Der Weg ist nicht das Ziel

Der Weg ist nicht das Ziel





Es war sein letzter Blick von hier, hin zu der hügeligen Vorgebirgslandschaft, über das satte Grün der Wiesen und Felder, bis zu den Gipfeln der Allgäuer Alpen. Auch von den Feldern, direkt vor dem Gehöft, bestellt mit Nutz-Hanf der THC-freien Sorte Fedora 17, musste er sich verabschieden. Diese Anbauflächen stellten lange Jahre den Besitz seiner Familie dar.
Franz Aigner konnte den Hof nach dem Tod der Eltern irgendwann nicht mehr rentabel bewirtschaften, es fehlten die Mittel, ganzjährig Landarbeiter zu beschäftigen. Die beiden letzten Versuche mit Aushilfskräften schlugen fehl. Einer von ihnen, der sehr eifrige und lernwillige Harro, Aussteiger aus Leipzig, erschien nach gut drei Wochen nicht mehr zur Arbeit, obwohl er sich inzwischen ein profundes Fachwissen angeeignet hatte. Der nächste, vermittelt vom Arbeitsamt Füssen, erschien am zweiten Tag schon nicht mehr. Die Arbeit war ihm wohl zu anstrengend oder er hatte eine “ergiebigere” Sorte Cannabis erwartet.

Aber Franz Aigner und die Miteigentümerin des Hofs, seine Schwester Therese, hatten Glück. Ein internationales Getränkeunternehmen hatte in dieser Region Probebohrungen vorgenommen und war bei einer dieser Explorationen auf eine riesige unterirdische Mineralwasserblase gestoßen, von bester Qualität, genau unter dem Aignerschen Anwesen. Die Aigners verkauften das gesamte Areal mit einem gigantischen Erlös. Franz und Therese hatten von nun an materiell ausgesorgt. Sie zogen in die Kreisstadt Füssen. Therese änderte ihren Lebensstil nicht, sie ging weiterhin ihrer Tätigkeit in der dortigen Stadtbücherei nach und war zufrieden mit ihrem Dasein. Franz dagegen, der als Landwirt seit Jahren in einem Tagesablauf voller körperlicher Arbeit gelebt hatte, verspürte bald eine Leere in sich, ihm fehlte diese Struktur. Bücherlesen als Zeitvertreib, wie seine Schwester es betrieb, war nicht sein Ding. Auch der Ausdauersport, dem er nun regelmäßig nachging, verhalf ihm zwar zu einer beachtlichen Fitness, füllte aber sein Leben nicht aus.

Dann gab es eine Unterbrechung in seiner Alltagsroutine. Seine Schwester Therese nahm seit einigen Jahren am sogenannten Cousinen-Treffen teil. Hierzu trafen sich sechs über die Republik verstreut lebende Cousinen der Sippe alle fünf Jahre zu einem gemütlichen Wochenende. In diesem Jahr fand dieses bei Therese in Füssen statt. Zu der Cousine mit dem weitesten Anreiseweg, Dörte aus Hanerau-Hademarchen in Schleswig-Holstein, hatte Franz schon seit jeher ein gutes Verhältnis. Und es war dann auch diese bodenständige Physiotherapeutin, die ihn in eine neue Spur brachte. Abends, bei Weißbier und Obstler, schlug sie ihm vor, er solle bei seiner vielen freien Zeit und seiner Fitness doch mal eine Wanderung durch Deutschland machen, immer schön parallel zur Autobahn A7, die von Füssen direkt in das schleswig-holsteinische Flensburg führt, die längste Autobahn Deutschlands. Das klang sehr anspruchsvoll, aber hochinteressant; die nötigen Voraussetzungen wären bei ihm ja gegeben. Außerdem klang das nach einer großen Anzahl strukturierter Tagesabläufe. Und Dörte gab ihm auch gleich das passende Motto mit auf den Weg: Der Weg ist das Ziel. Klang für Franz nach chinesischem Glückskeks, aber die Aussage als solche sprach ihn an.

Energiegeladen und mit einer optimistischen Einstellung marschierte er los. Das moderate Tempo hielt Franz bis zum Ende bei, und machte lustbetont seine Pausen – der Weg ist schließlich das Ziel, da war er ganz bei seiner Cousine Dörte. Er umging bewusst die größeren Städte, hielt sich an Dörfer und Kleinstädte und lernte so auf diese Weise Land und Leute abseits der großen Metropolen kennen. Körperlich war das alles keine besondere Herausforderung für seinen sportlich gestählten Körper, aber mental, da spürte er bald eine Veränderung an sich. Die vielen neuen Eindrücke, Gespräche mit anderen Menschen in den verschiedenen Regionen führten ihn zu einer völlig neuen Lebenseinstellung. Dazu das Wandern in einem Zustand der Tiefenentspannung. Auf den knapp eintausend Streckenkilometern lernte er die deutschen Lande als äußerst abwechslungsreich kennen, sie weisen aber auch außerhalb seiner bayrischen Heimat ein durchaus anspruchsvolles Streckenprofil auf, sodass er sich zwischendurch immer mal wieder wie zuhause fühlen konnte. Erst im nördlichen Niedersachsen wurde es flach, an keinem Platz in seiner Heimat hatte man eine derart ungehinderte Sicht nach vorn. Franz marschierte weiter. Er genoss sein neues Dasein und das Motto seiner Cousine füllte sich mit Leben. Die riesige Stadt Hamburg umging er weiträumig und überquerte die Elbe westlich von dieser und kam dann wieder im weiten Bogen zur A7. Hier in Schleswig-Holstein angekommen, wurde das Land noch flacher, die Bäume traten spärlicher in Erscheinung und durch Dörfer kam er immer seltener. Besonders diese leeren Landschaften mit ihren einsamen Strecken sprachen ihn sehr an, immer nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel. Und auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt - noch so eine Weisheit von Cousine Dörte.

Fast fürchtete Franz sich schon vor dem Erreichen des Endziels. So bog er einen Tagesmarsch vor Flensburg in Richtung Westen ab und ab hier wurde das Land extrem flach. Die ihm fremden Ortsnamen, viele endeten auf -büll, -lund, -um oder -by, verwirrten ihn. Zur besseren Routenplanung ging er einem Hinweisschild nach, das zu einem Ort namens Leck führte. Dieser Name war ihm geläufig, auch wenn nur aus einem Teil des bayrischen Kraftausdrucks, “Leck mi”. Schon nach wenigen Kilometern befand er sich in Sichtweite zu dem Städtchen, als ihm ein Radfahrer entgegenkam, ein jüngerer Mann mit wallendem Haar und einer Ballonmütze darauf. Als der auf seiner Höhe war, bremste er abrupt und rief ihm überrascht zu: “Franz?” Dieser stutzte, und fragte seinerseits freudig überrascht zurück: “Harro, Du?” Es war sein früherer Gehilfe Harro, der damals so urplötzlich verschwunden war. Sie begrüßten sich auf das Herzlichste und erzählten anschließend stundenlang aus ihrem aktuellen Leben. Dabei saßen sie entspannt an ein Weidegitter gelehnt, dicht neben einem flachen Graben, mit Blick über unendlich weite grüne Wiesen. In diesem Gespräch erfuhr Franz, dass sein früherer Mitarbeiter inzwischen Mitglied einer Kooperative war, die, und nun wurde es spannend, den Anbau von Hanf betrieb, sich allerdings nicht mit harmlosen Gewächsen seines Hofes, sondern mit Cannabis Indica befasste, einer Sorte mit einem hohen Anteil an berauschendem THC. Zu diesem Zweck hatten Harro und seine Freunde einen Teil eines verlassenen Bundeswehrgeländes hier in der Gegend gepachtet. Dort züchteten sie in einem unterirdischen Flugzeug-Hangar Cannabispflanzen; mit großem Erfolg, wie Harro berichtete. Die Truppe strebte den ultimativen 'Big Deal' an, bevor die deutsche Apotheker-Mafia in dem sich abzeichnenden großen Cannabis-Monopoly den Markt dominieren würde.

Und in dieses Projekt stieg Franz begeistert mit ein. Er, der ausgewiesene Fachmann für Hanfanbau, gab dem Ganzen mit seinem profunden Fachwissen einen gehörigen Schub. Unter seiner Anleitung hegten und pflegten sie die majestätisch aufragenden Pflanzen bis zu einer schwindelerregenden Qualität, getrieben von Hochleistungs-Quarzlampen bis an die Kellerdecke. Franz hatte sich in einer Ecke des riesigen Bunkers ein Versuchsbeet angelegt. Dort gelang ihm die Züchtung eines hoch potenten Cannabis Hybrids, das in Fachkreisen bald als absolutes Highlight unter dem Namen 'Mighty Green' Furore machte. Franz Aigner war angekommen. Seiner Cousine Dörte teilte er später mit: Der Weg ist nicht das Ziel, das Ziel ist es.
 
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Sammis

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Ein Hauch von Breaking Bad. Das, so meine ich, schreit geradezu nach einer Ausarbeitung. Eine Umkehrung sozusagen. Jetzt dient der letzte Absatz als nette Abrundung und die Zeilen davor sind der Text. Würde mir wünschen, die Zeilen hin zum letzten Absatz währen die Einleitung und jetzt ginge die Reise erst richtig los. Gerade aus deiner Feder stammend würde ich das sehr gerne lesen.

Abends, bei Weißbier und Obstler, schlug sie ihm vor, er solle bei seiner vielen freien Zeit und seiner Fitness doch mal eine Wanderung durch Deutschland zu machen, immer schön parallel zur Autobahn A7, die von Füssen direkt in das schleswig-holsteinische Flensburg führt, die längste Autobahn Deutschlands.
 
Danke für deine Anregung, Sammis. In der Tat, ich hatte zum Ende der Geschichte hin ähnliche Gedanken, bin aber nicht flexibel genug, einen grundlegend anderen Ablauf der Geschichte am 'lebenden' Objekt vorzunehmen. Ja, es steckt wohl mehr drin - ich habe es auf Wiedervorlage zwischengelagert.
Herzliche Grüße.
Horst
 



 
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