Der Verrückte

Cyrill K.

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Fast drei Jahre ist es nun her, dass man mich in die Psychiatrische Anstalt eingeliefert hat. Einige mögen zwar sagen, dass ich mich selbst eingeliefert hätte, doch sie haben unrecht. Ich muss zwar gestehen, dass ich all die Formulare, Protokolle, Berichte, Studien und den restlichen bürokratischen Kram persönlich unterschrieben habe, aber auch nur aus Gefälligkeit. Die Doktoren hatten mich unnachlässig dazu gedrängt und als schliesslich auch alle um mich herum auf ihre Seite wechselten -angeblich wegen der unbestreitbaren, täglichen Beweise- musste ich nachgeben. Sie sollten mir dankbar sein dafür! Denn ich bin nicht verrückt. Nein, ganz sicher nicht. Am Anfang hatte ich noch Zweifel, doch mit jedem Tag hier werde ich sicherer, dass ich es nicht bin. Jede Sekunde, die ich hier verbringe, unterstreicht meine Meinung, doppelt und in Rot. Jedoch zählt die persönliche Meinung, oder eher die persönliche Gewissheit, hier nicht viel bis gar nichts. Einmal für verrückt befunden, kann man sich entweder mit aller Kraft dagegen wehren, was meistens dazu führt, dass die Herren in ihrer Diagnose noch bestätigt werden, oder aber man gibt sich dem Urteil hin und lebt das Leben, das die anderen von einem erwarten. Ich habe mich für letzteres entschieden und bin auch recht zufrieden mit diesem Entscheid.


Der Brief, der an jenem kalten Wintermorgen auf meinem Tisch lag, hatte auf den ersten Blick nichts Besonderes an sich. Ich öffnete ihn also mit völliger Gleichgültigkeit, erwartete ein Bittschreiben oder gar Werbung. Ich vermutete sogar, dass es sich um eine Verwechslung handelte, denn auf dem Brief war keine Adresse aufgedruckt und kein Absender vermerkt. Auch als er geöffnet auf meinem Pult lag, konnte ich nicht Seltsames erkennen. Ich begann also, ihn zu lesen, wohl eher zu überfliegen, denn ein solcher Brief verdiente meine Aufmerksamkeit nicht. Es stand dort geschrieben -ich erinnere mich noch genau- es stand dort geschrieben: «Sehr Geehrter Herr!» Darauf folgten drei Seiten Erklärungen, Beispiele, Beweise, angebliche Zeugenberichte, von Zeugen, deren Namen ich noch nie gehört hatte, und das alles, um die Notwendigkeit eines psychologischen Gutachtens zu unterlegen. Der Brief endete dann auch folgendermassen: «Möge der sehr Geehrte Herr sich bitte in unsere hoch angesehene Psychiatrische Heilanstalt begeben, zwecks einer gründlichen Erst-Untersuchung.» Meine erste Reaktion war ein herzliches Lachen. Das war ja lächerlich! Wie sollte ich das denn bitte ernst nehmen? Es war ja noch nicht einmal unterschrieben, gar nichts, kein Name, keine Adresse, keine Uhrzeit. Jemand machte sich lustig über mich. Nachdem mein Lachen verklungen war, dachte ich noch einige Zeit über die mögliche Urheberschaft nach. Ich kam zum Schluss, dass es wohl die Nachbarskinder gewesen sein mussten. Beruhigt beugte ich mich über wichtigere Arbeit und bald war der Brief auch wieder vergessen. Von all den Briefen und Mails, die ich an jenem Tag durcharbeitete, war er noch nicht einmal der Sonderbarste, vielleicht knapp der überraschendste. Ich wage aber nicht zu behaupten, dass er wirklich aussergewöhnlich war. Leute wie ich erhalten viele seltsame Nachrichten.

Einige Tage später aber, zufällig musste ich gerade an den Brief denken, warum, ist mir heute unbekannt – Genau! Das war es! Ich lief gerade zur Papiertonne am Ende der Strasse, das eigentlich auch das Ende des Quartiers war, um die geöffneten Briefe der letzten Tage, die es nicht wert waren aufbewahrt zu werden, zu entsorgen. Unter diesen Briefen befand sich nun auch das angebliche Schreiben aus der Psychiatrie, an das ich ganz unwillkürlich erinnert worden war, als ich den Stapel auf Erhaltenswertes untersucht und plötzlich eben jenes wieder vor den Augen gehabt hatte. Ich hatte mir nichts dabei gedacht und es zurück zwischen das restliche Altpapier gesteckt. Ich lief also gegen das Ende der Strasse -das Ende des Quartiers-, es war schon Abend und ich war ganz allein in der Stadt, wenn nicht in der ganzen Welt. Ich lief also dort hinunter, meine Schritte hallten in der Häuserschlucht, mein Blick klebt auf dem Boden, ich sehe wie er an mir vorüberrauscht, Haustür reiht sich an Haustür, alles verschwimmt, vor mir ist nur die Papiertonne, nur wenige Schritte trennen mich noch von ihr, ich glaube schon, sie ergreifen zu können. Ich habe sie schon in der Hand, bin eigentlich schon fast wieder zuhause, es ist mir schon beinahe, als wäre ich nie dort gewesen; aber da stellt sich plötzlich dieser Mann zwischen mich und die Haustür, die doch nur eine Papiertonne ist. Der Mann ist ganz in Schwarz gekleidet, nur der weisse Fetzen Papier in seiner Hand sticht aus der Masse heraus. Ohne ein Wort zu sagen gibt er mir den Fetzen. Ich kann einige Worte darauf ausmachen, das Papier ist aber alt und zerknittert. Fast so, als hätte man es eben aus der Papiertonne gefischt. Der Mann starrt mich eine Weile an, sagt nichts. Ich sage auch nichts, obwohl ich einiges zu sagen hätte. Da unterbricht er das Schweigen, fast schon unanständig zerreisst er die einvernehmliche Stille. «Kommen Sie. Es ist ja nur eine Erst-Untersuchung.» Hat er das überhaupt gesagt? Die Stimme war so schwach, so fern, ein seidener Faden, vielleicht war es auch nur ein Windhauch gewesen, der mich getäuscht hatte. Der Mann nickte ermutigend, machte auf dem Absatz kehrt und wurde noch im selben Moment von der Dunkelheit, die ihn hervorgebracht hatte, wieder verschluckt. Das Ganze war so schnell vorbei, dass es wohl kaum passiert sein kann. Möglicherweise habe ich geträumt, es mir eingebildet, um mir den Besuch in der Klinik bekömmlicher zu machen. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie ich wieder bei mir im Wohnzimmer stehe. Nahtlos war aus dem Deckel der Papiertonne die Klinke meiner Eingangstüre geworden. In meiner Tasche fühle ich etwas knistern. Es ist der Brief. Genauer gesagt, die zwei Briefe. Ich schaue mir den zweiten, den Fetzen, im Schein der Deckenlampe zum ersten Mal genauer an. Es ist gar kein Brief. Es ist eine ausgerissene Seite aus einer Zeitung. Keine der vorderen Seiten, nein, eines dieser hintersten Blätter, wo eingezwängt zwischen Werbung und Leserbriefen voller Tippfehler die Nachrichten zu finden sind, die nach dem Gesetz veröffentlicht werden müssen, die aber niemanden interessieren. «Insasse lokaler Irrenanstalt tot aufgefunden», steht dort in kalter, schmuckloser Schrift.

In jener Nacht schlief ich sehr schlecht, immer wieder steht der Mann in Schwarz vor mir. Immer wieder steht er schweigend dort, bis er sich endlich dazu überwunden hat, zu sagen, was er zu sagen hat. «Kommen Sie. Es ist ja nur eine Erst-Untersuchung.» Schon ist er wieder verschwunden. Dazwischen liegen einige Sekunden Ruhe, getrübt von der Gewissheit, dass sie nicht lange wahren kann. Schliesslich fasse ich einen Entschluss. Als der Mann in Schwarz das nächste Mal vor mir steht, kann ich kaum erwarten, dass er zu sprechen beginnt. Man könnte meinen, er hätte von meinen Plänen gewusst, denn dieses Mal liess er sich besonders lange Zeit, bis er sich zu beginnen durchgerungen hatte. «Kommen Sie. Es ist ja nur eine Erst-Untersuchung.» Endlich! «In Ordnung. Ich komme», gebe ich zur Antwort. Wie üblich nickt er mir zu, doch diesmal ist es nicht das ermutigende Nicken der letzten Male. Es ist nun ein anerkennendes, ja fast dankbares Nicken. Wieder verschwand er in der Dunkelheit, doch ich war sicher, dass er nicht zurückkehren würde. Ich behielt recht. Der Rest der Nacht verlief ruhig, ohne jegliche Störung.

Am nächsten Morgen, kaum erwacht, stürze ich mich in meine Kleider, schütte mir den kochenden Kaffee den Rachen hinunter, werfe ein Stück altes Brot nach und stürme aus dem Haus. Vor dem Haus bleibe ich ernüchtert stehen. Wohin will ich überhaupt? Wirklich in die Klinik? Ich muss an mein Versprechen denken. Ich kann den armen Mann nicht einfach so dreist belügen. Ausserdem wird er bestimmt wiederkommen wenn ich nicht gehe. Also gebe ich mich dem Schicksal hin. Wie genau ich zur Klinik gekommen bin, weiss ich nicht. Ehe ich mich versah stand ich vor dem grossen Tor. Nochmals kam Zweifel in mir auf. Wird es noch ein Zurück geben hinter diesem Tor? Bestimmt. Zielsicher schritt ich auf das Tor zu, der Wächter öffnete mir ohne zu fragen. Kaum auf der anderen Seite, war mir bewusst: Es würde kein Zurück geben.

Nur ein Garten trennte mich noch von dem palastartigen Gebäude. Der gepflasterte Weg schlängelte sich durch das üppige Grün, vorbei an kleinen, von Sitzbänken umrandeten Teichen; an plätschernden Brünnen und singenden Vögeln. Soweit das Auge reichte, Grün; alte, ehrwürdige Pflanzen schienen die Kranken hier zu bewachen, vielleicht sogar, sie von der Umwelt abzuschirmen. Auch ich fühlte mich geborgen inmitten dieser Stille. Das Laub der hohen Bäume raschelte im sanften Wind, kein Geräusch, nichts, trübte die Idylle. «Paradiesisch», dachte ich mir. Ein spitzer Schrei zerriss die Luft und traf mich wie eine Faust ins Gesicht. Ich taumelte. «Lasst mich gehen! Lasst mich raus! Ich will nicht hierbleiben!» Ich sah einen Mann, auf der Wiese neben mir. Er rannte, vollkommen nackt, und voll Verzweiflung in Richtung Tor. Ungefähr fünfzig Meter davor holten ihn zwei Wächter ein. Sie brachten den Gefangenen wieder in Richtung Haus. Beunruhigt beschleunigte ich meine Schritte, ich hatte keine Zeit mehr für das Paradies. Die Hölle rief.

Ich betrat die Klinik durch den gewaltigen Haupteingang, der in einem früheren Leben bestimmt ein Stadttor gewesen sein musste. Gleich dahinter befand sich der Empfang. Ich ging zum Schalter und, ohne dass ich etwas gefragt hätte, begrüsste die Frau, die mir sehr bekannt vorkam, mich: «Sie werden schon erwartet. Aber sind Sie sicher, dass Sie sich den Doktoren so zeigen wollen?» Ich schaute an mir hinunter. Ich trug nur eine zerrissene Trainerhose, dazu weisse Socken und Sandalen. Dabei hatte ich doch extra meinen Anzug angezogen! «Sieht so aus», antwortete ich ihr. «Wie Sie meinen.» Und sie wies mir den Weg durch das riesige Gebäude. Am Ende eines scheinbar endlosen Ganges befand sich eine grosse Tür, vor der ich mich auf einen Stuhl setzen musste. Ich kam mir unglaublich klein vor in diesem reich geschmückten Schloss, das trotz allem Überschwang immer klinisch rein und abweisend wirkte. Ich wartete und wartete und schon wurde die Tür geöffnet. Ungefragt trat ich durch sie in den Raum. Es war ein Sitzungszimmer, dessen Kleinheit nicht recht zu der übergrossen Türe passen wollte. Die fünf bärtigen Herren, die sich dort hinter einen Schreibtisch zwängten, füllten das Zimmer fast zur Gänze aus. Für mich blieb nur wenig Platz gleich an der Wand. «Es freut uns alle, dass Sie heute kommen konnten», begrüsste der Herr in der Mitte mich. Seine tiefe Stimme erinnerte mich sofort an meinen Vater. «Ich nehme an, Ihnen ist bewusst, warum Sie heute hier sind.» «Nein», antwortete ich ehrlich. «Sie sind heute hier, weil Sie verrückt sind. Das wissen Sie genau. Leugnen ist zwecklos.» Das war mir wohl bewusst. Die Herren hatten sich ihre Meinung schon lange vor meiner Ankunft, wahrscheinlich sogar schon lange vor meiner Geburt gebildet, und nun sollte ich sie innerhalb von zehn Minuten vom Gegenteil überzeugen! «Über die letzten Jahre haben wir viel Material über sie gesammelt und die Lage ist eindeutig. Ich nehme nicht an, dass sie sich die Mühe machen wollen, mit uns darüber zu streiten», fuhr der Mann in der Mitte fort. «Doch genau das habe ich vor. Wer sind Sie überhaupt? Und wie können Sie es wagen, mir nachzuspionieren, nur um mir dann solche Dinge zu unterstellen? Ausserdem können Sie es sich in Zukunft sparen, Ihre Männer mir nachzuschicken. Ich wäre auch ohne sie hierhin gekommen, aber auch nur, um Ihr lächerliches Theater zu enttarnen.» «Damit haben Sie uns allen das Leben ein grosses Stück schwieriger gemacht. Doch so sei es. Bis jetzt haben wir noch den stursten Kopf zur Vernunft gebracht. Wer wir sind tut nichts zur Sache. Im Übrigen haben wir keine unserer Männer Ihnen nachgeschickt. Das waren sie selbst. Tief im Innern wussten Sie, dass Sie kommen mussten. Ihr Unterbewusstsein hat diesen Mann gebraucht, um Sie davon zu überzeugen.» «Also gut. Ich verzichte, näher auf Ihre leeren Ausflüchte einzugehen. Zeigen Sie mir am besten diese Beweise, die Sie gesammelt haben. Los, überzeugen Sie mich!» «Wie Sie wünschen.» Er rückte seine Brille zurecht und flüsterte darauf seinem Nachbar etwas Unverständliches zu. Dieser flüsterte etwas in das Ohr des Nächsten und so weiter, bis der Herr ganz am Rand des Schreibtischs langsam aufstand und in einer Seitentür verschwand. Etwas nervös starrte ich auf den Boden. Es kam nicht in Frage, diese komischen Herren auch nur eines Blickes zu würdigen. Es dauerte sehr lange, bis der Herr zurückkahm, und in der Zwischenzeit erwischte ich mich, wie mein Blick auf den Herrn in der Mitte fiel. Ja, er erinnerte mich tatsächlich an meinen Vater. Endlich öffnete sich die kleine Türe wieder. Doch der Herr kam nicht alleine aus dem Nebenzimmer zurück. Hinter ihm, gebückt, kam meine Mutter hinein. Ich erkannte ihr Schluchzen durch den ganzen Raum. Man musste sie gezwungen haben, gegen mich auszusagen. «Mama?» «Mein Sohn, mein armer Sohn! Wie konnte es nur so weit kommen.» Der Herr in der Mitte unterbrach sie, bevor sie mehr sagen konnte: «Sie haben das Wort sehr geehrte Dame.» Sie machte eine lange Pause, während der man nur ihr leises Wimmern vernehmen konnte. «Es ist wahr, mein Sohn ist verrückt.» Diese Aussage traf mich mitten ins Herz. Wie konnte sie mich nur derart verraten? «Mama! Wie kannst du nur so etwas sagen? Weisst du denn nicht, was du mir da antust?» Die alte Frau verdeckte ihr Gesicht hinter einem weissen Taschentuch. «Es tut mir leid mein Sohn. Verzeih mir, doch alles was ich tue, ist nur zu deinem Besten. Glaub mir.» «Nein! Nein, nein, nein! Du lügst! Ihr habt euch alle verschworen gegen mich, die ganze Familie! Vater auf der Anklagebank, Mutter im Zeugenstand, was kommt als nächstes? Ich als mein eigener Henker?» «Beruhigen Sie sich. Bitte, besinnen Sie sich. Niemand hat sich gegen Sie verschworen, ausser Ihr eigener Kopf vielleicht», fuhr der Herr in der Mitte erneut dazwischen. Seine tiefe, väterliche Stimme beruhigte mich damals tatsächlich, zumindest für den Moment. «Erzählen Sie uns doch, warum Sie ihren Sohn für verrückt halten.» Der Herr hielt seine offene Hand in Richtung Mutter. «Ich hatte schon immer einen Verdacht, dass er nicht ganz normal war.» Das war nun der Gipfel der Unverschämtheit! «Aber in letzter Zeit ist es immer schlimmer geworden. Ich wohne ja, wie sie bestimmt wissen, in der Wohnung einen Stock über ihm. Letzte Nacht erst, und es war nicht das erste Mal, habe ich ihn beobachtet, wie er mitten in der Nacht zur Papiertonne gelaufen ist. Das an sich ist schon aussergewöhnlich, aber was sich dann bei der Tonne abspielte war eindeutig. Mindestens eine halbe Stunde stand er dort ganz alleine im Dunkeln, das Papier immer noch unter den Arm geklemmt. Plötzlich springt er auf, wie ein Verrückter, ich sage ihnen, wie ein Verrückter, und rennt kreuz und quer über die Strasse hinauf bis zu unserem Haus. Unterwegs kommt er an einem Obdachlosen vorbei, der schon lange bei uns im Hof schläft und noch nie jemandem etwas Falsches getan hat. Ohne Vorwarnung wirft ihm also mein Sohn den Stapel Altpapier ins Gesicht und verschwindet dann in der Eingangstür. Am nächsten Morgen konnte ich gerade noch mitansehen, wie die Leiche des Obdachlosen abtransportiert wurde. Es war früh morgens, ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, so hat mein Sohn geschrien. Ich weiss nicht, ob er wach war oder träumte, doch geschrien hat er wie am Spiess.» «Vielen Dank. Sie haben ihre Aussage hier ja nur für Ihren Sohn nochmals wiederholt. Die Details sind uns bereits bekannt.» Aufgeregtes Geflüster ging durch die anderen vier Herren, schon während der Aussage Mamas hatten sie ständig getuschelt. Dreckspack! Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen! «Schweigen Sie! Wenn es etwas zu sagen gibt, sagen Sie es laut. Doch nun schweigen Sie und lassen Sie mich sprechen! So sehr ich meine Mutter verehre, muss ich doch ihre Urteilsfähigkeit stark anzweifeln. Schon lange lässt ihre Sehkraft zu wünschen übrig und auch ihr Gehör ist nicht mehr das Beste. Wie soll sie mich also bei der Papiertonne, die immerhin am Ende unserer Strasse liegt,» «Das stimmt nicht! Sie ist nur zwanzig Meter entfernt, gleich bei der ersten Querstrasse!», unterbrach mich Mama. Was dachte sie sich nur? «Nun, wie soll sie mich also gesehen haben? Es gibt nur sehr wenige Strassenlaternen, die auch noch sehr schlecht funktionieren. Sie will also, fast blind, gesehen haben, was ich fünfhundert Meter die Strasse runter im Dunkeln gemacht habe? Das ist doch lächerlich. Und dann, in tiefster Nacht, will sie mich schreien gehört haben? Ebenfalls lächerlich. Sie bräuchte schon lange ein Hörgerät und wir leben in einem alten Haus. Da kann die Heizung schon einmal ein seltsames Geräusch machen, das, vermischt mit Halbschlaf und Einbildung, zu einem Schrei wird. Auch Ratten sind nicht auszuschliessen, oder Vögel, die im Dachstock nisten. Das liesse sich natürlich alles überprüfen, auch wenn es den Aufwand nicht wirklich wert wäre. Die Lage ist zu offensichtlich.» «Vielen Dank auch Ihnen. Wir nehmen Ihre Aussage zur Kenntnis und werden sie bei Gelegenheit auch überprüfen. Dennoch bleiben wir vorerst bei unserer bisherigen Diagnose.» Er kritzelte noch etwas auf ein Blatt Papier, reichte es seinem Nachbaren weiter und stand schliesslich auf, wenn auch nur sehr langsam. «Sie dürfen nun gehen. Ich erkläre die Erst-Untersuchung hiermit offiziell für beendet.» Nun erhoben sich auch die anderen Herren, zogen ihre schweren schwarzen Mäntel an und liefen zusammen mit der Mutter zur Seitentür hinaus, die darauf geschlossen wurde. Ich fand mich also alleine im Zimmer wieder, das nun seine wahre Grösse zeigte. Die Herren mussten ja Riesen gewesen sein, um diesen Saal derart auszufüllen! Ich entschied mich bald darauf zu gehen und nur wenige Augenblicke später fand ich mich vor dem Tor wieder.

Ich kämpfte mich irgendwie nach Hause, ich weiss nicht mehr genau wie, habe es schon damals nicht wirklich wahrgenommen. Völlig verwirrt von dem vernichtenden Urteil des Untersuchungsrates und meiner eigenen Mutter, überkamen mich Zweifel. Und was wenn sie recht hätten? Spielte es überhaupt eine Rolle was ich dachte? War es nicht gerade ein unmissverständliches Zeichen von Verrücktheit, wenn man felsenfest vom Gegenteil überzeugt war? Ich versuchte, so wenige Gedanken wie möglich daran zu verschwenden. Das Beste, so schien es mir, wäre es, mich beraten zu lassen. Ich rief also meinen alten Freund an, erzählte ihm grob die gesamte Geschichte und bat ihn, zu mir zu kommen. Besorgt um meinen Zustand nahm er an und kam noch am selben Abend zu mir.

Wir sassen im Esszimmer, der Freund tief über den Tisch gelehnt, ich in meinem Stuhl ebenso weit zurückgelehnt, gleich nach seiner Ankunft war es dunkel geworden, doch hatte niemand sich die Mühe gemacht, das Licht anzustellen. So sassen wir in der Finsternis, der Raum nur vom bläulichen Schein des Mondes erhellt. «Du bist also verrückt. Ich muss zugeben, die Beweislast ist erdrückend. Es scheint, als hätte sich diese Klinik wirklich angestrengt, es aller Welt zu offenbaren. Sogar deine Mutter ist davon überzeugt. Auch ich, das musst du wissen, schwanke. Denn vor einigen Tagen bin ich selbst vor diesen Untersuchungsrat geladen worden, um ihnen von dir zu erzählen. Das habe ich auch getan, ich habe versucht, dich in einem möglichst gutem Licht darzustellen, nur für den Fall, und die Herren haben eifrig notiert während ich sprach. Gut zwei Stunden war ich wohl dort, die haben mir alle möglichen Fragen gestellt. Woher ich dich kenne, wie du dich seitdem verändert hast, wie du dich in meiner Gegenwart verhältst und so weiter. Was die alles brauchen, nur um zu wissen, ob man verrückt ist. Auf jeden Fall haben sie mich dann auch gleich wieder entlassen, bei mir besteht wohl kein Verdacht. Nun, zu dir. Du brauchst also meinen Rat.» «Ja, den brauche ich. Dringend sogar. Alles hat sich gegen mich verschworen und so langsam weiss ich selbst nicht mehr, was ich glauben soll. Es kann ja nicht sein, dass so viele Menschen falsch liegen. Hältst du mich für verrückt?» «Du fragst mich Dinge. Was wenn ich verrückt bin? Was wenn alle verrückt sind und gerade du nicht?» Das Gesicht des Freundes war verkrampft und die Aussage wirkte erzwungen. «Ich will deine ehrliche, ernste Meinung. Ich frage dich also ein letztes Mal: Bin ich verrückt, ja oder nein?» Der Freund antwortete mir nicht sofort. Schweigend kratzte er sich am Kinn. «Wenn du mich so direkt fragst. Ich habe ja deine Akten in der Klinik gelesen und mich nach der Untersuchung auch noch mit einem der Herren unterhalten, und, ehrlich gesagt, deutet schon einiges darauf hin. Ich kann mir nicht genau erklären, was es ist, und doch weiss ich, dass es ist. Für das was musst du wahrscheinlich die Doktoren fragen. Die werden’s wissen. Doch glaub mir, ich nehm’s dir nicht übel. Kann ja ganz abwechslungsreich sein, so einen Verrückten im Freundeskreis zu haben.» «Ich danke dir. Dann waren meine Zweifel also doch begründet. Sie können nicht alle falsch liegen. Ich vertraue dir. Ich kann der Wahrheit nicht entkommen.» «Beruhige dich, und trink noch ein Gläschen mit mir!» Doch darauf hatte ich bestimmt keine Lust. Kurz darauf warf ich ihn aus meiner Wohnung, doch meine Wut galt nicht ihm. Sie galt mir selbst, meinem Kopf, der vielleicht doch nicht so gesund war, wie ich gedacht hatte. Erst als er schon einige Zeit gegangen war, fiel mir auf, wie sehr er mich an den Mann in Schwarz erinnert hatte.

In dieser Nacht schlief ich nicht. Wie sollte ich auch. Es galt einen Entschluss zu fassen. Ich drehte mich im Bett, hoffte, in der Richtigen Position auch endlich die richtige Antwort zu finden. Doch ich fand sie nicht. Eigentlich kommt es doch gar nicht darauf an, was ich denke. Wenn alle denken, ich sei verrückt, dann bin ich es doch auch. Was habe ich da schon mitzureden, so dachte ich mir. Trotzdem, dieser Gedanke wollte mich nicht überzeugen. Was, wenn das ganze ein Test war, um zu sehen, ob ich wirklich verrückt war? Wenn ich mich selbst einlieferte, wäre meine Verrücktheit ja erwiesen, und zwar endgültig. Am Morgen entschied ich mich dazu, eine Münze zu werfen. Ich war mir sicher, dass das Richtige dabei herauskommen würde. Der Zufall hat immer recht. Beim ersten Sonnenschein, der durch das Blätter drang, stand ich also, die Münze in der Hand, vor dem Tor der Klinik. Ich schloss die Augen, zählte bis drei und warf die Münze, die auf meinem eingespannten Daumen lag, in die Luft. Ewige Sekunden dauerte der Flug bis ich endlich das metallene Klimpern des Aufpralls neben mir hörte. Ich bückte mich zu ihr hinunter. Kopf. Kopf war es. Ich war verrückt.

Ohne zu zögern lief ich zum Tor. Erst später bemerkte ich, dass ich die Münze dort draussen auf dem Vorplatz vergessen hatte. Der Wächter nickte mir heute zu, wieder dieses anerkennende Nicken. Ich ignorierte ihn trotzdem und lief so schnell es ging zum Eingang. Ich war mir nun ganz sicher, es würde kein Zurück mehr geben. Dieses Mal nicht. Für das Paradies um mich hatte ich keine Augen. Die Zeit drängte. Drinnen angekommen, standen mir zwei Männer im Weg. Einer davon war auch schon mit mir im Sitzungszimmer gewesen, es war jener, der meine Mutter geholt hatte. «Wir haben sie schon erwartet. Schön, dass Sie doch noch zu Vernunft gekommen sind», begrüssten sie mich. Darauf drehten sie sich ohne zu zögern um und ich folgte ihnen in die Tiefen der Klinik.


Drei Jahre ist dies nun her. Am Anfang glaubte ich noch, dass ich wirklich verrückt sei, doch die Überzeugung bröckelte in den folgenden Monaten weg. Dennoch bereue ich es nicht, hierher gekommen zu sein. Ich fühle mich wohl; und manchmal, in letzter Zeit jedoch immer häufiger, glaube ich sogar, hierher zu gehören. Vielleicht auch nur, weil das alle glauben. Wer weiss das schon. Meine Mutter habe ich nie wiedergesehen, und mein alter Freund, den ich zu Rate gezogen hatte, ist nur in den ersten Wochen ein- oder zweimal zu Besuch gekommen. Doch das stört nicht, die Leute hier sind sehr freundlich. Sie sehen mich als einen von ihnen.
Es klopft an der Türe zu meinem Zimmer. Bestimmt die Schwester mit meinen Medikamenten. Ich brauche sie nicht, aber ich nehme sie widerstandslos, so ist es einfacher für uns alle. Ich öffne, und tatsächlich, es ist sie. Ein Becher mit bunten Tabletten wird mir gereicht. Ich schlucke sie trocken, ohne nachzuspülen. Wohlige Wärme umgibt mich. Zufrieden lasse ich mich auf das Bett sinken. Hier gehöre ich hin, ohne Zweifel.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Cryill K.,

Du erzeugst eine kafkaeske Stimmung. Gut getroffen!

Kleine Fehler der Groß- und Kleinschreibung noch verbessern.

Viele Grüße von

Ds
 



 
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