Heinrich VII
Mitglied
Er stand mir nachts oft gegenüber, oben im dritten Stock, und sah aus dem Fenster. Als ich ihn zum ersten Mal sah, es war kurz vor Mitternacht, erschrak ich. Für einen Moment fühlte ich mich an eine Szene aus Nosferatu erinnert, dem gruseligen Stummfilm von Murnau aus dem Jahre 1920. Die Szene, als der Vampir das Haus in Bremen gekauft hatte und dort aus dem Fenster starrte. Mit seinem kreideweißen Gesicht, den starren, toten Augen und den krallenbewehrten Händen, die nichts Gutes verhießen. Und die bedrohliche Musik dazu, die ich in diesem Moment tatsächlich zu hören glaubte. Ich sah ihn in den folgenden Nächten immer wieder am Fenster stehen. Er sah wirklich aus wie dieser Vampir aus dem Kino. Und ich fragte mich, wer er wohl sein mochte, denn ich gewöhnte mich nach und nach an seinen Anblick.
An einem der nächsten Tage, von Neugier getrieben, ging ich rüber zu dem Haus, in dem er wohnte, und sah mir die Klingeln an. Oben rechts, im dritten Stock stand der Name T. Böhm. Hm, dachte ich, wirklich weiterhelfen kann einem das nicht. Von einem Blutsauger namens Böhm, hatte ich bis dato noch nichts gehört. Aber was hatte ich auch erwartet; dass da Nosferatu steht? Da ich von zuhause aus selbständig arbeite, sah ich zu verschiedenen Tageszeiten immer wieder hinüber zum Nachbarhaus, doch T. Böhm bekam ich nicht zu Gesicht. In den Pausen zwischen meinen Schülerstunden, saß ich oft am Küchenfenster mit einer Tasse Tee und wartete ... Aber es schien keine Chance zu geben, diesen „Menschen“ tagsüber zu sehen. Vielleicht arbeitet er, dachte ich und kommt erst abends nach Hause. Aber wo arbeitet ein Vampir? In einer Blutbank? Aber Spaß beiseite: Warum zeigte er sich nie bei Tageslicht?
In der darauffolgenden Nacht, kurz nach Mitternacht, sah ich ihn wieder am Fenster stehen. Der Raum, in dem er stand, war so unheimlich ausgeleuchtet, als wären Murnaus Leute höchst persönlich am Werk gewesen. Man konnte ihn von gegenüber ziemlich deutlich erkennen, denn das riesige Fenster hatte keine Vorhänge. Die Gestalt am Fenster passte perfekt: Ganz in schwarz gehüllt, mit kreideweißem Gesicht, in einem Mantel mit hochaufragenden Schulterpolstern, warf er bedrohliche Schattenbilder an die Wände. Die Hände mit den krallenartigen Fingernägeln in einer unheimlichen Geste erhoben, die Augen mit dem schrecklichen Blick eines Raubtieres, das nach Beute giert …
Am nächsten Tag, morgens um 8 Uhr, wurde ich von anhaltendem Geschrei geweckt. Ich wusste nicht was passiert war. Später erfuhr ich, dass jemand im Nachbarhaus völlig die Kontrolle verloren und für mächtigen Wirbel gesorgt haben musste. Ein Krankenwagen stand unten auf der Straße. Als ich in der Küche aus dem Fenster sah, kam gerade die Polizei. Und schließlich führten sie einen Mann gewaltsam aus dem Haus, der sich heftig wehrte. Als ich genauer hinsah, entdeckte ich Blut an seinen Händen. Eine Seite seines Kopfes war ebenfalls blutverschmiert und sein Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Er versuchte, sich von den Polizisten loszureißen, und als er unbeabsichtigt in meine Richtung blickte, meinte ich, den Vampir aus dem dritten Stock zu erkennen. Später, unten auf der Straße, erfuhr ich, dass sie ihn vermutlich in die Psychiatrie stecken würden. „Hat einfach so durchgedreht“, sagte jemand. „Leute im Haus angegriffen, mit einem Messer.“ Ich wollte nach dem Namen fragen, um sicher zu gehen, dass es tatsächlich dieser T. Böhm gewesen war, ließ es aber. Es konnte nur er gewesen sein. Vermutlich im Blutrausch. Vielleicht hatte er versucht, jemanden im Haus zu beißen. Eines sprach dann aber doch dagegen, dass er tatsächlich ein Blutsauger war: Er hatte sich bei Tageslicht blicken lassen.
In den folgenden Nächten blieb sein Fenster dunkel. Für mich die endgültige Bestätigung, dass er es gewesen war und dass man ihn auf Nummer Sicher gebracht hatte. Einmal in der Nacht wachte ich auf, ging in die Küche und sah nach, ob er vielleicht wieder da stand. Aber es war stockdunkel im Nachbarhaus, oben im dritten Stock. Eine Weile sah ich ungläubig hinüber, als wollte ich es nicht wahrhaben, dass er nicht mehr da war. Anscheinend hatte ich mich so an diesen Vampir gewöhnt, dass er mir tatsächlich fehlte.
An einem der nächsten Tage kam ich auf die tolldreiste Idee, im Nachbarhaus in den Keller zu schleichen und nach einem Sarg Ausschau zu halten. Aber das erschien mir dann doch zu weit zu gehen, und ich ließ es. Hatte ich ihn nicht bei Tageslicht gesehen? Und eigentlich gibt es ja auch gar keine Vampire, das weiß doch jedes Kind. Und doch wirkte dieser Böhm so echt, dass man sich fragen musste, ob es vielleicht doch welche geben könnte. Vielleicht werden sie von Presse, Politik, Klerus und Wirtschaft einfach tot geschwiegen - weil man keine Geschäfte mit ihnen machen kann und ihre Existenz nur Panik unter den Menschen auslösen würde. Ziemlich weit hergeholt, zugegeben, aber es könnte doch sein.
Dann überlegte ich, wie ich die Adresse der Psychiatrie herausfinden könnte, in die man ihn eingewiesen hatte. Vielleicht konnte ich ihn dort besuchen, um mehr über ihn zu erfahren. Aber auch davon kam ich ab. Was ging mich das eigentlich an? Hatte ich je Kontakt mit ihm gehabt? Er würde sich vielleicht fragen, was dieser fremde Mann, der sich als sein Nachbar ausgibt, von ihm will. Kurz und gut: Da er nachts nicht mehr am Fenster auftauchte, verlor ich das Interesse. Und schließlich kam der Moment, an dem ich gar nicht mehr an ihn dachte.
Vielleicht zwei Wochen später hatte ich in Frankfurt zu tun. Ich musste mir Noten für meine Schüler besorgen, da ich als Musiklehrer arbeite. Nachdem ich das erledigt hatte und es Frühling war, setzte ich mich draußen in eines der Straßencafés und ließ mir Tee und Kuchen bringen. Ich saß schon eine Weile da, sah gedankenverloren den Leuten und den Autos nach, als plötzlich jemand bei mir stehen blieb und mich ansprach: „Mein Name ist Böhm“, sagte er, „wir sind Nachbarn. Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?“ Ich blickte zu ihm auf und sah ihn an: Er war nicht mehr kreidebleich im Gesicht, er hatte keine Krallenhände und er trug keinen langen, schwarzen Mantel mit überhohen Schulterpolstern. Er sah ganz normal aus. Ich war natürlich ziemlich überrascht, riss mich aber zusammen und sagte: „Ja, setzen Sie sich!“ Er folgte meiner Aufforderung, und ich rechnete damit, dass er sich jetzt mir gegenüber erklären würde. Warum er nachts am Fenster stand, in dieser grusligen Montur. Oder warum sie ihn damals abgeholt hatten. Und warum er inzwischen wieder aus der Psychiatrie raus war. Aber nichts dergleichen. Er begann stattdessen, dass man sich ja ruhig mal unterhalten könne, wenn man schon einen Nachbarn hier treffe. Er bestellte Kaffee und erzählte, dass er hauptberuflich hier in Frankfurt arbeite und gerade Pause habe. Dabei zeigte er auf ein Gebäude, in dem er anscheinend seiner Tätigkeit nachging. Ich kannte es nicht und konnte mir auch nicht vorstellen, was er da tat - wie eine Blutbank sah es von außen jedenfalls nicht aus.
Bevor ich nach seinem Beruf fragen konnte, bezahlte er, gab mir die Hand und stand auf. „Ich muss, sonst gibt´s Ärger.“
Ich nickte, und schon sah ich ihn nur noch von hinten und mit eiligen, zielgerichteten Schritten davonlaufen. Er schlug den Jackenkragen hoch und hielt die beiden Enden vorne zusammen, als wolle er sein Gesicht vor etwas schützen. Vor dem Tageslicht vielleicht, aber das konnte ich mir auch eingebildet haben. Im Nachhinein denke ich, dass ich mir das Gebäude, in das er lief, hätte näher ansehen sollen. Vielleicht hätte ich dann seinen Beruf erraten. Aber das tat ich aus einem unerfindlichen Grund nicht. Und meine Stadtkenntnisse in Frankfurt waren zu bescheiden, um es auf Anhieb zu erkennen. Ich winkte nach dem Kellner, bezahlte, lief rüber zur S-Bahn-Station und wartete auf meinen Zug.
Zwei Tage später, als ich von einem mitternächtlichen Spaziergang zurückkam, was ich hin und wieder gern tue, sah ich gewohnheitsmäßig zu T. Böhms Fenster hinauf. Ich erschrak, wie damals, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Unglaublich, da stand er wieder und sah aus dem Fenster. Ein Nosferatu vom Scheitel bis zur Sohle, der einem in puncto Gruseligkeit nichts schuldig blieb. Und dann geschah etwas, mit dem ich in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte. Das Fenster ging plötzlich auf, und der Vampir rief nach unten: „Wollen Sie mich nicht einmal besuchen, Herr Nachbar? Jetzt, da wir uns in Frankfurt kennen gelernt haben.“ Mir stand der Mund offen und die Kinnlade machte Anstalten, es bis auf den Boden zu schaffen. „Jetzt?“, fragte ich. Er nickte und winkte mir mit seinen fürchterlichen Krallenhänden. „Kommen Sie nur, ich mache Ihnen auf. Und entschuldigen Sie meinen Aufzug, das kann ich Ihnen erklären.“ Er verschwand vom Fenster, und einen Moment später hörte ich den Summer der Eingangstür.
„Ich bin Schauspieler, am Theater in Frankfurt“, sagte er, als ich oben in seiner Wohnung war. „Wir proben gerade für ein Stück über Vampire.“ Irgendwie beruhigte mich das, so dass sein Anblick mich nicht mehr so sehr erschreckte. Und das Gebäude, in das er gegangen war, nachdem wir uns in Frankfurt getroffen hatten, war offensichtlich das Theater. Ich wollte nun alles wissen und sprach ihn auch auf den Vorfall an, den es vor Wochen morgens in seinem Haus gegeben hatte. Das wäre nicht er gewesen, erklärte er. Der Mieter aus dem zweiten Stock - der seine Frau immer verprügelt, wenn er betrunken ist - habe an diesem Tag völlig durchgedreht. Da hatte ich mir also alles Mögliche eingebildet, was es mit diesem Böhm auf sich haben könnte, wer er wohl sei, und was er Schlimmes im Schilde führe könnte. Und jetzt ist er schlicht und ergreifend Schauspieler.
Im nächsten Moment, gerade als ich mich vollkommen beruhigt fühlte – und noch einen Schluck von dem blutroten Wein genommen hatte, den er mir einschenkte –, geschah Merkwürdiges: Plötzlich stand Böhm auf. Aber nicht so, wie ein gewöhnlicher Mensch aufsteht. Er klappte irgendwie auf wie ein Taschenmesser. Genau wie man es im Nosferatu-Film sehen kann - die Szene auf dem Schiff, als er sich aus dem Sarg erhebt. Ein fantastischer Mime, dachte ich. Da kam er mit erhobenen Händen auf mich zu, als wollten seine Klauen mich gleich packen. Er übt mit mir, mutmaßte ich und fand das ziemlich witzig. Dann packte er mich tatsächlich, öffnete den Mund und ließ das Vampirgebiß aufblitzen. Es wirkte so echt, dass ich ihm fast applaudiert hätte. Im nächsten Moment biss er mir in den Hals, ich spürte die Zähne wirklich und echt … und ich spürte auch, wie er mir das Blut aussaugte …
Moment mal, dachte ich, so echt braucht es nun auch wieder nicht zu sein; kam aber nicht mehr dazu, mich zu wehren. Noch im selben Augenblick verlor ich das Bewußtsein und kippte in eine schwarze Leere, aus der ich in eine lang anhaltende Dunkelheit erwachen sollte.
An einem der nächsten Tage, von Neugier getrieben, ging ich rüber zu dem Haus, in dem er wohnte, und sah mir die Klingeln an. Oben rechts, im dritten Stock stand der Name T. Böhm. Hm, dachte ich, wirklich weiterhelfen kann einem das nicht. Von einem Blutsauger namens Böhm, hatte ich bis dato noch nichts gehört. Aber was hatte ich auch erwartet; dass da Nosferatu steht? Da ich von zuhause aus selbständig arbeite, sah ich zu verschiedenen Tageszeiten immer wieder hinüber zum Nachbarhaus, doch T. Böhm bekam ich nicht zu Gesicht. In den Pausen zwischen meinen Schülerstunden, saß ich oft am Küchenfenster mit einer Tasse Tee und wartete ... Aber es schien keine Chance zu geben, diesen „Menschen“ tagsüber zu sehen. Vielleicht arbeitet er, dachte ich und kommt erst abends nach Hause. Aber wo arbeitet ein Vampir? In einer Blutbank? Aber Spaß beiseite: Warum zeigte er sich nie bei Tageslicht?
In der darauffolgenden Nacht, kurz nach Mitternacht, sah ich ihn wieder am Fenster stehen. Der Raum, in dem er stand, war so unheimlich ausgeleuchtet, als wären Murnaus Leute höchst persönlich am Werk gewesen. Man konnte ihn von gegenüber ziemlich deutlich erkennen, denn das riesige Fenster hatte keine Vorhänge. Die Gestalt am Fenster passte perfekt: Ganz in schwarz gehüllt, mit kreideweißem Gesicht, in einem Mantel mit hochaufragenden Schulterpolstern, warf er bedrohliche Schattenbilder an die Wände. Die Hände mit den krallenartigen Fingernägeln in einer unheimlichen Geste erhoben, die Augen mit dem schrecklichen Blick eines Raubtieres, das nach Beute giert …
Am nächsten Tag, morgens um 8 Uhr, wurde ich von anhaltendem Geschrei geweckt. Ich wusste nicht was passiert war. Später erfuhr ich, dass jemand im Nachbarhaus völlig die Kontrolle verloren und für mächtigen Wirbel gesorgt haben musste. Ein Krankenwagen stand unten auf der Straße. Als ich in der Küche aus dem Fenster sah, kam gerade die Polizei. Und schließlich führten sie einen Mann gewaltsam aus dem Haus, der sich heftig wehrte. Als ich genauer hinsah, entdeckte ich Blut an seinen Händen. Eine Seite seines Kopfes war ebenfalls blutverschmiert und sein Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Er versuchte, sich von den Polizisten loszureißen, und als er unbeabsichtigt in meine Richtung blickte, meinte ich, den Vampir aus dem dritten Stock zu erkennen. Später, unten auf der Straße, erfuhr ich, dass sie ihn vermutlich in die Psychiatrie stecken würden. „Hat einfach so durchgedreht“, sagte jemand. „Leute im Haus angegriffen, mit einem Messer.“ Ich wollte nach dem Namen fragen, um sicher zu gehen, dass es tatsächlich dieser T. Böhm gewesen war, ließ es aber. Es konnte nur er gewesen sein. Vermutlich im Blutrausch. Vielleicht hatte er versucht, jemanden im Haus zu beißen. Eines sprach dann aber doch dagegen, dass er tatsächlich ein Blutsauger war: Er hatte sich bei Tageslicht blicken lassen.
In den folgenden Nächten blieb sein Fenster dunkel. Für mich die endgültige Bestätigung, dass er es gewesen war und dass man ihn auf Nummer Sicher gebracht hatte. Einmal in der Nacht wachte ich auf, ging in die Küche und sah nach, ob er vielleicht wieder da stand. Aber es war stockdunkel im Nachbarhaus, oben im dritten Stock. Eine Weile sah ich ungläubig hinüber, als wollte ich es nicht wahrhaben, dass er nicht mehr da war. Anscheinend hatte ich mich so an diesen Vampir gewöhnt, dass er mir tatsächlich fehlte.
An einem der nächsten Tage kam ich auf die tolldreiste Idee, im Nachbarhaus in den Keller zu schleichen und nach einem Sarg Ausschau zu halten. Aber das erschien mir dann doch zu weit zu gehen, und ich ließ es. Hatte ich ihn nicht bei Tageslicht gesehen? Und eigentlich gibt es ja auch gar keine Vampire, das weiß doch jedes Kind. Und doch wirkte dieser Böhm so echt, dass man sich fragen musste, ob es vielleicht doch welche geben könnte. Vielleicht werden sie von Presse, Politik, Klerus und Wirtschaft einfach tot geschwiegen - weil man keine Geschäfte mit ihnen machen kann und ihre Existenz nur Panik unter den Menschen auslösen würde. Ziemlich weit hergeholt, zugegeben, aber es könnte doch sein.
Dann überlegte ich, wie ich die Adresse der Psychiatrie herausfinden könnte, in die man ihn eingewiesen hatte. Vielleicht konnte ich ihn dort besuchen, um mehr über ihn zu erfahren. Aber auch davon kam ich ab. Was ging mich das eigentlich an? Hatte ich je Kontakt mit ihm gehabt? Er würde sich vielleicht fragen, was dieser fremde Mann, der sich als sein Nachbar ausgibt, von ihm will. Kurz und gut: Da er nachts nicht mehr am Fenster auftauchte, verlor ich das Interesse. Und schließlich kam der Moment, an dem ich gar nicht mehr an ihn dachte.
Vielleicht zwei Wochen später hatte ich in Frankfurt zu tun. Ich musste mir Noten für meine Schüler besorgen, da ich als Musiklehrer arbeite. Nachdem ich das erledigt hatte und es Frühling war, setzte ich mich draußen in eines der Straßencafés und ließ mir Tee und Kuchen bringen. Ich saß schon eine Weile da, sah gedankenverloren den Leuten und den Autos nach, als plötzlich jemand bei mir stehen blieb und mich ansprach: „Mein Name ist Böhm“, sagte er, „wir sind Nachbarn. Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?“ Ich blickte zu ihm auf und sah ihn an: Er war nicht mehr kreidebleich im Gesicht, er hatte keine Krallenhände und er trug keinen langen, schwarzen Mantel mit überhohen Schulterpolstern. Er sah ganz normal aus. Ich war natürlich ziemlich überrascht, riss mich aber zusammen und sagte: „Ja, setzen Sie sich!“ Er folgte meiner Aufforderung, und ich rechnete damit, dass er sich jetzt mir gegenüber erklären würde. Warum er nachts am Fenster stand, in dieser grusligen Montur. Oder warum sie ihn damals abgeholt hatten. Und warum er inzwischen wieder aus der Psychiatrie raus war. Aber nichts dergleichen. Er begann stattdessen, dass man sich ja ruhig mal unterhalten könne, wenn man schon einen Nachbarn hier treffe. Er bestellte Kaffee und erzählte, dass er hauptberuflich hier in Frankfurt arbeite und gerade Pause habe. Dabei zeigte er auf ein Gebäude, in dem er anscheinend seiner Tätigkeit nachging. Ich kannte es nicht und konnte mir auch nicht vorstellen, was er da tat - wie eine Blutbank sah es von außen jedenfalls nicht aus.
Bevor ich nach seinem Beruf fragen konnte, bezahlte er, gab mir die Hand und stand auf. „Ich muss, sonst gibt´s Ärger.“
Ich nickte, und schon sah ich ihn nur noch von hinten und mit eiligen, zielgerichteten Schritten davonlaufen. Er schlug den Jackenkragen hoch und hielt die beiden Enden vorne zusammen, als wolle er sein Gesicht vor etwas schützen. Vor dem Tageslicht vielleicht, aber das konnte ich mir auch eingebildet haben. Im Nachhinein denke ich, dass ich mir das Gebäude, in das er lief, hätte näher ansehen sollen. Vielleicht hätte ich dann seinen Beruf erraten. Aber das tat ich aus einem unerfindlichen Grund nicht. Und meine Stadtkenntnisse in Frankfurt waren zu bescheiden, um es auf Anhieb zu erkennen. Ich winkte nach dem Kellner, bezahlte, lief rüber zur S-Bahn-Station und wartete auf meinen Zug.
Zwei Tage später, als ich von einem mitternächtlichen Spaziergang zurückkam, was ich hin und wieder gern tue, sah ich gewohnheitsmäßig zu T. Böhms Fenster hinauf. Ich erschrak, wie damals, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Unglaublich, da stand er wieder und sah aus dem Fenster. Ein Nosferatu vom Scheitel bis zur Sohle, der einem in puncto Gruseligkeit nichts schuldig blieb. Und dann geschah etwas, mit dem ich in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte. Das Fenster ging plötzlich auf, und der Vampir rief nach unten: „Wollen Sie mich nicht einmal besuchen, Herr Nachbar? Jetzt, da wir uns in Frankfurt kennen gelernt haben.“ Mir stand der Mund offen und die Kinnlade machte Anstalten, es bis auf den Boden zu schaffen. „Jetzt?“, fragte ich. Er nickte und winkte mir mit seinen fürchterlichen Krallenhänden. „Kommen Sie nur, ich mache Ihnen auf. Und entschuldigen Sie meinen Aufzug, das kann ich Ihnen erklären.“ Er verschwand vom Fenster, und einen Moment später hörte ich den Summer der Eingangstür.
„Ich bin Schauspieler, am Theater in Frankfurt“, sagte er, als ich oben in seiner Wohnung war. „Wir proben gerade für ein Stück über Vampire.“ Irgendwie beruhigte mich das, so dass sein Anblick mich nicht mehr so sehr erschreckte. Und das Gebäude, in das er gegangen war, nachdem wir uns in Frankfurt getroffen hatten, war offensichtlich das Theater. Ich wollte nun alles wissen und sprach ihn auch auf den Vorfall an, den es vor Wochen morgens in seinem Haus gegeben hatte. Das wäre nicht er gewesen, erklärte er. Der Mieter aus dem zweiten Stock - der seine Frau immer verprügelt, wenn er betrunken ist - habe an diesem Tag völlig durchgedreht. Da hatte ich mir also alles Mögliche eingebildet, was es mit diesem Böhm auf sich haben könnte, wer er wohl sei, und was er Schlimmes im Schilde führe könnte. Und jetzt ist er schlicht und ergreifend Schauspieler.
Im nächsten Moment, gerade als ich mich vollkommen beruhigt fühlte – und noch einen Schluck von dem blutroten Wein genommen hatte, den er mir einschenkte –, geschah Merkwürdiges: Plötzlich stand Böhm auf. Aber nicht so, wie ein gewöhnlicher Mensch aufsteht. Er klappte irgendwie auf wie ein Taschenmesser. Genau wie man es im Nosferatu-Film sehen kann - die Szene auf dem Schiff, als er sich aus dem Sarg erhebt. Ein fantastischer Mime, dachte ich. Da kam er mit erhobenen Händen auf mich zu, als wollten seine Klauen mich gleich packen. Er übt mit mir, mutmaßte ich und fand das ziemlich witzig. Dann packte er mich tatsächlich, öffnete den Mund und ließ das Vampirgebiß aufblitzen. Es wirkte so echt, dass ich ihm fast applaudiert hätte. Im nächsten Moment biss er mir in den Hals, ich spürte die Zähne wirklich und echt … und ich spürte auch, wie er mir das Blut aussaugte …
Moment mal, dachte ich, so echt braucht es nun auch wieder nicht zu sein; kam aber nicht mehr dazu, mich zu wehren. Noch im selben Augenblick verlor ich das Bewußtsein und kippte in eine schwarze Leere, aus der ich in eine lang anhaltende Dunkelheit erwachen sollte.
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