Der wehe Duft des Nachsommers

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Erstaunlich viele Blätter hat er noch, der Kirschbaum vorm Fenster, und erstaunlich grüne.
Ist eine Zierkirsche.
Zierkirsche: Das heißt, nach der hübschen zartrosa Blüte im Frühling trägt der Baum keine Früchte, die ja doch nur Dreck machen würden und auf den Gehweg vorm Haus zerplatzen, wo dann ein Passant drauf ausrutscht und sich das Genick bricht.
Sowas haben sie sich früher ausgedacht.
Vor vielen Jahren, lang vor meiner Zeit, als sie die zwölf Stockwerke in bewohnbare Höhen hinaufgezogen hatten.
Gut, vielleicht hatten sie auch Sorge, der mäßige Fruchtertrag würde ja doch nicht reichen für die vielen Hausbewohner - jeweils vier Parteien auf zwölf Etagen - und es gäbe am Ende Streit um die gerechten Anteile. Kleinkarierte Herumrechnerei, Nachbarschaftsfehde, Mord und Totschlag.
Dann lieber ein Baum, der nur schön ausschaut.
Als jemand, der im Hochparterre wohnt, wäre ich ja doch schwer im Vorteil und könnte die kirschroten Perlen quasi direkt vom Küchenfenster aus ernten und umgehend zu Kuchen, Strudel, Kompott und Marmelade verarbeiten.
Sowas kommt mir heute in den Sinn, wenn ich aus dem Fenster schaue, seltsam.
Alles ändert sich.

Die Morgen und die Abende sind schon kühl, aber wenn man es richtig anstellt, kann man sich der Illusion hingeben, die Jahreszeit sei eine andere.
Ein Übergang, sicher. Der pralle Sommer ist es nicht.
Nicht mehr.
Oder wollen wir sagen: Noch nicht?
Mit Augen-zu-Kneifen kann man die ersten braunen, gelben und orangeroten Schatten der Natur ganz gut ausradieren und sich einreden, es wäre doch lieber Frühling.
Die Vögel singen hie und da ihr Lied, stellenweise blüht noch was in sanftem Pastell, blumiges Gewächs mit filigraner Seidenhaut vibriert im Flatterwind, das Gras ist saftig. Milder, veilchenblauer Himmel vielleicht. Jemand mäht den Rasen. Da: Geht einer kurzärmelig!
Wärmeverheißender Frühling, der übergeht in den noch ver-heiß-enderen Sommer, wo einem die Kirschen bis in den Mund wachsen: Eine fabelhaft tröstliche Aussicht.

Nur die Nase lässt sich nicht so leicht täuschen.
In den erbsigen Duft vom frischgeschnittenen Gras, in das erdige Aroma einer Moosbewaldung mischt sich prompt etwas anderes.
Etwas süßlich Schweres.
Gärende Zwetschken und modrige Äpfel. Totholz und Leichenlaub.
Etwas Sterbendes.
Dazu die klamme Nebelfeuchte: Herber Faustschlag direkt in den Riechkolben hinein!

Nein, nein, der Sommer ist es nicht, der sich ankündigt.
Die Zeiten, welche kommen, sind andere.
 



 
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