fort bis zu dem Kiosk an der Ecke. Na also! Auf den Tageszeitungen stand es ganz deutlich: Donnerstag, 23. Mai 2002. Und wo er schon einmal hierher gelaufen war, konnte er auch genauso gut gleich eine Ausgabe kaufen. Er nahm eine vom Stapel und faltete sie, dann lehnte er sich ein Stück in das Fenster des Büdchens.

“Hallo? Keiner da?” rief er hindurch, doch anders als erwartet erhielt er keine Antwort und auch das Gesicht der Inhaberin, die tagein tagaus im blümchenbemalten Arbeitskittel hier die Leute bediente, war nicht zu entdecken.

Markus zuckte mit den Schultern. Sicher war sie mal kurz für große Mädchen. Sorgfältig zählte er 1,40 DM ab und legte sie auf die Geldablage, dann verstaute er die Zeitung in seiner Aktentasche und setzte seinen Weg zum Bahnhof fort.

Die Minuten verstrichen und nach und nach nahm seine gute Laune ab und wandelte sich zu drückender Stimmung. Nicht ein einziges Auto fuhr unterwegs an ihm vorbei. Er beruhigte sich damit, dass er einfach am nächsten Taxistand einen der Fahrer fragen würde, was los sei. Der Gedanke, dass er womöglich allein durch die Strassen irrte, während der gesamte Stadtteil wegen einer Bombendrohung oder ähnlichem evakuiert worden war, entlockte ihm ein nervöses Kichern. Endlich! Er näherte sich dem nächsten Taxistand und schien Glück zu haben. Fünf bleichgelbe Karossen standen dort in säuberlicher Reihe. Säuberliche Reihe? Was sollte das bedeuten? Markus war verärgert über diese missglückte Satzkonstruktion in seinen Gedanken. Das war ja schon nicht mehr feierlich mit ihm. Nicht mehr feierlich? Nein, eher würde er sagen, es wäre nicht mehr ganz hasenrein. Hasenrein? Markus atmete tief durch – jetzt nur nicht durchdrehen! Es gab eine Erklärung und er war kaum mehr als sechs Meter von ihr entfernt.

Entschlossen schritt Markus auf den ersten Wagen zu – leer. Nun gut, der Fahrer hielt sicherlich gerade im Taxi eines Kollegen ein Schwätzchen. Er ging auf den nächsten Wagen zu – leer. Ein Anflug von Panik überkam ihn und er lief eiliger zum nächsten Taxi, zum übernächsten. Am letzten der fünf dann hatte er die Gewissheit: Wie die Strassen menschenleer waren und nicht ein Auto seinen Weg gekreuzt hatte, so schien es sich auch mit diesen Taxen zu verhalten. Irgendetwas war entschieden faul an diesem Morgen!

Er stöhnte leise auf und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Säule des Taxistandes. Die Säule! Das war es doch!

Hektisch versuchte er herauszufinden, wie man von ihr aus die Zentrale benachrichtigen konnte. Als er seine Suche als erfolglos beendete, kam ihm noch eine Idee. Mit zitternden Fingern kramte er das Handy aus seiner Tasche und wählte 12 4 17, die Nummer der Taxizentrale. Nervös trommelte er mit den Fingern auf der Motorhaube des vordersten Taxis, doch nach einer Weile erkannte er, dass es zwecklos war und niemand am anderen Ende abnehmen würde. Gut, dachte er sich, dann die nationale Auskunft. Er wählte erneut, doch auch dieser Versuch verlief in der Leere. War denn hier niemand? Nirgendwo?

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Schweißgebadet schreckte Markus aus dem Schlaf. Was für ein Alptraum! Etwas so verwirrendes war ihm ja noch nie untergekommen. Die Nachwirkungen noch im Kopf, schüttelte er sich und rieb sich die Unterarme, um den Ansatz der Gänsehaut, der sich gleich bei dem Gedanken an diesen Traum eingestellt hatte, zu vertreiben.

Ein Blick auf die Uhr beantwortete deutlich seine unausgesprochene Frage: Ja, er hatte schon wieder verschlafen, und das zum dritten Mal in einer Woche. Leise fluchend glitt er aus den Laken und in seinen Anzug und schnürte die Turnschuhe zu, noch während er im Spiegel prüfte, ob es eine Sünde wäre, der Menschheit heute einmal mehr unrasiert vor die Augen zu treten. Er kam zu dem Schluss, dass es genau das in etwa wäre, was er begehen würde, wenn er den elektrischen Rasierer unangetastet ließ. Leider würde er diesen Bruch der Etikette jedoch hinnehmen müssen, wenn er den Blick seines Vorgesetzten auch nur einigermaßen ertragen wollte. Im Vorbeilaufen griff er nach seiner Tasche und ließ die Tür hinter sich laut ins Schloss fallen. Da hatte die alte Frau Kreibach ja wieder einen Spaß, wenn sie sich beim Vermieter wieder über ihn beschweren konnte, schoss es ihm durch den Kopf. Doch er war schließlich Kummer gewohnt, wie er immer zu sagen pflegte, und so sprang er unbeirrt die Treppen hinunter. Auf dem letzten Absatz kam er ins Straucheln, konnte sich nicht mehr fangen und schlug hart auf den Fliesen vor der Haustür auf.

“So ein Mist!” fluchte er, rappelte sich auf und stellte zu seinem Ärger fest, dass ihm dieser Sturz ein Loch in der teuren Stoffhose eingebracht hatte, und zwar genau in Kniehöhe, wo es sicher jedem auffallen würde. Nachdem er kurz innegehalten hatte, um diese neuartige Situation zu überdenken, kam er zu dem Schluss, dass dieses Loch nicht dieselbe Priorität wie sein Arbeitsplatz hatte. Er atmete einige Male tief durch, dann öffnete er die Haustür. Eine leichte Übelkeit überkam ihn und er spürte, dass sich seine Nackenhaare aufstellten, denn bereits ein kurzer Blick hinaus, während er noch im Türrahmen stand, bot ihm das schreckliche Bild: Die Strasse war menschenleer!
Vergessen schien das Loch in der Hose und die Tatsache, dass er zu spät zur Arbeit kommen würde. Er ließ die Tür wieder ins Schloss fallen und setzte sich auf die letzte Stufe des Treppenabsatzes, der ihm zuvor diesen Sturz beschert hatte.

Von seiner Mutter hatte er gelernt, dass man jeden Traum reflektieren sollte, weil man dadurch ein Stück von sich selbst besser kennen lernen konnte. Mehr als einmal hatte sie recht behalten damit und er hatte mit der Zeit gelernt, seine Träume als Ausdruck des Unterbewussten in sein reales Leben zu integrieren.

Doch was sollte er nun mit diesem wirren Traum anfangen? Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder war die Strasse tatsächlich menschenleer oder er befand sich wieder in einer dieser Traumschleifen. Aufgrund seiner Bereitschaft, diese Sache logisch anzugehen, zumindest in dem Rahmen, der ihm noch als vertretbar erschien, schloss er letzteres aus.

Die Strasse war also tatsächlich menschenleer, nun gut. Im Traum war er nach links gegangen, am Kiosk vorbei bis zum Taxistand. Die Konsequenz war also, dass er nun rechts gehen würde. Wenn er ein paar Strassen weiter in die Gassen einbog, käme er direkt wieder auf den Bahnhof zu. Er könnte zwei Haltestellen mit der U-Bahn fahren und dann am Hauptbahnhof umsteigen. Das war gut – das hieß, wenn die U-Bahn auch fuhr. Doch wozu der Pessimismus, sie würde. Er würde aufmerksam seine Umgebung beobachten, nicht an Geschäften und derlei betont stehen bleiben und auch nicht das Handy benutzen. Spätestens am Hauptbahnhof würde sich alles geklärt haben und jede vorherige Panik wäre pure Energieverschwendung gewesen. So würde er es machen, jawohl.

Entschlossen stand er auf, öffnete die Haustür erneut und trat auf die Strasse, die ihm auch beim zweiten Anblick einen Schauer über den Rücken trieb.

Markus hielt sich rechts, genau so, wie er es geplant hatte. In die Gassen einzubiegen, stellte schließlich keine Gefahr mehr für ihn dar. Wenn auf der Strasse niemand zu sehen war, so würde es in den engen Gassen nicht anders sein und man würde ihn vermutlich kaum überfallen.

Er hatte die Hauptstrasse fast wieder erreicht, als er Geräusche von dort hörte – Schritte!
Vorsichtig näherte er sich der Strasse, und als er nur noch wenige Meter vom Ende der Gasse entfernt war, da glaubte er sogar, Stimmen zu hören.

Er trat ein wenig vor und sah auf den ersten Blick ein Auto mit geöffneter Tür, um das einige Menschen herumstanden. Zuerst dachte er an einen Autounfall, doch dann erkannte er, dass einer der Menschen von den anderen herumgeschubst wurde. Markus nahm all seinen Mut zusammen und ging auf die kleine Ansammlung zu.

“Hey, was macht ihr da?” rief er laut, nicht ohne das dezente Zittern in seiner Stimme zu vernehmen.

Als er bis auf wenige Schritte herangekommen war, stockte ihm der Atem. Was er zunächst für eine Jugendgang oder ähnliches gehalten hatte, entpuppte sich nun als der nackte Horror. Diese Gestalten am Wagen stießen einen älteren Mann herum, vermutlich den Führer des Wagens, doch sie waren gar nicht menschlich.

Dunkle Haut, die in Fetzen von ihren Körpern hing, der haarlose Kopf, der ein Gesicht des Schreckens bot. Neben dem Nasenbein, das frei zur Betrachtung lag, waren die Mundwinkel zu einer hasserfüllten Fratze verzogen und die wie Kohle leuchtenden Augen blickten starr durch Markus hindurch.

Das letzte Mal, als er Wesen gesehen hatte, die ähnlich aussahen, war er in einem überfüllten Kinosaal gewesen und hatte Popcorn geknabbert, doch das hier war die Realität, oder das, was er augenblicklich für die Realität hielt zumindest.

Inmitten dieser grotesken Situation schrie einer von ihnen: ”Hier ist noch einer!” und deutete auf Markus.
Als Markus dann sah, wie einige Dutzend dieser ghoulartigen Kreaturen aus allen Ecken hervorkrochen, arbeitete sein Verstand rasend schnell. Er musste weg, er musste flüchten! Wer oder was auch immer die waren, sie waren ganz offensichtlich der Grund dafür, dass die Strassen leer waren und was auch die Erklärung dafür war, so sagte ihm sein gesunder Menschenverstand, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Blitzschnell ortete er die Gegner und stürzte dann durch ihre Mitte davon. Der Bahnhof! Wenn er den erreichte, dann könnte er Zeit gewinnen, könnte einfach in die U-Bahn springen und diesem Irrsinn entfliehen, so hoffte er.

Wie ein gehetztes Tier rannte er durch die Strassen. Sein Adrenalinspiegel war so drastisch gestiegen, dass er den Schmerz in seinen ungeübten Lungen gar nicht wahrnahm. Dann endlich sah er den Bahnhof vor sich. Er hütete sich davor, die Geschwindigkeit zu drosseln oder sich umzusehen, sondern rannte geradewegs in die Unterführung.

Als er das unterirdische Gleis erreichte, stand die Bahn bereits da und schien nur auf ihn zu warten. In förmlich letzter Sekunde sprang er durch die Tür, bevor sie sich hinter ihm schloss und die Bahn sich in Bewegung setzte. Aus den Augenwinkeln sah er noch die Ghoule, die nur wenige Augenaufschläge nach ihm das Gleis betraten, doch für die es zu spät war, in die U-Bahn zu gelangen.

Markus beugte sich vornüber, stützte seinen Oberkörper mit den Händen auf den Knien ab und rang nach Luft. Dann kam ihm ein Gedanke – zwar war er der einzige Fahrgast, doch er musste dringend den Führer dieses Gefährts erreichen, damit er zumindest einen Verbündeten hatte.

Noch immer außer Atem hangelte er sich vor bis zum Führerhäuschen. Als er das Klappern dessen Türe vernahm, zog langsam eine düstere Ahnung in ihm auf. Ohne anzuklopfen, öffnete er sie und sah – niemanden. Diese Bahn hatte gar keinen Führer! Und als ihm klar wurde, dass wohl auch niemand mehr da war, um irgendwelche Weichen zu stellen oder die Geschwindigkeit der Bahn zu drosseln und Markus die nächste Panikattacke zu überrennen schien, da sah er auch schon die ersten Funken, die rechts und links der U-Bahn hinaufstoben. Während er fassungslos mit aufgerissenen Augen beobachtete, wie die Bahn sich langsam zur Seite neigte und ihre Räder zu quietschen begannen, da ahnte er, dass er sich tatsächlich nicht mehr in einem Traum befand und der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, bevor er durch die Bahn geschleudert wurde und sich beim Aufprall schließlich das Genick brach war, dass er womöglich eine bessere Chance gehabt hätte, wenn er den linken Weg eingeschlagen hätte.
 
Hallo Tanja,

ich stimme Marcus zu, der Sinn des Ganzen bleibt dem Leser irgendwie verschlossen.
Und teilweise nerven die Traumwiederholungen, da könnte ein wenig mehr Spannung oder Neues hereinkommen.

Liest sich aber flüssig und gut.

Bis bald,
Michael
 



 
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