Der Versuch

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Klaus K.

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Der Wecker klingelte. Er hatte es satt. Wie verrückt musste man sein, um das natürliche Schlafbedürfnis von einer Maschine unterbrechen zu lassen? Wer war eigentlich auf die Idee gekommen, so früh morgens mit der Arbeit zu beginnen? Wenn alle erst um elf Uhr anfangen müssten - dann wäre das Problem für die meisten Menschen gelöst. Und dann lieber vier Stunden intensiv arbeiten, ohne Pause. Wer hatte die acht Stunden täglich der sogenannten zivilisierten Welt auferlegt? Wahrscheinlich stammte dieser ganze Unsinn von den Gewerkschaften. Er stand auf.

Der Schlaf war der Vorbote des Todes. Jeder Schlaf war ein kleiner Tod, mit dem Unterschied, dass man wieder aufwachte. Schlaf bedeutete verlorene Lebenszeit, nichts anderes. Wofür brauchte man eigentlich den Schlaf? Alle entscheidenden Organe des Körpers arbeiteten doch weiter während man schlief, oder? Gut, vielleicht mit verminderter Leistung, aber immerhin. Wofür brauchte man ihn, und dazu mit dieser täglichen Regelmäßigkeit? Und brauchten ihn wirklich alle Lebewesen, alle Organismen? Was war zum Beispiel mit den Ameisen? Oder den Einzellern, den Pantoffeltierchen in einem Wassertropfen? Fragen über Fragen. Er wusch sich und zog sich an. Eine wirklich vernünftige Erklärung hatte er von der ach so hochgelobten Wissenschaft bislang noch nicht gehört. Wieso war ein menschlicher Organismus im Regelfall sechzehn Stunden täglich leistungsfähig, um dann acht Stunden Ruhephase einzufordern, bevor es von neuem losging. Warum ging das nicht mit weniger Schlaf und entsprechend mehr Lebenszeit? Er würde das erforschen. An sich selbst, versteht sich. Aber zuerst einmal per Tierversuch. Er dachte an seine beiden Goldhamster, die jetzt in ihrem geräumigen Käfig und ihrem kleinen Holzhäuschen das anbrechende Tageslicht vermieden und wahrscheinlich sanft von einer gelungenen Fortpflanzung träumten. Denn es waren zwei männliche Exemplare, die sich aber gut vertrugen. Goldhamster waren eher nachtaktive Tiere. Am späten Nachmittag wurden sie so langsam munter, brachten das Laufrad zum Rotieren, hangelten am Drahtgeflecht des ausladenden Käfigs entlang, wühlten das Erdreich auf, verstauten die von ihm ausgelegten Leckereien in ihren Backentaschen und entleerten diese dann in ihrem Wohnhäuschen. Wann wurden die Burschen eigentlich normalerweise wach? Er hatte ab morgen Urlaub. Er würde sie einfach wecken.

Mit einer Feder kitzelte er die Beiden am nächsten Tag um 16 Uhr aus dem Schlaf. Sie begannen sofort mit ihren üblichen Aktivitäten, zeigten aber keine Veränderung im Verhalten. Aha! Am folgenden Tag weckte er sie dann bereits um 15 Uhr. Dann um 14 Uhr. Die Hamster waren jedes Mal schnell fit, es schien sie nicht im Geringsten zu stören, geweckt zu werden.

Das genügte. Der Tierversuch war erfolgreich verlaufen, ohne die Probanden zu quälen. Er hatte ihnen zu mehr Lebenszeit verholfen, das war das positive Ergebnis.

Sein Urlaub war vorbei, Zeit für den Selbstversuch. Er stellte den Wecker eine Stunde früher als gewöhnlich. Sein Frühstück war entspannter und er war jedes Mal pünktlich im Büro. Keinerlei negative Auswirkungen, na also. Ob der Wecker ihn nun eine Stunde früher oder später unsanft aus dem Schlaf riss - es machte keinen Unterschied. Diese Phase dauerte eine Woche, er hatte die Versuchsreihe schließlich minutiös geplant. Dann die zweite Woche. Zwei Stunden früher als regulär. Das bedeutete für ihn länger zu duschen, sein Toastbrot länger zu kauen - und alles nur deshalb, weil seine Tageszeitung erst eine Stunde später im Briefkasten war. Ansonsten: keine Veränderung.

Die darauffolgende Woche mit drei Stunden Zeitgewinn täglich wurde allerdings etwas problematisch. Das Zuviel an Zeit ließ sich morgens nicht mehr gut kompensieren. Er trank mehr Kaffee und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Zudem fühlte er sich erstmals unausgeschlafen, und das ewige dümmliche Geplapper aus dem Radio regte ihn auf. Egal - der Versuch war noch lange nicht beendet.

Dann vier Stunden Reduktion. Mit der Folge, dass er erstmals Probleme im Büro bekam, denn er war Grafiker in einer Werbeagentur. Die Entwürfe, die er für die Kunden anfertigen musste, gefielen seinem Chef plötzlich nicht mehr. “Mein Gott! Sie sind nicht Picasso! Was soll der abstrakte Quatsch? Bleiben Sie gegenständlich, klare Linien, klare Botschaft! Was ist denn nur mit Ihnen los?” Er riss sich zusammen.

Die folgende Woche mit Schlafverkürzung auf drei Stunden pro Nacht und sich anschließendem Dämmerzustand vor dem Fernseher wurde erstmals kritisch. Er war zwar als Erster morgens in der Agentur, schlief aber an vier Tagen auf seinem Schreibtisch ein. Man weckte ihn. Er arbeitete weiter. Fragen und eine mündliche Ermahnung. “So geht das nicht! Was ist bloß mit Ihnen los?” Er wich aus, sein Versuch war ja noch nicht beendet.

Aber er schaffte die Verkürzung auf nur eine Stunde Schlaf nicht mehr. Denn bereits in der folgenden Woche mit zwei Stunden Schlaf war er erneut im Büro morgens um 11 Uhr eingeschlafen. Man drohte ihm jetzt mit einer schriftlichen Abmahnung. Am nächsten Tag war es dann soweit. Er schlief wieder ein, eine Stunde früher als am Vortag. Nur blieben diesmal alle Weckversuche der Kollegen zwecklos. Er wurde in die Klinik gebracht. Aber auch dort gelang es nicht, ihn wieder in den Wachzustand zu versetzen. Ein ganzes Ärzteteam stand vor einem Rätsel, denn alle Körperfunktionen - Puls, Atmung. Herzrhythmus - waren völlig normal. Er wurde künstlich ernährt, die Mediziner diagnostizierten ein Koma.

Er schlug die Augen auf. Er war wach. Wo war er? Alles um ihn herum war milchig-weiß, ohne Konturen. Dann trat plötzlich jemand an sein Bett, ganz in Weiß gekleidet, groß, extrem hager, ein schmales, eingefallenes Gesicht, lange ungepflegte Haare, die seitlich am Kopf herunterhingen, und stechende, schwarze Augen. Als Grafiker erinnerte ihn der Mann sofort an Salvador Dali.

“Willkommen! Die Gegenseite sieht es eben nicht gerne, wenn man ihr ins Handwerk pfuschen will. Aber jetzt sind Sie ja hier. Ich kümmere mich später um Sie!”

Der Fremde drehte sich um und entfernte sich. Was war das? Träumte er oder war er wirklich wach? Seltsam, der Mann schien zu hinken. Er richtete sich in seinem Bett etwas auf. Dann sah er den Pferdefuß.
 
Hallo Klaus K.,

wenn er bisher von der Wissenschaft keine wirklich vernünftige Erklärung gefunden hatte, hat er wohl nicht gründlich genug gesucht. Aber warum hatte er den Selbstversuch nicht bereits in seinem Urlaub gemacht? Da wäre er ganz schnell wieder zur Vernunft gekommen, weil er da dann nicht hätte geweckt werden müssen, wie es im Büro passiert war. Er hätte den Schlaf bekommen, den er bzw. sein Körper gebraucht hätte.
So hat er sich einen Platz unter den Top10 in der Hitliste zum Darwin-Award gesichert. :D Dumm gelaufen ...

Schöne Grüße,
Rainer Zufall
 

hein

Mitglied
Hallo Klaus,

wer gegen die Natur lebt, landet in der Hölle.

Diese Versuchsanordnung läuft seit längerem als Großexperiment auf der gesamten Erde, und die Pforten der Hölle sind bereits deutlich erkennbar.

Die Geschichte gefällt mir.

LG
hein
 

Klaus K.

Mitglied
Treffer und versenkt, Hein! Exakt meine Meinung! Und frei nach Dante's Pforte zur Hölle: "Lasset fahren alle Hoffnung dahin - ihr, die ihr eintretet....."

Und oben, zu Rainer: Ja, die Wege des Herrn sind unerforschlich .... manche Zeitgenossen haben halt mehr Grips unter dem Pony, andere weniger - ich unterscheide mich daher selbst auch nur geringfügig von dem Protagonisten der Geschichte - und ich werde jetzt immer schon morgens von meiner Frau geweckt, Gott sei Dank!
 



 
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